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Keramia
Vorstandsvorsitzender Grigubal versuchte, ruhig und würdevoll zu wirken. Der Nieselregen bemühte sich, Grigubals maßgeschneidertes Sakko wie einen billigen Sack aussehen zu lassen und war damit deutlich erfolgreicher. Grigubal war aufgeregt wie seit seinem fünften Geburtstag nicht mehr. Ungeduldig wartete er darauf, dass sich die Tür der Maschine vor ihm auf dem Rollfeld endlich öffnete, und Präsident Marturar von Asunien die Treppe herunter schritt. Es war der erste asunische Staatsbesuch seit drei Generationen und dazu nach der großen Reform Grigubals erste Gelegenheit, ein ausländisches Staatsoberhaupt zu empfangen.
Auf die Reform war Grigubal so stolz wie ein kleiner Junge nach dem Bau seines ersten Baumhauses. Es war seine Idee gewesen. Wäre er nicht so bescheiden, würde er darauf bestehen, dass ihm schon jetzt ein Denkmal auf dem Großen Ratsplatz vor dem Hauptgebäude gesetzt wurde. Aber er wartete geduldig, bis er die entsprechenden Vorschläge der anderen Vorstandsmitglieder nicht mehr bescheiden würde zurückweisen können.
Marturar ließ sich Zeit. Grigubal unterdrückte das Nervös-Auf-Der-Stelle-Umhertreten seiner Beine, das ihm erst in diesem Moment bewusst wurde.
Endlich bewegte sich der Verschlussriegel und die druckdichte Tür schob sich nach innen. Grigubal blickte auffordernd zum Dirigenten der Kapelle, der hektisch begann, die Folie von seinem Notenpult abzunehmen. Die Tubisten schütteten das angesammelte Regenwasser aus ihren Instrumenten.
Im Flugzeug bewegte sich etwas.
Grigubal stand stramm und reckte den Hals.
Ja, da war er.
Der Dirigent fordete mit dem Taktstock die Aufmerksamkeit seiner Musiker. Die asunische Nationalhymne erklang, und Marturar schritt langsam die Treppe herunter, über den – einem universalen Gesetz folgend – roten Teppich, durch das Spalier der in Paradeuniform angetretenen Elite des keramisischen Sicherheitsdienstes hindurch und kam schließlich vor Grigubal zum Stehen.
Dieser sah dem asunischen Präsidenten fest in die Augen, bis er sich an die im Land seines Gastes übliche Begrüßungsgeste erinnerte und seinen oberen linken Arm in horizontalen Wellen bewegte, woraufhin Marturar sich mit einer gleichartigen Geste revanchierte.
"Herzlich willkommen auf dem Firmengelände der Keramia-AG", sagte Grigubal mit stolzgeschwellter Brust, und führte seinen Gast zur wartenden Limousine.
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Omin Ruural diskutierte mit seiner Frau Alla die Tagespolitik. Was die Tagespolitik war entnahm er jener plakatgroßen Zeitung, die er auch mit allen vier Händen nur mühsam halten konnte. Sie hätte kleiner sein können, wären die Überschriften nicht offenbar für stark Sehbehinderte gemacht, hatte jedoch den unschätzbaren Vorteil, diesen keine langatmigen Artikel folgen zu lassen. Alla wunderte sich über den Besuch des asunischen Präsidenten, dessen Land immerhin vor dreihundertsiebenundachzig Jahren Keramia beinahe annektiert hatte. Omin dagegen vertrat den Standpunkt, dass neun Generationen genug Zeit sein sollten, um dies zu den Akten zu legen.
Schließlich musste nicht jedes Staatsoberhaupt so nachtragend sein, wie seine Frau.
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Grigubal wartete ungeduldig, bis der automatische Translator seine letzten Worte ins Asunische übertragen hatte. Marturar saß ihm mit steinernem Ausdruck gegenüber und sagte fast nichts. Nur von Zeit zu Zeit nickte er oder trank von seinem Salcia. Ob er immer noch sauer war, weil Keramia den Angriff von viertausenddreiundsechzig zurückgeschlagen hatte?
Grigubal betrachtete die vorbeiziehenden Fahnenschwenker, während der Wagen ruhig über die Straße rollte.
Der Translator verstummte. Da sein Gast immer noch keine Anstalten machte, sich zu äußern fuhr Grigubal fort. "Die Misere, in der sich Keramia befand, war wirklich schlimm. Mein Vorgänger hat ein grausames Staatsdefizit hinterlassen, die Verwaltung war so flexibel wie ein ekturianischer Esel, und...", er beugte sich in verschwörerischer Manier nach vorn, "...Ich musste sieben millionen Wahlzettel zusätzlich ausfüllen lassen, damit die Wahlbeteiligung hoch genug war, um meinen Sieg für rechtskräftig erklären zu lassen."
Er verharrte mit zunehmendem Unbehagen in dieser Position, bis der Translator sein Werk vollendete. Erst dann lehnte er sich in einer Machergeste zurück und eröffnete: "Also habe ich beschlossen, es müsse etwas geschehen."
Weder Marturars Gesicht noch sein Mund gab ein Zeichen der Zustimmung von sich. Grigubal hoffte innbrünstig, dass man ihm seine steigende Verunsicherung nicht anmerkte.
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Alla diskutierte zu diesem Zeitpunkt mit ihrem Mann über das Ablegen von Füßen auf frisch gereinigten Tischen. Omin dagegen fragte sich, ob es wohl interessant wäre, wissenschaftlich zu erforschen, warum seine Frau ihre Vorhaltungen immer wieder – bis in die Betonungen hinein – in exakt der gleichen Weise ausbreitete. Er sah sich schon im Geiste die 'Zuranische Plakette für geniale Entdeckungen im Trivialen' für das 'Ruural-Prinzip' entgegen nehmen, als ihn das Türsignal in seinen Träumen von Bedeutsamkeit und Alla in ihren bedeutsamen Belehrungen unterbrach.
Alla war schnell an der Tür und kam kurz darauf mit zwei dicken großen Briefen von einer gewissen Recar-AG zurück. Sie entpuppten sich als Angebote, ihre Anteile an der Keramia-AG für beachtliche siebenhundertachzig Klecks pro Aktie zu übernehmen.
Eine kleinere Kontroverse kam auf, ob sie denn ihr Mitspracherecht für eine, zugegebenermaßen nicht unbescheidene Summe, aufgeben sollten. Doch schließlich gewann die Überzeugung, dass 'Die Da Oben' sowieso machten was sie wollten. Folglich konnte man ihnen auch gleich die ganze Macht und sich selbst einen Ersatz für den kürzlich verstorbenen Fernseher gönnen, der sich ohnehin besser im Wohnzimmer machen würde als die häßlichen Aktien.
Eine größere Auseinandersetzung drehte sich darum, wer die unterschriebenen Verkaufsverträge zur Post bringen sollte, die nun freilich "Hyperschnell Briefkartell GmbH" hieß und die Briefe deutlich langsamer und unzuverlässiger für einen deutlich höheren Preis transportierte als bisher. Nach ausführlicher und emotionaler Betrachtung aller Aspekte des Problems folgte Omin der Argumentation seiner Frau und dem Weg zur nächsten Postfiliale.
Er wunderte sich ein wenig über die ungewöhnlich langen Warteschlangen. Die Tabustruktur seines Volkes machte jedoch großes Aufhebens wegen des Postgeheimnisses, also malte er sich lieber seine zukünftigen Reichtümer aus, als seine gesellschaftliche Reputatuion durch unziemliche Neugier aufs Spiel zu setzen.
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“Unser Volk war politikmüde. Ich denke, es hatte den Eindruck, dass ohnehin alles von Lobbygruppen beschlossen wurde, und es egal war welche Partei man wählte. Was ja nun so auch nicht direkt von der Hand zu weisen war.”
Erneut beugte Grigubal sich vor und wagte es sogar, Marturar eine Hand auf den Oberschenkel zu legen, zog diese jedoch schnell unter taktischem Auflachen zurück, als er den Blick des asunischen Bodyguards auffing.
Er beeilte sich, mit seinen Ausführungen fortzufahren.
“Ich dachte mir, vielleicht spielt das Volk wieder mit, wenn man die Tatsachen einfach anerkennt. Also habe ich vorgeschlagen, Keramia in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Jeder Bürger sollte eine Aktie bekommen, was zusammen einundfünfzig Prozent der Gesamtmenge ausmachen sollte. Die übrigen neunundvierzig sollten an der Börse meistbietend verkauft werden, um das Staatsdefizit auszugleichen. Und so konnten sich die Lobbygruppen ihren Einfluss auf Keramia quasi legalisiert festschreiben lassen. - Wenn das Volk einig wäre, könnte es sie in der Aktionärsversammlung jederzeit überstimmen.”
Er lehnte sich erneut in seiner Macherpose zurück, die oberen Arme hinter dem Kopf, das untere Paar hinterm Gesäß verschränkt. “Vor drei Jahren wurde das Gesetz unterzeichnet. Der Staat Keramia ging in die Keramia-AG über. Wir haben keine Regierung, sondern einen Vorstand, dessen Vorsitzender ich wurde. Aus Ministerien wurden Sparten. Vieles wurde in eigeneständige Betriebe ausgegliedert, die natürlich zu hundert Prozent im Besitz der Keramia-AG sind.” Die Warterei auf den Translator wurde ihm langsam lästig. “Und, was soll ich sagen, es funktioniert. Jeder Betriebszweig unserer Aktiengesellschaft arbeitet profitabel. Statt eines Staatsdefizites haben wir einen ordentlichen Überschuss, der - natürlich abzüglich fünfzig Prozent Provision für den Vorstand und das obere Management – an die Aktionäre ausgeschüttet wird.”
Er war mächtig stolz auf sich, und seine Unsicherheit war vergessen. Mittlerweile hatte sich Grigubal an Marturars Schweigen so sehr gewöhnt, dass er erschrak, als dessen Stimme ertönte. Als quälende Sekunden später die Übersetzung aus dem Translator quoll, hoffte er, nicht so blass geworden zu sein, wie er sich fühlte.
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Omin erlangte in den folgenden Tagen eine erstaunliche Sportlichkeit. Besucher erschraken regelmäßig, weil die Tür sich öffnete, bevor sie die Hand vom Kingelknopf nehmen konnten. Omin war ebenso regelmäßig enttäuscht, weil nur Verwandte oder alte Freunde vor der Tür standen. Doch schließlich tauchte eine Frau in braunem Overall auf, dessen Beschriftung sie als Recar-Mitarbeiterin auswies. Mit ihr tauschte er seine Aktie und einige Unterschriften gegen den erwarteten Betrag aus. Alla tat es ihm gleich und nur unwesentlich später waren sie stolze Besitzer des neuen 'Plutonium SX-5000'-TV-Gerätes, sowie einer neuen Küchenausstattung. Alla überlegte gerade, ihre Nachbarin Kimma Kriigut zum Kaffee einladen, damit diese ihre neuen Reichtümer bewundern konnte, als das Telefon klingelte und Kimma Kriigut anrief, um sie zum Kaffee einzuladen.
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Mit energischen Worten und unter vierhändigem Abwinken hatte Grigubal den Einwand seines Gastes zur Seite gewischt und das Thema auf mögliche Handelsabkommen gelenkt. Nachdem Grigubal es ursprünglich kaum abwarten konnte, seinem hohen Gast das neue Staatssystem zu erläutern, verfrachtete er diesen nun, so schnell es das Protokoll zuließ, zurück in dessen Flugzeug nach Assunien.
Das unbestimmte, aber nagende Gefühl, einen wesentlichen Fehler in seinem System zu haben, verebbte im Laufe der nächsten Zeit und war vergessen, als sein persönlicher Sekretär Quirs Lendunak unangemeldet in Grigubals Büro platzte.
Lendunak winkte hektisch mit einem dicken Briefumschlag. "Herr Vorstandsvoritzender," keuchte er, "das müssen sie lesen." Der Sekretär zog mit zitternden Händen ein Stück edlen Papiers aus dem Umschlag und knallte es auf den Schreibtisch seines Chefs. Dieser starrte das Blatt an und versuchte zu begreifen was er dort sah.
Eine gewisse Recar-AG, von der er noch nie zuvor gehört hatte, gab an, einundfünfzig Prozent der Keramia-Aktien erworben zu haben und damit der neue Inhaber zu sein. Grigubal wurde aufgefordert, seinen Platz für einen Nacholger frei zu machen.
Sein Blick blieb auf der Unterschrift hängen.
"Ich habe nachgeforscht," erklärte Lendunak, "Recar scheint einen großen Teil der freien Aktien an sich gebracht und anschließend den Nicht-Versammlern ein Kaufangebot für ihre Bürgeraktien unterbreitet zu haben."
Grigubal hörte ihn nicht.
"Quirs, haben Sie die Unterschrift des Recar-Chefs erkannt?"
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Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Keramia-AG gab sich keinerlei Mühe, ruhig und gelassen zu wirken, als er wieder regendurchnässt am Rollfeld stand. Er wartete weder mit einer Kapelle noch mit einem rotem Teppich auf, als die Maschine mit dem neuen Mehrheitseigner landete.
Dass er nicht schon längst von einem wütenden Mob gelyncht worden war, hatte Grigubal nur dem Umstand zu verdanken, dass der wütende Mob viel mehr mit dem Verprassen der Veräußerungsgewinne als mit Tagespolitik befasst war.
Niedergeschlagen empfing er seinen neuen Chef und geleitete ihn in das Büro, von dem er kurz zuvor noch die Geschicke seines Landes - seiner Firma - gelenkt hatte. Nun nahm ein anderer dort Platz. Doch dieser würde kaum täglich dort sitzen.
"Endlich ist die Schmach der Niederlage von 4063 getilgt."
Marturars Gesicht war im Gegensatz zu seinem letzten Besuch nicht versteinert. "Ich muss Ihnen danken, Grigubal. Dank ihrer genialen Idee konnte ich ihr Land erobern, ohne einen einzigen Soldaten opfern zu müssen. Und ihrem dekadenten Volk die Aktien abzunehmen, war sogar billiger, als einen Krieg zu führen."
Während ein nicht enden wollender Lachanfall des strahlenden Siegers über die Gegensprechanlage das gesammte Gebäude erfüllte, schlurfte Grigubal langsam in Richtung Ausgang.
Draußen nass im Regen zu stehen entsprach einfach viel mehr seiner Stimmung.