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- 21.08.2005
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Kindheitsalptraum
Kindheitsalptraum
1
Hatten Sie das auch? Einen Alptraum in ihrer Kindheit, den Sie über Jahre hinweg immer mal wieder hatten, oder vielleicht immer noch haben?
Ich hatte jedenfalls einen, und mein bester Freund von damals, Jan, auch. Er hatte seinen seit er noch ganz klein war, erzählte er mir später einmal.
In seinem Traum war er in einem Käfig mit dicken Gitterstäben gefangen. Außerhalb des Käfigs war ein Laufband, auf dem abgetrennte, menschliche Gliedmaßen an ihm vorbeifuhren. Das Schlimme daran war aber nicht der Anblick der Gliedmaßen, erzählte er, sondern allein die Tatsache, dass es Gliedmaßen waren. Menschliche Gliedmaßen.
Wissen Sie, als Kind sieht man die Dinge noch ganz anders. Da kennt man noch keine Horrorfilme in denen für Sekundenbruchteile abgehackte, blutige Hände, Füße, Arme oder Beine zu sehen sind. Das Bild des Horrors im eigenen Kopf sieht noch ganz anders aus. Deswegen war die Tatsache, dass es sich da auf dem Laufband um menschliche Gliedmaßen handelte viel schlimmer als ihr eigentlicher Anblick.
Nun, jedenfalls stand bei dem Laufband ein Mann, den Jan den „Schlachter“ nannte. Er hatte eine große weiße Schürze umgebunden und diverse Werkzeuge in der Hand und in seinem Gürtel. Messer, Beile, Sägen und was weiß ich noch alles. Das alles war zwar schlimm, erzählte mir Jan, aber das Schlimmste war, dass der Schlachter die ganze Zeit über lachte. Er lief um den Käfig herum, wetzte seine Messer und lachte einfach. Diese Lache war das wirklich Schreckliche gewesen. Irgendwie hoch und krank, und man konnte den Wahnsinn direkt fühlen, der aus diesem Lachen sprach und versuchte, einem in den Kopf hineinzukriechen…
So schilderte mir mein Freund damals seinen Kindheitsalptraum. Doch ich will Ihnen heute von meinem erzählen, nicht von seinem.
Gott, er ist mir heute ganz zufällig wieder eingefallen. Ich stand gerade in der Küche und wusch das Geschirr ab. Meine Frau war nebenan und half unserer Tochter bei den Hausaufgaben, wir wechseln uns dabei immer ab, und auf einmal, zack, war er wieder da, dieser Traum. Hatte einfach beschlossen, sich mal wieder sehen zu lassen. Hallo alter Freund, lange nicht gesehen, wie geht’s dir?
Bestimmt zehn Jahre hatte ich nicht mehr an ihn gedacht, und dann einfach so, aus heiterem Himmel, meldete er sich wieder, und böse, verscharrte Erinnerungen kamen hoch.
Aber lassen Sie mich ganz vorne anfangen.
2
Es war ein bewölkter, kalter Tag im Herbst. Die Bäume hatten bereits fast alle Blätter verloren und der Wind fuhr durch die Straßen, wobei er das Laub raschelnd in Wellen und Wirbeln vor sich herjagte. Bei diesem Wetter waren nicht viele Leute draußen, es sah außerdem noch nach Regen aus, doch in einer Garageneinfahrt stand ein Junge, gut eingepackt in eine dicke Jacke, Schal und Mütze, und warf einen Ball gegen die Hauswand. Ab und zu schaute er sich um, so als ob er auf jemanden wartete.
Dieser Junge war ich. Ich mit 11 Jahren – es muss 1975 gewesen sein. Ich hatte mich mit Jan verabredet. Wir wollten Ball spielen oder in den Wald gehen oder irgendetwas anderes machen. Was man eben so macht mit 11 Jahren.
Schließlich kam Jan angelaufen. „He, Charley!“ „Hey Jan!“ Doch er hielt gar nicht erst an, sondern lief gleich weiter. „Komm mit!“, rief er über seine Schulter zurück. Ich fing an zu laufen. „Wir machen heute was Tolles!“, rief er. „Ja? Was denn?“ Doch er antwortete nicht, sondern lief weiter. Der Wind spielte mit den Blättern zu unseren Füßen. Wir liefen den ganzen Forstweg entlang, bogen dann erst rechts in den Karmeliterweg und dann wieder rechts in die Olwenstraße ein. „Jahan, was ist es denn?“, quengelte ich. „Warts nur ab, wir sind bald da.“ Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.
Schließlich bogen wir nach links in die Welfenallee ein. Die Welfenallee führte in ein Gebiet mit nur wenig Häusern. Hier gab es viele Felder und den großen Forst. Mir gefiel das Ganze irgendwie nicht. Diese Gegend war mir noch nie ganz geheuer gewesen, vielleicht kam das durch das Moor, das auch hier anfing. Im Sommer, wenn es heiß war, wehte manchmal so ein fauliger Geruch vom Moor herüber.
„Jan…“, fing ich an, doch in diesem Moment blieb Jan stehen. „Siehst du, wir sind schon da.“, sagte er.
Wir standen vor einem großen, verwilderten Grundstück. Ein uralter, einst weiß gestrichener Zaun begrenzte es. Die Farbe war abgeblättert, nur hier und da war noch ein weißer Splitter zu sehen. Viele Pfosten fehlten oder waren vermodert. Der Garten sah schlimm aus; durch den Herbst war nichts Grünes zu sehen, nur braunes Astwerk, wild und ineinander verschlungen. Das Gestrüpp war so dicht, dass man nur ein paar Meter weit hineinschauen konnte. In einiger Entfernung konnte man ein großes Haus sehen, das sich über dem Urwald erhob. .
„Jan“, begann ich, „das ist doch die Villa der alten Frau Andrichs…“ „Ich weiß“, erwiderte Jan.
Jeder wusste damals, wer Frau Andrichs war, denn sie war die Frau, die sich auf ihrem Dachboden erhängt hatte. Man erzählte sich, dass sie es wegen ihrer Schulden getan hätte. Bei uns an der Schule war Frau Andrichs Geschichte schon zu einer gruseligen Legende geworden.
„Aber Jan, was wollen wir hier? Die alte Frau Andrichs ist doch schon lange tot.“ Er wandte sich mir zu. „Hör zu, Charley. Ich habe heute mit Christian geredet und er hat gesagt, dass er zusammen mit Daniel und Maurice in dem Haus war. Sie waren auf dem Dachboden um die Stelle zu sehen, an der sie sich erhängt hat. Mensch, Das ist ’ne Mutprobe, verstehst du?“ „Aber…“, unterbrach ich ihn. „Warte. Christian sagte, dass sie gestern hier waren. Sie sind auf den Dachboden gestiegen und er hat gesagt, dass das Seil da noch von der Decke hängt, an dem sie sich erhängt hat. Die Polizisten haben sie nur da runtergesäbelt. Verstehst du?“ „Ja, aber warum sollten wir…“ „Mensch, wenn die so was machen, müssen wir das auch machen. Was die können, können wir doch schon lange. Außerdem weißt du, dass Christian eigentlich ein Feigling ist. Wenn wir da reingehen und es ist nicht so wie er sagt, dass da das Seil von der Decke hängt, können wir behaupten, dass wir drin gewesen sind und die nicht. Das wär’ doch was, oder nicht? Und wenn’s da echt hängt, sind wir wenigstens genauso gut wie sie. Was meinst du, wie die uns angucken werden?“ „Ja gut, aber…“ „Kein aber Charley, komm!“ Und er ging auf das Tor in der Mitte des Zauns zu, das durch eine Eisenkette mit einem großen Vorhängeschloss zugeschlossen war. Das Tor war aus Metall und schon stark angerostet. „Wie willst du denn da reinkommen?“, flüsterte ich. Irgendwie verlangte es die Situation, zu flüstern, fand ich. Außerdem sah ich mich hektisch um, ob uns auch niemand beobachtete. Jan trat an das Tor und versuchte, den einen Flügel zu öffnen. Die Kette war nur sehr locker um die Pfosten beider Flügel gelegt und so ging das Tor ein Stück weit auf, schrabte über das Gras am Boden, bis die Kette es festhielt. Die Kette rasselte. „Siehst du, das reicht doch.“, sagte Jan und fing an, sich durch den Spalt zu zwängen. Als er durch war und auf der anderen Seite stand, drehte er sich zu mir um und sagte: „Komm, geht ganz leicht.“ „Ich weiß nicht…“ „Ach komm, sei kein Spielverderber!“ „Na gut…“ ich schaute mich nochmals um und begann, mich ebenfalls durch das Tor zu zwängen. Als ich hindurchgeschlüpft war und auch drüben stand, lächelte Jan mir zu und klopfte mir auf die Schulter. „Siehste.“, sagte er.
Wir drehten uns um, und vor uns türmte sich der Dschungel auf. „Oh mann“, sagte ich. Der Garten bestand aus gewucherten Büschen, Bäumen und verfranstem bäunlichen Gras, das fast so hoch war wie wir selbst. Überall lag Laub. „Wie sollen wir bloß da durch?“ „Hm, es muss einen Weg geben, wenn sogar der dicke Daniel es geschafft hat.“ Wir lachten. „Hier, guck“, sagte ich plötzlich. Ich hatte den Weg aus Steinplatten entdeckt, der von dem Tor zum Haus führte. Durch das Laub und die Pflanzen, die neben und zwischen den Steinplatten, teilweise auch unter ihnen wuchsen, war er fast gar nicht mehr zu sehen. „Siehst du den Pfad hier? Guck, da vorne führt er in das Gestrüpp. Da sieht es nicht ganz so zugewachsen aus.“ „Hast recht Charly. Hast ja doch was im Kopf.“ Er knuffte mich freundschaftlich. „Mehr als du allemal“, entgegnete ich und knuffte ihn zurück. Wir lachten wieder.
Jan war ein Jahr älter und so etwas wie ein großer Bruder für mich. Wir kannten uns schon seit dem Kindergarten.
Jan ging auf dem Weg bis zum Gestrüpp, kniete sich dann auf alle Viere und begann, in die Wand aus Pflanzen zu kriechen. Ich folgte ihm schnell, denn ich wollte ihn nicht verlieren.
3
Ich konnte nicht viel sehen, es war ziemlich dunkel in dem Gang und außerdem musste ich aufpassen, dass mir nicht so viele Äste ins Gesicht schlugen. Hier und da hörte ich in dem Gebüsch etwas Rascheln, wahrscheinlich Vögel oder Kaninchen. „Meinst du, die sind hier echt durchgekrochen?“, fragte ich. „Kann schon sein, abgeknickte Äste sind hier viele und der Boden ist euch ein wenig aufgewühlt.“, entgegnete Jan. „Vielleicht waren’s aber auch Wildschweine aus dem Wald, Vater hat mir mal erzählt, dass er einmal abends eins in unserem Garten gesehen hat.“ „Stimmt, kann sein.“
Plötzlich stoppte Jan und stieß einen leisen Schrei aus. Fast wäre ich mit ihm zusammengeprallt, doch ich stoppte noch rechtzeitig. „Was ist denn los?“, fragte ich aufgeregt. „Guck mal, der große Käfer hier.“ Er versuchte, etwas zur Seite zu rücken und ich zwängte mich an seine Seite, um etwas sehen zu können. Äste griffen nach meinem Nacken und meinem Kopf, und tatsächlich, vor uns krabbelte ein riesiger Käfer, den wir aufgescheucht hatten. Sein Panzer schimmerte metallisch grün und seine beiden langen Fühler huschten hin und her. Fast ebenso schnell, wie er aufgetaucht war, war er wieder verschwunden. Ich ließ mich wieder hinter Jan zurückfallen und wir krabbelten weiter.
„Da vorne ist es zu Ende!“, sagte Jan und krabbelte ein wenig schneller. Dann kroch er aus dem Gebüsch heraus und ich sah, wie Helligkeit zu mir hereinströmte. Ich beeilte mich, den Tunnel zu verlassen. Während unserer Krabbeltour waren mir Dinge in den Kragen und auf meine Sachen gefallen. Ich schüttelte mich und klopfte sie aus. Meine Hose war nass geworden, und auf der Haut an meinen Knien befand sich eine schleimige Schicht, schließlich waren wir auf halb verrotteten Pflanzenresten herumgerutscht. Dann schaute ich nach vorne. Vor uns befand sich eine Art Vorhof der Villa. Mitten auf dem Platz stand ein alter Springbrunnen mit einer Bumerangwerferin. Der Stein war schon sehr porös und auf der Statue und in dem Becken selbst lag Laub. Durch die Steinplatten waren hier nicht allzu viele Pflanzen. Auf dem Kopf der Statue saß eine schwarze Krähe, die keifend davonflog, und ich bemerkte, dass die Statue eine Diskuswerferin sein sollte.
Wir gingen ein paar Schritte und vor uns erhob sich die Hausfront.
Die Villa war sehr groß und sehr alt. Einst war sie in einem angenehmen hellen Gelb gestrichen gewesen, doch das Meiste der Farbe war abgeblättert und lag unten auf der Erde als Streifen und Krümel. An die Wände waren Graffiti gesprüht worden, Wörter wie „Fuck“, „Bitch“ oder „Scheiße“, aber auch Liebeserklärungen wie „Philipp und Ronja – Lovers 4 ever“. Daneben stand „SSDD“ und weiteres buntes Gekrakel. Ein paar Figuren waren auch angesprüht worden, doch beschränkte sich die genauere (und übertriebene) Darstellung eher auf den Genitalbereich der Figuren. Das Haus war schmutzig und alle Fensterscheiben waren eingeworfen worden. Die Villa schien uns aus diesen schwarzen Löchern heraus anzustarren. Wir gingen auf die große hölzerne Eingangstür zu und stiegen ein paar Stufen zu ihr hinauf.
Die Tür war von der Polizei versiegelt worden, doch das Siegel war längst aufgebrochen worden und hing nur noch teilweise an Tür und Rahmen. Jan legte seine Hand auf die angelaufene Klinke und plötzlich regte sich etwas in mir und ich wollte ihn anschreien, es zu lassen, doch das tat ich natürlich nicht und Jan drückte die Klinke herunter.
4
Wider Erwarten ging die Tür auf und bevor ich noch etwas sagen konnte, war Jan hineingeschlüpft. Ich folgte ihm, und wir standen in einer großen Empfangshalle auf einem zerschlissenen, ehemals prunkvollen Teppich. Ein Geruch nach Moder und Hinterlassenschaften von Tieren und wahrscheinlich auch Menschen empfing uns. Vor uns führte eine breite Treppe nach oben auf eine Galerie. Neben uns führten ein paar geschlossene oder halboffene Türen zu den Seiten. Ein paar Einrichtungsgegenstände waren noch da, von der Decke hing ein großer, größtenteils zerbrochener Leuchter, auf einem Holztischchen an der Treppe stand eine Vase mit verrotteten Blumen. Etwas Laub lag auf dem Boden, wahrscheinlich durch die offenen Fenster hereingeweht, und auch Zigarettenstummel und leere Bierflaschen sah ich. Eine merkwürdige Faszination ging von diesem Ort aus. Heute spüre ich dasselbe komische Gefühl wie damals, wenn ich mir Fotos von Tschernobyl oder Prypjat anschaue. Ich hörte einen lauten Knall hinter mir und zuckte zusammen. Fast hätte ich geschrien. Ich drehte mich um und sah, dass die Tür zugefallen war. Erleichtert überlegte ich, ob Jan einen Spruch bringen würde, doch ich glaube, er war auch zusammengezuckt. „Also dann, auf nach oben“, flüsterte er und ging los. Jetzt flüsterte auch er.
Wir betraten die Treppe. Während wir sie langsam hochstiegen, unsere Schritte gedämpft, das Blut in meinen Ohren rauschend, fasste ich nach dem Geländer, das dick mit Staub belegt war. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam mich. Vor uns gabelte sich die Treppe und führte nun nach rechts und links auf die Galerie. Jan zeigte nach rechts und ich nickte nur. Wir stiegen die Stufen hinauf und konnten nun nach unten in die Empfangshalle blicken. Wir nahmen gleich die nächste Tür und hofften auf eine Treppe, die weiter nach oben führte. Wir folgten einem Gang um die Ecke, und richtig, hier war die Treppe. Sie war viel schmaler und führte in vielen Rechtskurven immer weiter nach oben. An der Wand war eine grünliche Tapete mit verschlungenen Pflanzen. Es war die Art von Mustern, in denen man alles sehen kann, wenn man nur lange genug hinsah. Ich hatte ein ungutes Gefühl und vermied es, die Tapete anzusehen. Wir folgten der Treppe ganz nach oben und standen schließlich vor einer weiteren Tür. Es musste die zum Dachboden sein, denn so weit, wie wir heraufgegangen waren, konnte keine andere Treppe noch weiter rauf führen. Froh darüber, die verwunschene Tapete wieder los- und schon fast am Ziel zu sein, öffnete ich die Tür.
Wir befanden uns auf dem Dachboden. Der Boden bestand aus Brettern, ebenso die Decke. Wir traten ein. Die Decke wurde von mehreren dicken Holzbalken gestützt, die weiter oben auf Querbalken trafen. Ein paar Möbel mit Bezügen fanden sich hier oben. Rechts und links befanden sich Fenster, durch die Licht hereinfiel. Ich fühlte mich wie Rapunzel in ihrem Turm. Auch hier lag Laub auf dem Boden und auf den Möbeln und man hörte den Wind in den Fenstern pfeifen. Ich drehte mich um, denn ich wollte nicht, dass auch diese Tür mit einem lauten Knall zufiel und erstarrte. Hinter mir ertönte ein ohrenbetäubendes Klirren. Mein Herz setzte kurz aus, um gleich darauf eine Ladung Adrenalin durch meinen Körper zu pumpen, ich fuhr herum und sah gerade noch, wie eine Katze hinter ein paar Möbeln Deckung suchte. Auf dem Boden lagen Scherben von einer Vase. Ich redete mir ein, dass alles in Ordnung sei und beruhigte mich wieder. Trotzdem blieb das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, an einem Ort zu sein, an dem man nicht sein durfte. „Jan“, flüsterte ich, „wollen wir nicht lieber…“ „Jetzt noch?! Kommt nicht in Frage! Wir sind doch schon da!“ Es tat gut, seine Stimme zu hören, zu merken, dass ich nicht selbst zu einem Anachronismus geworden war. Und eigentlich hatte er ja Recht. Wir waren bis hier gekommen, jetzt noch aufzugeben, wäre dumm gewesen. Sogar Christian, Daniel und Maurice hatten es angeblich bis hierher geschafft. Jan ging los und wandte sich nach links. Also wandte ich mich nach rechts. „Guck nach dem Seil“, flüsterte er mir zu. Ich nickte und begann, die Balken über mir abzusuchen. Jan tat auf seiner Seite dasselbe. Wir gingen weiter. Der Boden knarrte. Plötzlich sah ich es. „Jan“, rief ich und erschreckte mich selbst über den brüchigen Klang meiner Stimme. Sofort stand Jan neben mir und sah ebenfalls hoch. Da war es.
Das Seil war ein paar mal um einen Deckenbalken geschlungen worden. Ein paar Meter weiter lag ein umgeworfener Stuhl auf dem Boden.
Was war passiert, nachdem die alte Frau Andrichs den Stuhl weggetreten hatte? fragte ich mich. Hatte sie versucht, zu schreien, als das Seil sich in ihren Hals schnitt? Hatte sie den Mund auf und zugemacht, wie ein Fisch an der Luft? Hatte sie mit den Händen nach dem Seil gegriffen, versucht, es zu lockern? War sie dabei hin und hergebaumelt? Hatte sie es im letzten Moment bereut?
Jan und ich hatten uns hingesetzt und starrten das Seil an. Ich weiß nicht, was er dachte, doch wahrscheinlich genau dasselbe wie ich.
Das Seil war tatsächlich abgeschnitten worden, das Ende war ein bisschen ausgefranst. Ich sah mich um, doch die Schlinge war nirgends zu sehen. Vielleicht hatte man sie ihr erst später abgenommen. „Warum liegt der Stuhl so weit weg?“, fragte Jan plötzlich. „Vielleicht hat ihn ein Polizist weggetreten, weil er im Weg lag“, antwortete ich. „Hm“, machte Jan. Schließlich stand er auf, hob den Stuhl auf, stellte ihn unter das Seil und stieg hinauf. Er streckte seinen Arm aus und fasste das Seil an. Ich fühlte plötzlich, wie ich das auch tun wollte. Es war eine gute Geste. Sie bedeutete den Abschluss der Sache. Sie bedeutete, dass wir den beschwerlichen Weg hierhergekommen waren, um den Ort, an dem sich die alte Frau Andrichs erhängt hatte, zu sehen, dass wir es geschafft hatten, dass wir genauso mutig gewesen waren wie Christian, Daniel und Maurice, und dass wir verstanden. Ich stieg auch auf den Stuhl, streckte langsam die Hand aus und sah schon regelrecht vor mir, wie irgendetwas Gewaltiges geschehen würde. Ein Blitz würde von dem Seil in meine Hand fahren, ein grelles Licht würde aufflammen und es würde mich irgendwie verändern.
Natürlich geschah das nicht, aber als ich die Fasern des Seils berührte, überkam mich trotzdem ein Kribbeln.
Jan sah mich an. „Ok?“, fragte er. „Ja“, antwortete ich. „Lass uns abhauen.“
5
Wir machten uns auf den Rückweg mit dem Gefühl, etwas Wichtiges erledigt zu haben. Wir gingen die Treppe mit der verwunschenen Tapete hinunter und diesmal traute ich mich mehr, hinzusehen, öffneten die Tür zur Galerie… und erstarrten. Unten in der Empfangshalle stand ein Mann. Er war uns abgewandt, doch hinter uns schloss sich die Tür mit einem leisen Klick und der Mann drehte sich um. Es war ein Penner. Er hatte eine Regenhose an, die fleckig und zu kleine war, Schuhe, von denen die Spitze fehlte und lange, dreckige, gelb-schwarze Zehennägel herausschauten, eine billige Jacke mit Löchern und Flicken und eine graue Wollmütze auf dem Kopf. Im Gesicht hatte der Mann einen ungepflegten Bart. „HE, WER SEID IHR DENN? WAS MACHT IHR HIER?“, rief er viel zu laut, weil er wahrscheinlich betrunken war und mein erster Reflex war, mir die Ohren zuzuhalten. „EH… EGAL, SAGT MAL, HABT IHR N BISSCHEN KLEINGELD FÜR N ARMEN MANN ’BEI?“ „Nein“, erwiderte Jan und zog mich die Treppe bis zur Gabelung runter. „ACH KOMMT SCHON! WIRKLICH NICHT? AH, HALT, ICH WEIß WAS! ICH BLAS EUCH! SO ALT SEID IHR DOCH SCHON, ODER?“ Wir gingen langsam die breite Treppe hinunter. Am Fuß der Treppe stand der Penner. „ICH BLAS EUCH BEIDE FÜR 2 MARK, OK?“ Jan zog mich weiter und das war gut, denn ich wäre wahrscheinlich die ganze Zeit über stehen geblieben. „Nein“, wiederholte Jan und schließlich waren wir unten angekommen. Ich hatte in Gedanken schon gesehen, wie der Mann uns unten abfing und wer weiß was tat, aber er kam uns nur langsam hinterher. Jan ließ mich kurz los um die große Eingangstür aufzumachen und da zupfte mir der Mann am Ärmel. Ich drehte mich um und sah direkt in sein Gesicht. „HE JUNGE, ICH BLAS DICH SO GUT, DASS DU DENKST, DU WÄRST IM HIMMEL! NUR EINE MARK!“ Seine Worte hüllten mich in eine Wolke aus Gestank, die aus seinem Mund kam. Alkohol war unverkennbar dabei, doch da war noch etwas anderes, ein Geruch, so als würde er von innen heraus verfaulen. In seinem Mund befanden sich nur noch wenige Zähne und die waren mehr Stummel. Sie saßen schief und alle waren gelb und manche sogar schwarz. Unter seinen Bartstoppeln, bemerkte ich, befanden sich eitrige Pickel.
Dann zog mich Jan wieder und wir traten beide durch die Tür und fingen an zu rennen. Wir rannten so schnell wir konnten zu dem Tunnel im Gebüsch und flogen förmlich hinein. Jan krabbelte los wie ein Verrückter und ich stand ihm in nichts nach. Ich spürte schon, wie mich eine faulige Hand am Knöchel packen und zurückziehen würde und ich glaube, ich schrie Jan an, doch das kann ich mir auch einbilden. Einmal drehte ich mich ganz kurz um, um zu sehen, ob der Mann uns folgte, und ich sah ihn auch: Er stand in der Eingangstür, rief uns irgendetwas hinterher, folgte uns aber nicht.
6
Das war das Schlüsselerlebnis für meinen Kindheitsalptraum: In meinem Traum gehe ich die Treppe mit der verwunschenen Tapete hoch, in der sich Monster und Ungeheuer tummeln, die nach mir greifen, öffne die Tür, und stehe auf dem Dachboden. Jan ist bei mir, doch er ist wie ein Geist und tut weiter nichts, als dazusein. Ich gehe ein Stück vorwärts, ein paar zugedeckte Möbel verstellen mir die Sicht. Ich gehe an ihnen vorbei, obwohl ich gar nicht will, denn ich weiß, was mich dahinter erwartet. Doch es hilft nichts; ich lenke nicht meine Schritte, sie werden gelenkt. Ich gehe also um die Möbel herum und da hängt er am Seil, der Penner von damals, mit langen Haaren und einem Kleid, wie es meine Lehrerin von damals immer trug und an den Füßen sind die Schuhe mit den abgeschnittenen Spitzen und die gelben, schmutzigen Zehen schauen heraus und da ist der ungepflegte Bart und die eitrigen Pickel. Ich werde bis direkt vor den Penner/die Frau gelenkt und dann reißt der Penner/die Frau plötzlich die Augen auf, und sie starren mich an, diese leeren Augen und dann öffnet sich der Mund, ich sehe die gelb-schwarzen Zahnstummel und in einer Wolke aus Gestank, der so schrecklich ist, dass es mir die Augenbrauen verbrennt schreit er/sie/es: „ICH BLAS DICH! SO ALT BIST DU DOCH SCHON, ODER?“ Und ich versuche mich umzudrehen, nur weg von diesem Ding, und schließlich gelingt es mir und quälend langsam renne ich wie unter Wasser auf die Dachbodentür zu, doch die scheint nicht näher zu kommen, sondern immer weiter wegzudriften, und ich höre, wie der Penner/die Frau/das Es das Seil durchschneidet und ich höre die Schritte, wie er/sie/es hinter mir herläuft, und da kommt die Tür doch noch in Reichweite und ich packe die Klinke, drücke sie runter, schiebe und ziehe, doch die Tür geht nicht auf, sie ist verschlossen, und ich fühle den hechelnden, stinkenden Atem in meinem Nacken, spüre wie er mir dort die Härchen versengt, spüre, wie sich eine Hand auf meine Schulter legt, mich herumdreht und ich werde in diesen Mund hineingezogen, dieser Mund, der mich anschreit: „JUNGE, ICH BLAS DICH SO GUT, DASS DU DENKST, DU WÄRST IM HIMMEL! NUR EINE MARK!“
Und dann wache ich auf.
Ich weiß nicht mehr, was wir gemacht haben, als wir aus dem Tunnel raus und durch das Tor hindurch waren. Jan erzählte mir später, wir seien gelaufen wie die Wahnsinnigen, und das kann ich mir gut vorstellen. Meinen Eltern habe ich nie etwas von dieser Sache erzählt und soweit ich weiß, wurden wir in der Schule doch keine Helden. Ich weiß noch, wie ich damals darüber nachgedacht habe, was der Penner mit „blasen“ gemeint haben könnte. Heute weiß ich es natürlich und ich bin bestürzt, wie wenig Achtung dieser Mensch doch vor der Kindheit, beziehungsweise der Jugend hatte. Wahrscheinlich war es nur ein armer Teufel, der selber keine gute gehabt hatte und nun sehen musste, wo er sein Essen und seinen Alkohol herbekam.
Trotz dieses schlimmen Ausgangs der Geschichte habe ich damals doch etwas gewonnen. Ich bin tatsächlich reifer, erwachsener geworden. Durch den Besuch der alten Villa wurde ich mit dem Tod konfrontiert, und ich habe mich mit ihm auseinandergesetzt, ihn besser verstanden.
Mit 15 ist Jan dann weggezogen, in eine andere Stadt, er ist dann Polizist geworden, und ich habe noch Kontakt zu ihm und manchmal treffen wir uns, trinken Bier und erzählen von damals und wie es uns jetzt geht.
Nun, das war mein Kindheitsalptraum. Wie steht es mit Ihnen? Was war, oder ist, Ihr Kindheitsalptraum?