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Kindheit unter Schwaben
Ein hartes Schicksal verschlug mich im zarten Alter von 12 Jahren in eine der rauhesten Gegenden des deutschen Sprachraums - nach Schwaben.
Auf einem Stuttgarter Gymnasium lernte ich die ganze Brutalität kennen, zu der die deutsche Zunge imstande ist. In Schwaben wurde mir klar, warum der Franzose für uns Deutsche den Begriff "boches" erfunden hat und warum meinem Vater bei unserem ersten Frankreichurlaub in Burgund die Reifen zerstochen wurden.
Mein erster Schultag in der Quarta, - in der "schwäbischen Antarktis", wie ich Stuttgart später nannte -, ist mir noch heute mit all seinen widerlichen Einzelheiten in Erinnerung. Es war ein Montag. Ein buckliger Hüne riss die Tür auf und - es fällt mir nicht leicht, aber ich muss es so ausdrücken - t r a m p e l t e grusslos in den Raum, knallte die Tür hinter sich zu und meinte in grunzendem Tonfall, während er sich ächzend auf den Stuhl hinter dem Pult fallen liess:
"Wenn i euch so sääh, no goht mers Mässer in dr Dasch uff".
(Wenn ich euch so sehe, dann geht mir das Messer in der Hosentasche auf).
So etwas war ich nicht gewöhnt.
Ich hielt unseren Mathematiklehrer, - denn um niemand anderen handelte es sich - , zunächst für einen Ausländer oder den Hausmeister, beziehungsweise für beides. Mitte der sechziger Jahre tummelte sich ja bereits viel buntes Volk aus fernen Ländern auf den Baustellen und in der Gastronomie. Auch mir war das nicht entgangen. Ich tippte daher bei meinem neuen Mathematiklehrer, nachdem ich seine schwäbischen Urlaute vernommen hatte, aufgrund der Flut von Nasalen und Zischlauten, die sich vor mir ergossen, auf einen Agronomen aus der Provence oder vom Balkan.
Eigentlich erwartete ich, dass dieser etwas ungeschliffene Hausmeister nun die Bestellung für die Pausenbrötchen und die Getränke aufnehmen würde, -schon kramte ich den Füller aus meinem Federmäppchen -, da muste ich mit Schrecken feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen Pedellen um ein Mitglied der lehrenden Zunft handelte, denn der Hüne war aufgestanden und schrieb nun mit seiner behaarten Rechten zwei Bruchrechnungen an die Tafel.
Als ihm beim Aufmalen der dritten Rechnung, die Kreide an der Tafel auseinanderbrach, kickte er das zu Boden gefallene Stück mit den Worten :
"Dieser Bröggelesdregg isch doch ein Riiiiesensch..."
längs durch den Gang zwischen unsere Tischreihen.
Sein letztes Wort war nicht misszuverstehen gewesen, und ich war entsetzt. Dennoch erhob ich mich - da kein anderer meiner Mitschüler Anstalten machte - von meinem Platz, las das unglückliche Kreidestück auf und brachte es zu meinem Lehrer nach vorn.
Der schaute mich völlig verdutzt an und meinte nach einer mir endlos vorkommenden Weile:
"Bisch du der Reigschmeggte?"
(Bist du der Neue/Fremde?)
Ich verstand nichts und schwieg ratlos.
"Hasch du koi Gosch zum Schwätze?" brummte der Pädagoge.
(Hast du keinen Mund zum Reden)
Als ich ihn weiterhin ratlos und fast schon verzweifelt ansah, gab er auf.
"Komm setz di wieder no".
Die Geste mit der Hand verriet, dass er mich bat, wieder Platz zu nehmen.
Erleichtert kam ich seiner Aufforderung nach.
Mein Lehrer sah mich noch einmal aus der Ferne voller Mitleid an und meinte schliesslich:
"Armes Deitschland, und mit so oim solled mir dr nächschde Kriag gwinna".
(Armes Deutschland und mit so jemandem sollen wir den nächsten Krieg gewinnen).
Auch diesen letzten Kommentar verstand ich nicht.
Mit dem Lauf der Zeit merkte ich jedoch, dass diese Bemerkung sein Standardsatz war, wenn einer seiner Schüler ihn in irgendeiner Hinsicht enttäuschte.
Als ich am Abend dieses meines ersten Schultags in feindlicher Umwelt zu meiner Tante nach Hause zurückkehrte, fühlte ich mich einsam wie nie zuvor. Doch ich bewahrte Haltung. Erst als ich zu Bett gegangen war, weinte ich lautlos drei bittere Tränen in mein Kissen.
Hätte ich gewusst, was noch alles auf mich zukommen sollte, wären es wohl schon in dieser ersten Nacht wahre Sturzbäche gewesen.