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Kindheit
Die Tür öffnete sich und Oliver trat ängstlich in das dunkle, kalte und feuchte Zimmer. Das Licht von draußen wurde durch die engen Gassen nicht in die Wohnungen gelassen und für Kerzen hatten sie kein Geld. Trotzdem sah er jeden Atemzug in der kalten Luft.
Neben dem kalten Ofen saß sein Vater. Er war ein kräftiger Mann, groß und mit einer markanten Narbe im Gesicht. Vor einem halben Jahr hatte ihm ein Balken während der Arbeit im Hafen das Bein zertrümmert. Einen Arzt konnten sie sich nicht leisten, weshalb der Bruch nicht mehr richtig zusammengewachsen war. Er konnte nun nichts mehr für das Überleben seiner Familie tun und so verbachte er Tag für Tag auf dem unbequemen Holzstuhl, der von Termiten zerfressen wurde. Nun lehnte er seinen Arm auf den Ofen und schaute Oliver vorwurfsvoll an. Seine Hände bildeten Fäuste und Oliver sah die funkelnden Augen in der Dunkelheit. Er wusste was der Junge ihm zu sagen hatte. Insgeheim hatte er auf diesen Augenblick gewartet, aber gehofft, dass er ihn nie erleben würde. Sie sahen sich eine Weile schweigend an. Oliver wartete darauf, dass sein Vater anfing. Er traute sich nicht, es ihm zu sagen und wendete den Blick schließlich auf den Boden.
„Wo kommst du denn her? Musst du nicht arbeiten?“ Er versuchte die Worte wütend auszusprechen, aber zwischen den Zeilen sprach die Angst - die Angst davor, wie es weitergehen sollte – wie sie die Miete zahlen sollten – wie sie das eh schon magere Essen auf den Tisch bringen sollten. Oliver stand in gebückter Haltung im Raum und blickte nun auf seine Hände. Sie waren von den tausenden Fäden, die er wieder zusammenknoten musste ganz rissig. Er suchte nach den richtigen Worten, fand sie aber nicht.
Jetzt kam seine Mutter und schaute verwundert zu Oliver, dann zu seinem Vater. Auch sie hatte ihre Arbeit verloren. Vor drei Monaten wurde sie krank und ist mit Fieber auf dem Weg in die Fabrik zusammengebrochen. Sie kam zwei Stunden zu spät zur Arbeit und an ihrem Platz war schon eine andere Frau. Oliver hielt den Kopf gesenkt. Er war müde und verängstigt. Er wusste, was seine Nachricht für die Familie bedeutete. Nun guckten ihn seine Eltern fragend an.
„Ich... ich bin...“, er seufzte kurz auf und musste all seinen Mut zusammen nehmen. „Ich bin eingeschlafen!“, murmelte er auf den Boden blickend. Jetzt war es raus. Jetzt konnte Vater den Gürtel nehmen und ihn schlagen. Jetzt konnte er ihn rausschmeißen in die Kälte schicken mit der Begründung, dass sie kein Geld mehr hätten, ihn durch zu füttern. Er war auf alles gefasst, aber er war zu müde um Angst vor der Zukunft zu haben.
Niemand redete, seine fünf Geschwister waren in der Fabrik. In der Stille im Raum hörte man die Gespräche von draußen: ein Baby schrie und in der Ferne hörte man die Maschinen der Fabrik, in der er bis eben noch gearbeitet hatte. Ein Schockzustand machte sich im Raum breit. Auch seine Eltern hatten noch auf eine andere Erklärung für Olivers frühes Erscheinen gehofft, aber nun war es Gewissheit. Oliver hob den Kopf jetzt langsam. Die Müdigkeit wich der Angst vor den Konsequenzen. Er sah Mutter ins Gesicht. Die Tränen standen ihr in den Augen. Sein Vater hielt ihre Hand und schaute sie an.
Endlich brach er die unheimliche Stille: „Es ist ok, Oliver. Hat er dir noch den ausstehenden Lohn gegeben?"
Oliver griff in seine Tasche und gab ihm die 3 Pence.
„Danke, du bist ein guter Junge. Jetzt lass uns bitte allein. Geh etwas schlafen. Du bist völlig übermüdet. Morgen suchst du dann neue Arbeit.“
Seine Mutter konnte nichts sagen. Sie weinte nur still vor sich hin. Oliver ging zu ihr und umarmte sie. „Es tut mir leid“, flüsterte er und ihm stiegen die Tränen in die Augen. Schließlich ließ er seine Mutter los und ging ins Bett. Trotz der Decke war ihm kalt.