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Kenu
Es begab sich im letzten Sommer, als ich in einer Kneipe in der Nähe von Berlin saß um mich von einer meiner Reportagen auszuruhen, als ich zufällig mithörte, wie ein Ortskundiger über eine mysteriöse Gestalt namens „Kenu“ sprach. Eine rote Nase und glasige Augen verrieten mir, dass der Erzähler bereits tiefer ins Glas geschaut hatte als ihm gut getan hätte und empört über sein Trinkverhalten setzte ich mich zu ihm und seinem Freund an den Tisch.
„Der Kenu ist der Vorbote des Todes! Wer ihn sieht, stirbt noch am selben Tag!“
Eine Gestalt namens „der Anku“ war bereits in Frankreich als Todesbringer bekannt geworden, obwohl es sich bei dem Anku um eine Fantasiefigur handelte deren Existenz sie Filmen und Buchautoren zu verdanken hatte.
„Ich denke nicht, dass Ihr Kenu eine realistisch existierende Figur ist!“, sagte ich dem Betrunkenen, der mich mit seinen glasigen Augen musterte.
„Wer sind Sie denn?“, fragte er mich. Ich sagte es ihm.
„Und was machen Sie hier?“
„Eine Reportage über die holzverarbeitende Industrie in und um Berlin!“
„Ein Journalist also?“
„Treffer versenkt!“
Der Freund des Betrunkenen war eine hagere Gestalt von Mitte 30, dessen Oberlippenbärtchen provokativ wirkte. Vielleicht kam die Provokation, die von dem Mann ausging, auch eher aus seinen arroganten Gesichtszügen.
„Haben Sie noch nie etwas von dem Kenu gehört?“
Ich verneinte. Das hagere Männchen und der Betrunkene erzählten mir die ganze Geschichte von der mystischen Figur ein weiteres Mal und schlotterten mit den Knien. Ich lachte.
„Wieso haben Sie Angst vor einer Fantasiefigur? Sie haben doch auch keine Angst, vor Lord Voldemort, oder?“
Der Hagere widmete sich meiner Person mit besonders liebevollen Worten.
„Was hast du Journalistenarsch überhaupt für eine Ahnung?“ Der Kellner kam und ich bestellte mir ein Bier. Das Gespräch wurde zunehmend aggressiver. Nach dreißig Minuten Gespräch brach ich das Gespräch ab um keine Saalschlacht zu provozieren.
Ich verließ die Kneipe und ging in mein Hotel, das der Kneipe genau gegenüberlag. Von den sechs Bieren, die ich im Verlauf des Abends getrunken hatte, war mir leicht schummrig vor Augen. Mit Mühe fand ich in meiner Tasche den Schlüssel und mit noch mehr Mühe das Schlüsselloch meines Zimmers. Ich stieß die Tür auf.
Bevor ich mich in mein Bett legte, versuchte ich mich mit verzweifelten Bewegungen von meinen durchschwitzten Klamotten zu befreien, als ich plötzlich in meinen Bewegungen inne hielt. Auf meinem Bett saß ein mageres Gerippe, dessen Gestalt von Maden zerfressen zu sein schien.
Ich bekam es mit der Angst zu tun. Meine Knie schlotterten. Das Gerippe kam auf mich zu.
„Du kennst Kenu also noch nicht?“, fragte es mich und spitzte seine verfaulten Lippen.
Ich konnte nichts antworten. Spielte mir mein Alkoholkonsum einen Streich?
Er kam zu mir und boxte mir in den Magen. Ich erbrach mich auf dem Teppich. Danach schleuderte ich einen Stuhl nach dem Gerippe, der es leider um wenige Zentimeter verfehlte.
Kenu lief die Wände hoch und ließ sich auf mich fallen. Kleinste Tierchen fielen von seinem Körper und bohrten sich in mein Fleisch. Ich schrie am Spieß. Kenu saß wieder auf meinem Bett und präsentierte ein kehliges Lachen.
„Glaubst du jetzt an Kenu?“ Meine Augen gehorchten den Befehlen meines Gehirns nicht mehr und stellten ihre Arbeit ein. Die Bilder verschwommen vor meinen Augen. Kenu öffnete das Fenster und sprang heraus. Anschließend wurde es schwarz vor meinen Augen.
Zusammengekrümmt lag ich auf dem Teppich und es stank nach meinem Erbrochenen.
Die Wanduhr schellte elf mal. Ich versuchte mich zu bewegen. Nichts war zu machen. War alles nur ein Traum gewesen? Gab es Kenu womöglich gar nicht?
Innerlich spürte ich, wie die Zeit verrann. Was hatte der Betrunkende in der Kneipe noch erzählt? „Wer den Kenu sieht, stirbt noch am selben Tag!“ War das wahr? War der Tod schon so nahe?
Verzweifelt versuchte ich mich wieder zu bewegen. Ein Fortschritt meiner Bemühungen war nicht erkennbar.
Da schellte die Wanduhr Mitternacht. Leise hörte ich das Quietschen der Tür. Eine Stimme murmelte Worte, die ich nicht verstand.
Kälte füllte das ganze Zimmer aus und ich fror erbärmlich. Kenu stand neben mir und grinste. Seine eisige Hand umfasste meinen Arm. Er versuchte mich, vom Bett zu ziehen.
Schweißgebadet wachte ich im Krankenhaus auf.
„Was haben Sie getrunken?“, fragte mich der behandelnde Arzt.
„Sechs Bier!“, wußte ich sofort zu antworten.
„Welche Marke?“
Wieso interessierte sich der Arzt dafür? Vielleicht wollte er anhand des Alkoholgehaltes des Biers den Alkoholpegel in meinem Blut berechnen. Aber soviel konnte es doch nicht sein, oder?
„Ich weiß es nicht. Ich war in der Kneipe gegenüber meines Hotels und habe das ortsübliche Bier getrunken!“
„Tut mir leid! Aber gegenüber Ihres Hotels gibt es keine Kneipe!“, sagte der Arzt und beugte sich über mich. Ich erkannte ihn sofort. Es war Kenu.