Was ist neu

Kissen ...

Challenge 3. Platz
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04.03.2018
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Kissen ...

Das azurfarbene Lederkissen linste um die Ecke in den Gang. Flauschel war nicht zu sehen. Bis auf das Rauschen der Lüftungsanlage unter der Decke war der Laden ruhig. Das Kissen öffnete den Reißverschluss seiner Hülle und zupfte ein wenig Füllung heraus. Auf seinen unteren Zipfeln tänzelte es über den Gang, als ginge es über einen Laufsteg. Dazu säuselte es mit hoher Stimme: »Hach, Leute, ich bin wieder so extrem elektrisch heute.«
Drei Kissen in Gelb, Orange und Grün schüttelten sich vor Lachen und fielen dabei aus dem Zwölf-Neunundneunzig-Ständer, der neben der Heimtex-Info stand. Sie liebten, wie Azurro die Flauschel nachmachte. Das Nackenkissen aus dem ›Airflocks Supralight‹-Karton auf der Info-Theke hüpfte in die Luft und schlug die unteren Zipfel gegeneinander. Aus dem Halbdunkel des Regals gegenüber entwich dem Therm-A-Rest ein gelangweiltes »Pffft.«
Gerade als das Gelächter verebbte, hörten sie, wie sich leichte Schritte näherten. Aus dem nächsten Quergang tippelte ein Fellkissen und steuerte auf die Gruppe zu. Flauschige Haare wehten im Luftstrom der Ventilatoren.
Das azurfarbene Lederkissen erschrak. Schnell stopfte es die Füllung zurück in die Lederhülle und schloss den Reißverschluss. Unauffällig glättete es die Falten. »Behaltet eure Fasson!«, drang aus seiner Sprechfalte.
»Ich pfeiff drauf«, sagte das Therm-A-Rest und rollte sich zusammen.
Die Drillinge in Gelb, Orange und Grün zogen gegenseitig ihre Handkanten-Mittelfalten nach, womit sie erst mal beschäftigt waren, weil sie über die richtige Mitte stritten.
Das Airflocks-Kissen konstatierte: »Ich bin absolut formstabil.«

In der Nachtbeleuchtung glänzte Flauschels graubraunes Fell, ihr dunkelroter Reißverschluss schimmerte verführerisch.
»Hallo, Azurro«, hauchte sie und schaute in die Runde. »Und vielen Dank an das Empfangskomitee.«
Sie kam ihm so nahe, dass ihre Haarspitzen sein Leder berührten. Azurro hielt kurz die Luft an und wich zurück, bis er im Rücken die Heimtex-Theke spürte. Als er weiteratmete, wurde ihm von Flauschis Lanolin-Duft schwindelig. Das Fellkissen drückte einen haarigen Zipfel gegen seinen Bauch. Von Tuchfühlung träumte er oft, aber nicht so.
»Du hast recht, mein Tag war extrem elektrisch. Und bei dir? Lass mich raten, die übliche Tristesse?«
Aus dem Azur wurde ein Violett, ein sprachloses Violett, ein sehr unglückliches und pralles Violett mit Schnappatmung.
»Was ist? Eben warst du noch so lustig. Hat es dir die Sprache verschlagen?« Mit einem Lächeln drehte Flauschel ab und stolzierte Richtung Teppichabteilung. Ihr Duft waberte noch eine Weile durch die Luft und genauso lange brauchte es, bis Azurro sich rühren konnte und das Azurblau zurückkehrte.
»Hoffentlich wird die morgen verkauft«, maulten die Drillinge im Chor. Das Airflocks Supralight knispelte eine Art Zustimmung mit seiner Füllung aus luftigen Kügelchen. Nur das Therm-a-Rest rollte sich ein Stück weit ab und widersprach: »Das kannst du deinem schlimmsten Feind nicht wünschen, dass zukünftig ein menschliches Hinterteil auf dir hockt.«
»Das ist unsere Bestimmung, dafür wurden wir gemacht, ob es dir nun passt oder nicht.« Gelb und Orange zuckten gleichgültig ihre Zipfel.
»Genau diese Ergebenheit passt zu euch, ihr Mittelfalten-Dreierpack.« Das Therm-a-Rest zupfte an seinem schwarzen Fixiergummi und ließ es flitschen.
»Eingebildete Ziege! Unter der ganzen Wolle ist die bestimmt flach wie ein Stuhlkissen«, maulte Grün, »aber riskiert hier eine dicke Borte wie eine … eine … Diva in Nerzhülle.«
»Lasst mal gut sein.« Azurro ließ die Zipfel hängen. Ehrlich gesagt war sein Leben oft öde und die nächtlichen Momente, wenn Flauschel an ihm vorbeispazierte, gehörten zu den schönsten des Tages. Auch wenn sie ihn meistens nicht beachtete. War das der Grund, warum er sie oft nachmachte? Er konnte es nicht sagen. Doch beim Gedanken daran, dass Flauschel verkauft werden könnte, schrumpfte seine gesamte Füllung auf Tennisballgröße.

Von oben aus dem Chromgitterkorb an der Zentralkasse schaute ein bedrucktes Kissen herüber. Lieblingsmensch stand auf seinem Bauch. Darüber prangte ein großes Herz.
»Nabend, die Herrschaften«, rief es.
»Lass mal rübergehen und Nachrichten hören.« Azurro tapste los Richtung Kasse.
»Mottokissen … ich mag die nicht, die sind so schrecklich ordinär und geschwätzig«, murrte das Airflocks Supralight. »Und dann noch Lieblingsmensch … zum Abgewöhnen!«
»Also, wir finden die Sprüche immer lustig«, sagten die Drillinge unisono.
»Klar, ihr mögt ja auch Schlagergedudel in Endlosschleife.« Therm-a-Rest dachte, niemand hätte es mitbekommen. Doch Grün gab ihm einen satten Zipfelrüffel und raschelte wütend.
Azurro schaute hoch zum Korb und fragte das Mottokissen: »Und ... was gibt's Neues?«
»Hm, mir fällt nix ein, was euch betrifft – obwohl ..., ach nee.«
Da die Mottokissen nahe der Zentralkasse lagen, waren sie immer auf dem Laufenden. Und dass es nichts Neues zu berichten gab, kam nicht vor.
Das Airflocks Supralight zog eine Faltenschnute. »Jetzt wartet es wieder drauf, dass jemand es lobt.«
»Genau, fishing for compliments, wie der Franzose sagt«, flüsterte das Therm-a-Rest. »Bei denen musst du erst mit Lob den Korken ziehen, dann läuft's.«
Azurro zischte ein »Pscht!« und wandte sich wieder dem Gitterkorb zu.
»Hör mal, dein Spruch, Lieblingsmensch und das Herz daneben, du, das ist wirklich allererste Franse!«
»Oh, danke sehr!« Auf der Hülle des Mottokissens erschien ein rosa Schimmer, das Herz leuchtete kräftig. »Ach, gerade ist mir doch was eingefallen …«
»Und das wäre …?«
»Heute war so eine Dame hier mit Stilettos, Sonnenhut und qualmendem Zigarillo zwischen den Lippen. Die ist mit ihren kleinen Hunden an der Info vorbeigerauscht …«
»So, eine Dame mit Hut also.«
»An der Kasse hat sie gefragt, ob sie mit Karte bezahlen kann.«
»Na, das nenn ich mal ein Highlight.«
»Nee, warte mal, das ist nicht alles – heute ist doch der Kartenleser ausgefallen.«
»Hm, was wollte sie denn bezahlen?«
»Och, sie wollte nur sämtliche Fellkissen kaufen, für ihre Hunde zum Zerpflücken.«

Ein kalter Luftzug strich durch den Laden, der sie alle frösteln ließ. Das Mottokissen plauderte fleißig weiter, doch Azurro hörte nicht mehr zu. Er dachte an Flauschel und ihren dunkelroten Reißverschluss. Ein Rudel gieriger Kläffer stürzte sich auf ihr Fell und riss kleine Stücke heraus. Schnell verscheuchte er den Spuk. Ihm wurde abwechselnd fusselig und flockig.
»Los, Leute, mir nach!« Azurro schlug den Weg zur Teppichabteilung ein.
Während er lief, dachte er fieberhaft nach. Was konnte er tun, um das drohende Unheil abzuwenden? Alle Fellkissen zu verkaufen, das war ungeheuerlich, Flauschel den Hunden zu opfern, ein Alptraum.
»Thermi, Drillinge …, irgendeine Idee?«
»Wenn du so fragst«, sagte Orange, »also, wenn du so fragst, ich denke da an die Kissenburg.«
»Nicht wahr!«, stöhnte Gelb, »der Quatsch schon wieder …«
Jedes Kissen hatte schon etwas über die Kissenburg gehört. Über den fliegenden Teppich, der einen dorthin brachte, wo Kissen unbehelligt lebten. Wo es keine Tiere und Menschen gab – außer einer zarten Prinzessin, die in einem Himmelbett mit Seidenvorhängen schlief, die ständig vom sanften Wind der Savanne bewegt wurden. In dem riesigen Bett schliefen hunderte Kissen, die sie jeden Tag einzeln aufschüttelte, herzte und liebevoll glattstrich. Und die Kissen rissen sich darum, unter der nach Rosen duftenden Prinzessin liegen zu dürfen. Doch niemand hatte den fliegenden Teppich je gesehen.

Das Airflocks Supralight titschte mit leichten Sprüngen neben Azurro her.
»Flocke, was weißt du über die Kissenburg?«
»Azurro, ich bin ein Hightech-Kissen, ein Produkt wissenschaftlichen Fortschritts. Was bitte sollte ich über Aberglauben wissen?«
»Ja, was solltest du über Sehnsucht nach einem besseres Leben wissen?«, sagte Thermi. »Das ist nur was für Spinner und Träumer, voll Lowtech, nicht wahr?«
»Deine Märchen kannst du abends den Jungkissen vor dem Schlafengehen erzählen«, erwiderte Flocke.
Hinter der nächsten Ecke öffnete sich die Teppichhalle. Gigantische Stapel von Teppichen unterschiedlicher Größe ragten vor ihnen empor. Moderne Wollteppiche, Läufer, Spielteppiche mit Straßen, Kunstrasen, Fußmatten, Bettvorleger – und dunkelrote Orientteppiche mit fein gewebten Mustern.
In der Ecke, wo die Kuh- und Schaffelle lagen, sahen sie Flauschel. Sie hockte mit anderen Fellkissen im Kreis.
»Und dann bin ich zu ihm hin und habe ihn gefragt …« Flauschels Haare knisterten rosa auf. »Hallo, Azurro.«
»Ich muss dir was sagen.«
»Azurro! Aber doch nicht vor allen Leuten.« Flauschel schlug übertrieben die Zipfel vor den Reißverschluss, die Fellkissen lachten laut auf.
»Halt mal einen Moment den Rand und hör mir zu.« Er wartete, bis es leiser wurde. »Heute war eine schreckliche Person hier im Laden und wollte alle Fellkissen für ihre Hunde kaufen.«
Ein Raunen und Rascheln zog durch den Kreis.
»Was hat sie davon abgehalten?«, fragte ein schwarzweißes Kuhkissen.
»Der Kartenleser hat gestreikt, aber sie will wiederkommen.«
»Wann?«
»Wer weiß, vielleicht schon heute?«
Flauschel sagte nichts. Ihr sonst so elektrisches Fell hing zusammengefallen an ihr herab. Azurro spürte, wie sich seine Füllung zusammenzog, auf seiner Glattlederhülle standen ungewohnte Knautschfalten.
»Wir brauchen einen Plan!« sagte er.
»Na klar, einen Plan, wenn's weiter nichts ist …«, plapperte Gelb.
»Ein Plan hat mit Nachdenken zu tun, also nix für dich«, sagte Thermi.
Gelb stampfte drohend auf ihn zu und holte aus, ein heftiger Knuff und Thermi schlug einige Kissenpurzel rückwärts über den nächsten Teppich.
Die Fellkissen redeten aufgeregt durcheinander. Niemand hatte eine Idee.
»Ich sehe nur eine Möglichkeit!«, sagte Azzuro in das Gemurmel. »Wenn sie wiederkommt, dann starten wir das volle Programm

»Azurro, du weißt, selbst das hält sie nur eine Weile auf«, sagte Flauschel, »und früher oder später kommt sie wieder.«
»Wir nutzen das Durcheinander und machen uns vom Acker«, sagte Azurro zu den Fellkissen.
»Und wo sollen wir hin?«
»Zur Kissenburg?«, flüsterte Orange.
»Du mit deinem beknackten Spleen!« Gelb fuhr dazwischen.
»Lass ihn mal«, sagte Flauschel. »Was weißt du über die Kissenburg?«
Orange erzählte von Hunderten Kissen, einer Prinzessin mit Rosenduft und endete mit dem fliegenden Teppich, der sich zur rechten Zeit am rechten Ort zeigt.
»Klar, fliegender Teppich«, sagte Flocke. »Leute, schaut euch mal um, wir sind in der Fußtreterabteilung von einem Provinz-Ramschladen.«
»… und suchen einen Teppich, den noch nie jemand gesehen hat, super Idee.« Thermi flitschte an seinem Gummi.
Gelb stemmte die Zipfel in die Seiten und schnaubte. »Also manchmal benehmt ihr euch wie Angebote vom Wühltisch.« Aus dem Sonnengelb wurde für einen Moment ein giftiges Senfgelb.
»Wie sollen wir den Teppich finden, wenn er sich nicht zeigt?«, maulte Grün.
»Orange«, sagte Flauschel, »wer hat dir denn von dem fliegenden Teppich erzählt?«
»Der Bernie«, antwortete Orange.
Die anderen Kissen stöhnten auf. »O nein, jeder nur der nicht …«

Bernie war das Kissen von Horst, dem Gabelstaplerfahrer. Ein löcheriges Etwas, das ihm – wie man hört – seine Frau in den Siebzigern aus Wollresten gehäkelt hatte. Auf seinem Bauch befand sich ein pinkes Peace-Zeichen, gesäumt von bunten Kreisen, die sich in verfilzte Fransen auflösten.
»Wie wollt ihr aus dem Vollpfosten was rauskriegen?«, fragte Grün.
»Du wärst nicht anders, wenn ständig ein Horst auf dir sitzt«, sagte Thermi.
»Denke mal, ein paar Silica-Gel-Tüten könnten helfen«, meinte Flocke, »alle lieben die.«
»Klar, bisschen Bestechung hilft, weil Bernie ist nicht gerade der Charmebolzen«, sagte Thermi.
»Ich hab den noch nie anders als total ätzend erlebt«, sagte Grün.
»Liegt wohl daran, dass der Horst nicht gerade nach Rosen duftet«, sagte Orange.
Flauschels Fell richtete sich langsam auf, mit einem Mal wirkte es wieder luftig und verströmte den betörenden Lanolin-Duft. »Ich gehe zu Bernie und quetsche ihn aus.«
»Okay, aber ich begleite dich …, äh, wenn ich darf«, sagte Azurro.
Flauschel grinste. »Welch heldenhafte Hilfe, dann kann ja nix mehr schiefgehen.«
»Haltet ihr uns solange den Rücken frei«, sagte Azurro gewichtig zu den anderen,
»Schon klar.« Thermi feixte. »Viel Erfolg bei eurer ... Mission.«
Flocke öffnete seinen Reißverschluss und ließ einige Silica-Gel-Tütchen herausfallen. »Die werdet ihr brauchen«, sagte er. »Drück euch die Zipfel!«

Mit einem Mal wechselte die schummerige Nachtbeleuchtung zu grellem Neonlicht. Niemand von ihnen hatte bemerkt, dass es draußen hell geworden war. Jeden Moment würden die Türen aufgesperrt.
Azurro und Flauschel zogen los, Richtung Lamellentür, die den Verkaufsraum vom Lager trennte. Bernie war die letzte Hoffnung.
Unbemerkt vom Personal tapsten Flocke, Thermi, das Dreierpack und die Fellkissen Richtung Zentralkasse. Die Nachricht vom vollen Programm breitete sich im ganzen Laden aus wie ein Lauffeuer. Fieberhafte Vorbereitungen begannen.

Mit quietschenden Reifen stoppte ein rotes Cabrio vor dem Haupteingang. Als die Tür aufgestoßen wurde, sprang zuerst eine Handvoll quirliger Chihuahuas heraus, die mit einem schrillen »Mes chéris!« an ihren Leinen zurückgezogen wurden. Es folgte ein Paar schwarz glänzender High Heels mit Stilettoabsätzen, die mit jeder Bewegung drohten, einen der kleinen Hunde aufzuspießen. Wie durch ein Wunder geschah das nicht, doch einer der Hunde wurde zwischen Absatz und Schuh eingeklemmt und jaulte jämmerlich. Die Dame warf die Tür zu, setzte eine dunkle Brille auf und zündete einen Zigarillo an. Dann ging sie los, der Hund kam frei und kläffte wild.
Ihr altweißer Wollhut war ausgesprochen elegant geformt und passte farblich perfekt zu Rock und Blazer. Im Wind schlug die breite Hutkrempe Wellen wie der Flossensaum eines Sepia. Über der Schulter hing eine lackschwarze Handtasche, die sie mit dem Ellenbogen festklemmte, da beide Hände mit Hunden und Zigarillo beschäftigt waren.
Vor dem Eingang hielt sie inne und drehte sich auf dem Absatz um. Sie schaute über den Parkplatz und paffte dazu hellgraue Ringe aus Rauch, die sich schnell in Luft auflösten. Mit rot lackierten Fingernägeln winkte sie den Männern zu, die vor den offenen Türen und Heckklappen ihrer Autos standen und sie selbstvergessen angafften.
»Luschen!«, zischte sie und lächelte. Dann wandte sie sich dem Eingang zu und lenkte die Hündchen zur Tür. »Allez allez, les amis!«

Als Azurro und Flauschel das Lager betraten, war es dunkel. Die Lageristen saßen noch beim Kaffee. Vor dem Tor stapelten sich bereits Paletten mit angelieferter Ware. Bernie schnarchte auf dem schwarzen Sitz des Staplers. Bunte Fransen flatterten im Atemwind.
»Bernie«, zischte Flauschel. Das Schnarchen ging weiter. »Bernie!« Azurro sprang auf die Stufe und zog an Bernies Fransen.
»Was, wer zum …, Horst?«
»Nee, Flauschel und Azurro.« Das Lederkissen hielt ihm einige Silica-Gel-Tütchen hin.
»O Mann, das darf nicht wahr sein. Haut ab!«, grummelte Bernie und legte sich wieder flach.

Erst wenige Kunden befanden sich im Laden. Unter der Woche vormittags war es vergleichsweise ruhig und die Mottokissen hatten freie Sicht auf das Unheil, das sich vor der Tür anbahnte. Wie eine Welle lief das Geknister und Geknautsche durch den Laden, bis auch das letzte Kissen in der dunkelsten Ecke im untersten Regalfach Bescheid wusste.
Sobald die Dame mit den Hunden durch die Piepsschranke ging, brach das Chaos los. Kissen kamen aus den Regalen herangeflogen, eines fegte der Dame in Weiß ihren eleganten Hut vom Kopf und ihre schwarze Perücke gleich mit dazu.
Mit einem wütenden Schrei schnappte sie den gelben Drilling aus der Luft. Gerade als sie ihren Zigarillo in der Mittelfalte ausdrücken wollte, sprang Flocke auf den Hebel des Desinfektionsmittelspenders. Der Strahl traf auf die Glut und führte zu einer Stichflamme, die ihre Augenbrauen und Wimpern versengte. Die Wangen leuchteten krebsrot und die verzerrte Fratze wurde gesäumt von schwarzen Rußflecken.
Mit einem Schrei ließ sie die Hunde frei, die sich auf die Kissen stürzen wollten. Doch immer dann, wenn ein Chihuahua zubeißen wollte, kam von der Seite ein anderes Kissen geflogen, sodass die Hunde nicht wussten, welches Kissen sie zuerst beißen sollten.
Leichte Badteppiche und schnelle Bettvorleger robbten in Wellen über den Fußboden und schafften Kissen nach ihrem Einsatz aus dem Gefahrenbereich. Das führte dazu, dass die Frau keinen einzigen sicheren Schritt gehen konnte, weil sich der Boden unter ihr zu bewegen schien. Unbeholfen staksten ihre hohen Stöckelschuhe auf der Stelle. Als sie ein weiteres Mal beinahe hingefallen wäre, zog sie die Schuhe aus und begann, mit den Absätzen auf die Kissen einzudreschen, die sie von der Theke aus mit »Freebreeze Raumaroma« ansprühten. Natürlich schlug sie fast jedes Mal daneben und perforierte die Ablage mit pfenniggroßen Löchern.
Orange hatte die Unterseite des Lochers abgezogen und eine Konfettiwolke in Richtung der Furie gewedelt, die sich auf dem kahlrasierten nassen Schädel niederließ. Mit den bunten Papierschnippseln auf ihrem Kopf schaute sie aus, als trüge sie eine altmodische Badehaube.
Der Anblick wiederum brachte die Kassiererin dazu, aus ihrer Schockstarre zu erwachen und nach dem Hörer zu greifen.
»Eintausend, ich wiederhole Eintausend!«, bellte sie in den Hörer. »Und Achtundachtzig und Dreihundert und Lucky Luke und Pippi Langstrumpf und überhaupt, ich brauche verdammt nochmal Hilfe!«, schallte die Durchsage bis in das letzte Mauseloch.
Aus allen Winkeln des Möbelhauses strömten Mitarbeiter zur Zentralkasse. Sogar aus der Büroetage, der Gartenmöbelabteilung und dem Restaurant liefen Menschen herbei. Sie begannen damit, die Kissen einzeln einzusammeln und in zwei Gitterboxen zu stopfen.

»Bernie, wir brauchen dich«, sagte Flauschel.
»Was …, nee, nicht schon wieder die Nervensägen.«
»Der halbe Laden versinkt unseretwegen im Chaos und in wenigen Minuten werden sie uns holen.«
»Na und? Nicht meine Baustelle.«
»Du hast Orange den Floh von der Kissenburg in den Bezug gesetzt«, meinte Azurro.
»Ist kein Floh, Glatzkopp.«
»Na schön, dann raus damit, was weißt du über den fliegenden Teppich?«
»Wird das jetzt 'n Quiz?«, maulte Bernie und setzte sich auf. »Und warum sollte ich dir überhaupt was sagen?«
Azurro wollte gerade sauer werden, doch Flauschel ging dazwischen: »Weil wir dich mitnehmen – wenn das stimmt, was du sagst.«
Bernie lachte ein krächzendes Lachen, dem man Jahrzehnte rußiger Luft anhörte.
»Ihr. Mich. Mitnehmen? Der ist gut.«
Azurro drehte sich zu Flauschel und schüttelte mit den Zipfeln ein ›Nein!‹.
Das Fellkissen stemmte die Zipfel in den Rand ihrer Hülle und sagte: »Wenn er mitkommen will, ist er dabei! Und andere Kissen auch. Entweder es zählt jedes einzelne Kissen, oder es zählt keines!«
»Also ich zähle auf jeden Fall.« Bernie gluckste.
»Schon klar.« Azurro verdrehte den Reißverschluss. »Und was genau weißt du nun über den fliegenden Teppich?«
Bernie überlegte so angestrengt, dass seine Maschen enger wurden.
»Ja, der fliegende Teppich, den gibt es wirklich.«
Aus dem Verkauf drang Lärm zu ihnen. Eine hektische Durchsage schrillte aus den Lautsprechern. Die Lageristen stellten ihre Kaffeebecher ab und liefen zur Lamellentür.
»Wo? Raus damit, uns läuft die Zeit davon«, schrie Azurro.
»He, nicht so aggro, Alter. Wenn's soweit ist, wird er sich zeigen.« Bernie grinste. »Aber du hast Glück, denn genau jetzt ist es soweit.«

Lange Zinken schossen durch den Lamellenvorhang, der Lager und Teppichabteilung trennte. Am Steuer des Gabelstaplers saß ein zerfranstes Häkelkissen mit einem großen, pinken Peace auf dem Bauch.
»Das wollte ich schon lange mal wieder«, rief es und fuhr Richtung Teppichabteilung.
Neben ihm saßen Azurro und Flauschel und krallten sich an ihm fest.
»Achtung, Leute, jetzt gibt’s einen Rumms!« Bernie fuhr in einen Teppichstapel und hob ein paar Teppiche auf die Zinken. »Voila, ... fliegende Teppiche!«
»Vollkommen durchgeknallt«, ächzte Azurro, »aber gut.«
Bernie setzte zurück und nahm mit Vollgas den Eingang aufs Korn. Flauschel und Azurro schrien abwechselnd »Links!« und »Rechts!« In Schlangenlinien fuhr der Stapler durch Regale, Bänke, Plastikblumen und Mülleimer. »Müsst euch mal entscheiden, Kinder«, brummelte Bernie und kurbelte am Lenkrad.
Die Dame an der Zentralkasse grabschte nach dem Hörer und bellte hinein:
»Leute, lasst alles stehen und liegen. Rette sich wer kann!«
Die Menschen strömten schreiend nach draußen, nur die zerzauste Frau mit merkwürdiger Badehaube und ehemals weißen Kleidern, die ihr nass am Leib klebten, torkelte auf den Stapler zu.
»Du!«, drohte sie und zeigte mit dem Finger auf Azurro, »das warst alles du.« Nur noch wenige Schritte trennten sie von den Teppichen auf den Zinken. Jetzt hoppelte auch das fürchterlich kläffende Rudel der Chihuahuas um die Ecke.
»Drück mal den Knopf da, Flauschel.« Bernie zeigte mit einem Zipfel zur Seite.
Ein ohrenbetäubendes Hupen ertönte, das die Furie auf den Hosenboden beförderte und die Hunde winselnd davonlaufen ließ. Bernie ließ die Zinken zur Seite schnellen und begrub die Furie unter den Teppichen. »So! Ruhe ist«, meinte er trocken.
Auf die leeren Zinken lud er vorsichtig die Gitterkörbe mit den gestopften Kissen und preschte los. Schnell fuhren sie an der Zentralkasse und der erstarrten Kassiererin vorbei, nieteten die nervige Piepsschranke um und steuerten durch die offenen Schiebetüren.
Vor dem Haupteingang stand das rote Cabrio quer. Der Motor des Staplers heulte auf, bevor er mit einem Zinken gegen den Kotflügel semmelte. Das Cabrio drehte sich um die eigene Achse und machte den Weg frei.
»Der Schaffner der Verkehrsbetriebe entschuldigt sich für die Unannehmlichkeiten, hehe«, sagte Bernie.
Er fuhr den Stapler mit den zwei Gitterboxen voller Kissen tief ins Gewerbegebiet. Vor einer verlassenen Halle hielt er an und setzt die Boxen auf den Boden.
In der Ferne waren Sirenen zu hören.
»Alle aussteigen, Endstation. Ich denke, jetzt ist die richtige Zeit und der richtige Ort.«

Bernie hüpfte vom Stapler und begann, sich im Kreis zu drehen. Schneller und schneller, bis die Pirouette durchsichtig wurde. Es gab einen Knall und eine Handbreit über dem Boden schwebte ein Teppich. Indigoblau und karmesinrot glänzte seine Seide.
»Bernie, Bernie, voll der krasse Scheiß«, pfiff Thermi.
»Wenn mir das gestern jemand erzählt hätte …«, sagte Orange.
»Das ist bestimmt besser als der Massagesessel aus dem Ersten«, träumte Flocke.
»Bitte Platz zu nehmen, die Herrschaften«, sagte der Teppich.
Azurro und Flauschel fassten sich an den Zipfeln und hüpften gemeinsam auf die schwebende Matte. Die Fellkissen folgten, das Dreierpack, sowie Thermi, Flocke und alle anderen Kissen.
»Auf zur Kissenburg, Bernie«, rief Flauschel und lachte.
Bernie sauste los und flog ein letztes Mal über den Parkplatz des Möbelhauses.
Polizei, Notarzt und Feuerwehr standen im Halbkreis vor dem Eingang. Die ehemals feine Dame lehnte an ihrem Cabrio, das einmal chic gewesen war, und telefonierte. Die schwarze Perücke hatte sie gefunden und in der Hast falsch herum aufgesetzt, so dass sie kaum etwas sah. Als der Teppich vorbeiflog, teilte sie die Haare und schrie: »Ihr seid alles Luschen!« Flauschel streckte ihr eine steile Mittelsträhne entgegen.
»Mag sein«, rief Azurro lachend zurück, »aber was du nicht raffst: Wir halten zusammen, denn jedes Kissen zählt.«

 

Lieber @linktofink ,

nur eine kurze Rückmeldung, ein ganz kurze, aber ich finde, die sollte sein!

Ich finde, da hat sich ordentlich was getan. Und ich mag das neue Ende, das Tempo, überhaupt die ganze Kissenschlacht. Wow! Für mich liest sich das jetzt sehr, sehr rund und stimmig und ganz oft mit einem fetten Lächeln im Gesicht.
Hat mir jetzt richtig Spaß gemacht. Und ab sofort werden alle Kissen hier verdammt gut behandelt. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja auch einen Bernie hier. Das wäre soooo cool :D

Schönes Wochenende!
Fliege

 

Liebe @Fliege,

vielen Dank für Deine erneute Rückmeldung, das tat echt gut zu lesen.

Wow! Für mich liest sich das jetzt sehr, sehr rund und stimmig und ganz oft mit einem fetten Lächeln im Gesicht.
So soll es sein, :D dann hat sich die Arbeit am Text gelohnt.
Hat mir jetzt richtig Spaß gemacht. Und ab sofort werden alle Kissen hier verdammt gut behandelt. Und wer weiß, vielleicht habe ich ja auch einen Bernie hier. Das wäre soooo cool :D
Man sollte ab und zu mal unter sich gucken, wenn da ein pinkes Peace-Zeichen durch die Hose leuchtet, droht ein Abenteuer.

In diesem Sinne, peace, l2f

 

Hallo @linktofink
so, Du bist der (nicht das!) Letzte, den ich noch kommentieren musswill.

Das azurfarbene Lederkissen linste um die Ecke in den Gang.
Schöner Einstieg, da ist man gleich drin im lebenden Kuschelland.
Flauschel war nicht zu sehen.
Schöne Namen.
Dazu säuselte es mit hoher Stimme: »Hach, Leute, ich bin wieder so extrem elektrisch heute.«
Die Probleme eines Kissens - schön.

das sind jetzt drei hervorgehobene Stellen, und überall steht das Wort "schön". Ich glaube, wir wissen alle, wie es weitergeht. deshalb mach ich es kurz: Schöne Geschichte.

gern gelesen!
Gruß
pantoholli

 

Hallo @pantoholli,

freue mich über das "schöne Geschichte" und dass Du sie gerne gelesen hast. Manchmal muss es ja auch nicht mehr sein. ;)

Gruß zurück am Rosenmontag aus Köln ohne Karnevalszug, dafür mit Demo. l2f.

 

Hey l2f

Also Flauschi und die zugrundeliegende Idee mag ich wirklich. Der Text reiht Einfall an Einfall und bewegt sich in der erschaffenen Welt: nicht ganz neu, aber was ist schon absolut nie da gewesen. Der Plot hat zwar drive, weist aber doch einige Längen auf, besonders dann, wenn ich antizipieren kann, was als nächstes passiert.

Süßlichkeits- und Flauschigkeitsfaktor hoch, also passt der Text ganz wunderbar zur Challenge. (Ich finde es übrigens interessant, dass sich die Challenge-Texte in zwei Kategorien einordnen lassen: im weitesten Sinne Humor und Romantik.) Noch ein Gedanke, angesichts der derzeitigen Kriegssituation könntest du über die Farbgebungen nachdenken.

Hat Spaß gemacht, danke dafür!

Paar Stellen:

Auf seinen unteren Zipfeln tänzelte es über den Gang, als ginge es über einen Laufsteg. Dazu säuselte es mit hoher Stimme: »Hach, Leute, ich bin wieder so extrem elektrisch heute.«
das mag ich, das mit dem elektrisch

Die Drillinge in Gelb, Orange und Grün zogen gegenseitig ihre Handkanten-Mittelfalten nach, womit sie erst mal beschäftigt waren, weil sie über die richtige Mitte stritten.
Das Airflocks-Kissen konstatierte: »Ich bin absolut formstabil.«
wie machen die das mit der Handfalte?

»Das kannst du deinem schlimmsten Feind nicht wünschen, dass zukünftig ein menschliches Hinterteil auf dir hockt.«
»Das ist unsere Bestimmung, dafür wurden wir gemacht, ob es dir nun passt oder nicht.«
vielleicht furzt das Mensch auch noch, eklig!

»Wir brauchen einen Plan!« sagte er.
»Na klar, einen Plan, wenn's weiter nichts ist …«, plapperte Gelb.
»Ein Plan hat mit Nachdenken zu tun, also nix für dich«, sagte Thermi.
bisschen Treppenwitzniveau

Als die Tür aufgestoßen wurde, sprang zuerst eine Handvoll quirliger Chihuahuas heraus, die mit einem schrillen »Mes chéris!« an ihren Leinen zurückgezogen wurden. Es folgte ein Paar schwarz glänzender High Heels mit Stilettoabsätzen, die mit jeder Bewegung drohten, einen der kleinen Hunde aufzuspießen.
und die Frau Schin sehr sehr Klischee

»Allez allez, les amis!«
Allez enfants de la patrie!

Mit einem Schrei ließ sie die Hunde frei, die sich auf die Kissen stürzen wollten. Doch immer dann, wenn ein Chihuahua zubeißen wollte, kam von der Seite ein anderes Kissen geflogen, sodass die Hunde nicht wussten, welches Kissen sie zuerst beißen sollten.
Also mein Hündchen würde sich nicht so wirrt verhalten

Die schwarze Perücke hatte sie gefunden und in der Hast falsch herum aufgesetzt, so dass sie kaum etwas sah. Als der Teppich vorbeiflog, teilte sie die Haare und schrie: »Ihr seid alles Luschen!« Flauschel streckte ihr eine steile Mittelsträhne entgegen.
»Mag sein«, rief Azurro lachend zurück, »aber was du nicht raffst: Wir halten zusammen, denn jedes Kissen zählt.«
Luschen, ich mag das Wort nicht, aber ein schön versöhnliches, solidarisches Ende der -Schlacht, wenngleich die arme Frau doch sehr zerzaust ist.

Viele Grüße aus dem flauschigen Nachmittag
Isegrims

 

Hallo @Isegrims,

danke für deinen Kommentar, der Satz hier fasst es gut zusammen:

Süßlichkeits- und Flauschigkeitsfaktor hoch, also passt der Text ganz wunderbar zur Challenge.
Der Text ist ja speziell nach den Kriterien der Challenge geschrieben, deshalb wäre schon gut, wenn er passt. ^^
(Ich finde es übrigens interessant, dass sich die Challenge-Texte in zwei Kategorien einordnen lassen: im weitesten Sinne Humor und Romantik.
So einfach finde ich es nicht, Chutneys Seegespenst lässt sich da nicht einsortieren und Kattas Trauerbewältigung auch nicht und andere nur mit Schrammen.
das mag ich, das mit dem elektrisch
ja, so knisterich und knatzelich passt doch zum Fellkissen.
wie machen die das mit der Handfalte?
einige Lücken muss Leser selbst füllen, ohne dass ich das erkläre, sonst wird es zäh, finde ich.
vielleicht furzt das Mensch auch noch, eklig!
frag mal den fransigen Bernie ...:drool:
Allez enfants de la patrie!
Jetzt kommste auch noch (fast) mit der Marseillaise, nee Du, dat bleibt so.
Luschen, ich mag das Wort nicht, aber ein schön versöhnliches, solidarisches Ende der -Schlacht, wenngleich die arme Frau doch sehr zerzaust ist.
Eine Lusche ist der Wortbedeutung nach, eine Spielkarte, die in der Endabrechnung nicht zählt. Deshalb passt das so gut, als Kontrapunkt, weil eben doch jedes Kissen zählt.

Flauschigen Abend dir, l2f

 

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