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Kindheit unter Schwaben

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22.10.2020
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Kindheit unter Schwaben

Ein hartes Schicksal verschlug mich im zarten Alter von 12 Jahren in eine der rauhesten Gegenden des deutschen Sprachraums - nach Schwaben.
Auf einem Stuttgarter Gymnasium lernte ich die ganze Brutalität kennen, zu der die deutsche Zunge imstande ist. In Schwaben wurde mir klar, warum der Franzose für uns Deutsche den Begriff "boches" erfunden hat und warum meinem Vater bei unserem ersten Frankreichurlaub in Burgund die Reifen zerstochen wurden.
Mein erster Schultag in der Quarta, - in der "schwäbischen Antarktis", wie ich Stuttgart später nannte -, ist mir noch heute mit all seinen widerlichen Einzelheiten in Erinnerung. Es war ein Montag. Ein buckliger Hüne riss die Tür auf und - es fällt mir nicht leicht, aber ich muss es so ausdrücken - t r a m p e l t e grusslos in den Raum, knallte die Tür hinter sich zu und meinte in grunzendem Tonfall, während er sich ächzend auf den Stuhl hinter dem Pult fallen liess:

"Wenn i euch so sääh, no goht mers Mässer in dr Dasch uff".
(Wenn ich euch so sehe, dann geht mir das Messer in der Hosentasche auf).

So etwas war ich nicht gewöhnt.

Ich hielt unseren Mathematiklehrer, - denn um niemand anderen handelte es sich - , zunächst für einen Ausländer oder den Hausmeister, beziehungsweise für beides. Mitte der sechziger Jahre tummelte sich ja bereits viel buntes Volk aus fernen Ländern auf den Baustellen und in der Gastronomie. Auch mir war das nicht entgangen. Ich tippte daher bei meinem neuen Mathematiklehrer, nachdem ich seine schwäbischen Urlaute vernommen hatte, aufgrund der Flut von Nasalen und Zischlauten, die sich vor mir ergossen, auf einen Agronomen aus der Provence oder vom Balkan.

Eigentlich erwartete ich, dass dieser etwas ungeschliffene Hausmeister nun die Bestellung für die Pausenbrötchen und die Getränke aufnehmen würde, -schon kramte ich den Füller aus meinem Federmäppchen -, da muste ich mit Schrecken feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen Pedellen um ein Mitglied der lehrenden Zunft handelte, denn der Hüne war aufgestanden und schrieb nun mit seiner behaarten Rechten zwei Bruchrechnungen an die Tafel.

Als ihm beim Aufmalen der dritten Rechnung, die Kreide an der Tafel auseinanderbrach, kickte er das zu Boden gefallene Stück mit den Worten :
"Dieser Bröggelesdregg isch doch ein Riiiiesensch..."
längs durch den Gang zwischen unsere Tischreihen.

Sein letztes Wort war nicht misszuverstehen gewesen, und ich war entsetzt. Dennoch erhob ich mich - da kein anderer meiner Mitschüler Anstalten machte - von meinem Platz, las das unglückliche Kreidestück auf und brachte es zu meinem Lehrer nach vorn.
Der schaute mich völlig verdutzt an und meinte nach einer mir endlos vorkommenden Weile:

"Bisch du der Reigschmeggte?"
(Bist du der Neue/Fremde?)

Ich verstand nichts und schwieg ratlos.

"Hasch du koi Gosch zum Schwätze?" brummte der Pädagoge.
(Hast du keinen Mund zum Reden)

Als ich ihn weiterhin ratlos und fast schon verzweifelt ansah, gab er auf.
"Komm setz di wieder no".
Die Geste mit der Hand verriet, dass er mich bat, wieder Platz zu nehmen.
Erleichtert kam ich seiner Aufforderung nach.

Mein Lehrer sah mich noch einmal aus der Ferne voller Mitleid an und meinte schliesslich:
"Armes Deitschland, und mit so oim solled mir dr nächschde Kriag gwinna".
(Armes Deutschland und mit so jemandem sollen wir den nächsten Krieg gewinnen).

Auch diesen letzten Kommentar verstand ich nicht.
Mit dem Lauf der Zeit merkte ich jedoch, dass diese Bemerkung sein Standardsatz war, wenn einer seiner Schüler ihn in irgendeiner Hinsicht enttäuschte.

Als ich am Abend dieses meines ersten Schultags in feindlicher Umwelt zu meiner Tante nach Hause zurückkehrte, fühlte ich mich einsam wie nie zuvor. Doch ich bewahrte Haltung. Erst als ich zu Bett gegangen war, weinte ich lautlos drei bittere Tränen in mein Kissen.
Hätte ich gewusst, was noch alles auf mich zukommen sollte, wären es wohl schon in dieser ersten Nacht wahre Sturzbäche gewesen.

 

Hallo @Wrangel

und willkommen hier.
Ich habe mal das Genre Mundart hinzugefügt. Das passt ja prima.

Viel Spaß hier.
Liebe Grüße, GoMusic

 

Mahlzeit!

Als Badener lese ich ja gerne Texte über die schwäbische Nachbarschaft. Du beschreibst Stuttgart als mundsprachliche Antarktis ... da warst du aber noch nicht in Urach oder Zwiefalten, da geht es erst richtig los.

Aber zum Text - oder besser: der Geschichte, die noch keine ist. Die fehlt schlicht und ergreifend. Du hast sie ja auch angedeutet mit den wahren Sturzbächen, die da noch kommen werden. Sie kamen nicht. Wenigstens einer, mit einer Art Auflösung des Knotens; was ja auch nicht sein muss, wenn es so ne Art "Tagebuch" gäbe (mit Hinweis im Titel auf selbiges).

So lese ich bis zum letzten Punkt und falle in ein Loch. "Hat Wrangel jetzt aus Versehen auf Absenden geklickt?", denke ich da.

Ich würde mich jedenfalls freuen, dem begonnenen roten Faden weiter folgen zu können.

Morphin

 

Lieber Wrangel,
ich finde deinen Text in Ordnung. Ich glaube, du hättest noch mehr aus ihm heraus holen können, zum Beispiel mit einem Spannungsbogen, vielleicht ein Eindruck auf die Schüler*innen oder Vorgeschichte deines Protagonisten. Im Grunde mag ich die Atmosphäre deines Textes, den Dialekt hast du sehr gut getroffen und auch ich kenne das Gefühl, wenn man bei Verwandten im Schwabenland ist und kein Wort versteht. Dennoch gibt es Stellen wie diese hier:

Eigentlich erwartete ich, dass dieser etwas ungeschliffene Hausmeister nun die Bestellung für die Pausenbrötchen und die Getränke aufnehmen würde
Das wirkt ziemlich respektlos allen Hausmeistern gegenüber, du lässt sie ein bisschen wie Diener da stehen und ungenügend für normale Konversationen.

Ich denke, du müsstest noch etwas an dem Text arbeiten, aber dennoch ist er nicht schlecht.

Liebe Grüße, Helene

 

Hallo @Wrangel ,

und damit von mir ein herzliches willkommen!

Wenn ich es kurz machen soll, würde ich sagen: Ned gescholte is gnug globt.
Aber so sind wir hier ja nicht ;)

Ein hartes Schicksal verschlug mich im zarten Alter von 12 Jahren in eine der rauhesten Gegenden des deutschen Sprachraums - nach Schwaben.
Als Berliner, der öfter mal im Schwabenland zu tun hatte, hattest Du mich. Ich war mal in der Mensa einer FH, mir gegenüber saßen 2 Studenten, die sich unterhielten - ich habe nicht mal das Thema erahnen können, worüber die sich unterhalten hatten. Ich fand den Einstieg super.
Mein erster Schultag in der Quarta, - in der "schwäbischen Antarktis", wie ich Stuttgart später nannte -, ist mir noch heute mit all seinen widerlichen Einzelheiten in Erinnerung.
Die Verbindung mit Gedankenstrich und Komma hast Du öfter - und ich denke da ist was faul. Ich bin aber der Grammatik nicht mächtig genug um zu sagen, wie es richtig wäre. ich denke aber, wenn ein Gedankenstrich gesetzt wird, ist das Komma unnötig.
"Wenn i euch so sääh, no goht mers Mässer in dr Dasch uff".
(Wenn ich euch so sehe, dann geht mir das Messer in der Hosentasche auf).
Ich fand die Übersetzung cool, also das sie da stand.
"Dieser Bröggelesdregg isch doch ein Riiiiesensch..."
Und hier fehlte mir die Übersetzung - das hat mich voll rausgebracht aus dem Text :D

Beim Ende kan ich mich den Vorkommentatoren anschließen - es geht gut los, und dann isses irgendwie vorbei. und das sogar ohne einen Kommentar zur schwäbischen Sparsamkeit, von der ich etwas mehr Reaktion auf die Abgebrochene Kreide erwartet hätte. Denn die schwäbische Mundart ist ja nicht das einzige was man am Schwabenländle als Ausländer komisch fenden könnte :P

gern gelesen
pantoholli

 

Moin Wrangel,

ich kann mich dem zwiegespaltenen Urteil der Vorredner anschließen – aber vorweg, ich mag mundartliche Abweichungen von der amtlichen Hochsprache (seien es nun Dia- oder Soziolekte) und mit der Passage

Ein buckliger Hüne riss die Tür auf …
schlich sich Eduard Mörike in meinen Kopf und ich vermutete und hoffte, den Antipoden des Stuttgarter „Hutzelmännleins“ zu erleben, obwohl ich weiß, dass hohe Erwartungen enttäuscht werden und Vergleiche zumeist scheitern. Zudem ist das Wort „Geschichte“ eine substantivierte Partizipbildung des Verbes „geschehen“ – und da geschieht ja nun relativ wenig, dass es eher ein Bericht mit Belegen über die ersten Erfahrungen in einer befremdlich klingenden Sprache ist.

Und damit erst einmal herzlich willkommen hierorts!

Einige Flusen sind noch aufzulesen, wie etwa hier

Ein hartes Schicksal verschlug mich im zarten Alter von 12 Jahren in eine der rauhesten Gegenden des deutschen Sprachraums - nach Schwaben.

Ich hab gesehen, „rauhen“ wurde angesprochen – eine an sich veraltete Schreibweise im amtlichen Deutsch – aber Österreich und Schweiz ist mit der Rechtschreibreform ein Sonderweg der kleinen Abweichungen zugestanden worden, unter die auch das Adjektiv fällt.

Bleibr die Schreibweise der „12“, denn in der Literatur werden üblicherweise Zahlen ausgeschrieben. Grunsätzlich kann man jede Zahl ausschreiben – vernünftig wäre aber die „zwölf“ als Grenze, weil a) ab da nur noch zusammengesetzte Zahlen folgen, die eigentlich ausgeschrieben nur noch Platz fressen und langweilen. (Das Duodezimalsystem war eines der Vorläufer des Zehnersystems und lebt beispielweise noch im „Dutzend“ und „Schock“ fort.)

Ich hielt unseren Mathematiklehrer, - denn um niemand anderen handelte es sich - , zunächst für einen Ausländer …
Entweder Komma- oder Gedankenstrich – beides zusammen nie! Also auch hier

Eigentlich erwartete ich, dass dieser etwas ungeschliffene Hausmeister nun die Bestellung für die Pausenbrötchen und die Getränke aufnehmen würde, -[…] schon kramte ich den Füller aus meinem Federmäppchen -, da musste ich mit Schrecken feststellen, dass es sich bei dem vermeintlichen Pedell[...] um ein Mitglied der lehrenden Zunft handelte, denn der Hüne war aufgestanden und schrieb nun mit seiner behaarten Rechten zwei Bruchrechnungen an die Tafel.

Wobei noch einige Flüchtigkeiten korrigiert werden müssen (beachte die eckigen Klammern)

"Komm setz di wieder no".
Punkt vors auslaufende Gänsefüßchen!

Als ich am Abend dieses meines ersten Schultags in …
eins von beiden - dieses oder meines - ist zumindest entbehrlich, meine ich. Schließlich wissen wie ja nun um diesen Tag und wer den erlebt ...


Tschüssikowski

Friedel

 

Hallo @Wrangel, ich hatte deine Geschichte schon vor etwas längerer Zeit gelesen und war nicht dazu gekommen, einen Kommentar zu schreiben. Mir hat dein Text sehr gut gefallen. Ich musste mehrmals schmunzeln und finde, dass diese Szene in der Schule ein guter Ausgangspunkt für eine längere Erzählung wäre. Hast du das noch vor? Ich würde sie auf jeden Fall gerne lesen!
Ich muss mich einem vorherigen Kommentar zwar anschließen, dass der Protagonist etwas unsympathisch und abgehoben wirkt, aber für mich ist das erstmal überhaupt nichts schlimmes. Im Gegenteil finde ich eckige Charaktere mit Macken oft viel Interessanter.

Nun noch etwas Kritik. Ich finde, dass der Text eben nur als Ausgangspunkt funktioniert. Beispielsweise den nächsten Tag, die nächsten Wochen usw. Der bisherige Teil ist zwar unterhaltsam, führt im Prinzip aber zu nichts bzw. hat kein befriedigendes Ende. Wie gesagt würde ich mich über eine Fortsetzung/Ergänzung deines Textes freuen!

Viele Grüße und dir noch eine schöne Woche,
Habentus

 

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