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Klassentreffen mit Milan
Unter seinen Händen der raue Kneipentisch, ihm gegenüber die nichtssagenden Gesichter seiner einstigen Klassenkameraden. Smalltalk. Warum war er hierher gekommen? War es die Neugier zu erfahren, was aus den anderen Verlierern und den wenigen Klassenlieblingen geworden war? Um nach den Jahren der Niederlage über die mühselig errungenen Erfolge Rechenschaft abzulegen? Letztlich war es profaner, dachte Ralf, und starrte auf die Schaumkrone seines Guinness. Er war hierher gekommen, um dem Albtraum seiner Schulzeit einmal gehörig das Gesicht zu polieren.
Lange hatte er gebraucht, bis er begriff, das Prinzip des Sich Wehrens gelte auch für ihn. Seine halbherzigen Luftschläge, die den unzähligen Angreifern auf dem Pausenhof gegolten hatten, waren von der Klassen seinerzeit nur belächelt worden. Er hatte nie kämpfen gelernt.
Er war ein Einzelkind, eines von jenen, die in einer Umgebung ohne andere Kinder aufwuchsen. Einzelhäuser mit kleinen Gärten, bewohnt von Rentnern oder jungen Paaren. Dazwischen er mit seiner Mutter und dem ständig abwesenden Vater, ohne Möglichkeiten, sich auch nur rudimentäre Kampftechniken anzueignen.
Dies hatte er Jahre später nachgeholt, als er bereits Mitte zwanzig war. Unweit seiner WG hatte eine billige Karate-Schule aufgemacht. Dort brachte er es zu diversen Gürteln und schloss erst mit dem Training ab, als er das Gefühl hatte, sich bei Spaziergängen im Dunkeln nicht mehr fürchten zu müssen. Nie war er in die Verlegenheit gekommen, seine neuen körperlichen Fähigkeiten jenseits der Matte zu testen. Jetzt saß er zusammen mit vier Frauen, deren Gesichter er kaum zuzuordnen vermochte, in einer kleinen Kneipe am Waldrand und wartete auf die Klassenkameraden von einst, die da noch kommen sollten. Er, der zusammen mit Janowic der erklärte Fußabtreter der Klasse gewesen war. Der Oberlooser.
Milan hieß sein persönlicher Albtraum aus Kindertagen, Alexander Milan. Ein kleiner Kerl, anderthalb Kopf kleiner vielleicht als Ralf. Aber drahtig. Und schnell. Es brauchte keinen Grund, um von Milan eine Kopfnuss zu ernten. Es reichte völlig, ihm den Rücken zuzukehren. Wenn Milan von vorn kam und Anstalten machte, ihn zu schupsen, ahnte Ralf bereits ein anderes Kind hinter sich knieend, über das er unweigerlich stolpert würde.
Ralf hatte sich strategisch auf einer Eckbank platziert. Während die Frauen sich über Belanglosigkeiten austauschten, beobachtete er gespannt die Kneipentür. Janowic sollte noch kommen, bei Milan war es unsicher. Die Frau, die das Treffen organisierte, hatte nur dessen Anrufbeantworter erwischt. Mit Janowic würde er lediglich abgleichen, wer es inzwischen weiter gebracht hatte. Eine kleine Genugtuung bestenfalls. Aber Milan und dessen Kumpanen würde er provozieren, so viel war klar. Er würde sie dazu bringen, auf ihn einzuschlagen. Um dann ihre verdutzten Gesichter zu sehen, wenn er sich zum ersten Mal wehrte.
Was wäre ein guter Grund für eine Prügelei? Sollte er Milan ein Bier über die Hose gießen, ups, entschuldige bitte? Ihn mit Sprüchen lächerlich machen? Das wäre alles zu offensichtlich. Ralf nahm einen Schluck Guinness und betrachtete die einstigen Klassenschönheiten. Drei der vier waren mittlerweile geschieden, die vierte klang jedoch auch nicht zu euphorisch in Bezug auf ihre Ehe. Vielleicht könnte er Milan dazu bringen, ein Foto seiner Frau oder Freundin zu zeigen, um dann freundlich zu kommentieren: „Sie hat bestimmt Charakter.“ Allerdings bezweifelte er, dass Milan das verstehen würde. Nein, der Klassenhellste war er nicht gewesen.
Als Milan endlich kam, waren die anderen – viel mehr waren sie nicht geworden – bereits nahe daran zu gehen. Das Gesicht immer noch schmal und kantig. Ein helles Sportsakko lässig über die Schulter geworfen. Erneut begann das Rätselraten, wer nun wer sei. Ein paar Erinnerungen wurden ausgetauscht. Ralf hielt sich dabei zurück. Milan beachtete ihn kaum. Erst, als die Sprache auf Ralf kam und eine der Frauen Milan an den Prügelknaben aus der zweiten Reihe erinnerte, begann sich in Milans Gesicht etwas zu regen. Ein feines Lächeln glitt über sein Gesicht.
Die anderen tauschten Anekdoten aus. Ralf spielte dabei keine wesentliche Rolle, er hatte anscheinend kaum bleibenden Eindruck hinterlassen. Ab und zu warf er kleine, spöttische Bemerkungen in Richtung Milan, die jedoch von den anderen weitestgehend ignoriert wurden. Es bot sich keine passende Gelegenheit, von dem Maklerbüro zu erzählen, das er mit den Jahren zum führenden Unternehmen am Platz aufgebaut hatte. Die Fotos seines Besitzes blieben in der Jackentasche.
Gerade stellte er sich vor, wie er Milans Gesicht mit einer ausgeklügelten Kata verschiedener Uchi-Waza-Techniken bearbeitete, als das Gespräch auf Janowic kam. Milan hatte von ihm gehört. Janowic hatte sich bis zum Abteilungsleiter eines kleinen Unternehmens für Halbleiterelektronik heraufgearbeitet. Vor ein paar Tagen hatten sie ihn auf dem Dachboden seines Hauses gefunden, erhängt. Ohne Abschiedsbrief, ohne erkennbaren Grund. Milan wirkte nachdenklich, als er das erzählte.
Mit einem Mal war Ralf nicht mehr danach, sich zu prügeln. Wie sollte man auf jemanden einschlagen, der eine solche Geschichte erzählte. Müde starrte er in sein halb leeres Bierglas. Kippte es ein wenig und lies es auf dem Rand kreisen. Kippte es schließlich um, so dass das Bier auf Milans helle Stoffhose floss.
„Ups, entschuldige.“
Milan zuckte mit den Schultern und wischte sich das Bier mit einem Taschentuch ab.
„Du warst glaube ich damals schon so ein Tollpatsch. Oder verwechsle ich dich?“
Ralf nickte, ärgerte sich aber schon im nächsten Moment über das Zugeständnis.
„Was machst Du eigentlich heute?“
„Ich arbeite inzwischen als Makler. Habe ein ganz gut laufendes Büro in Poppenbüttel. Und du?“
Alexander Milan bearbeitete seine Hose, ohne Ralf eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Habe eine Zeitlang Sport an der Uni studiert. Aber das war nichts für mich. Bin dann nach Indien gegangen und habe bei einem Meister Kalarippayat gelernt.“
„Meditation? Du?“
„Es ist mehr. Yoga. Heilkunde. Kampfkunst. Ich unterrichte diese Kampftechniken mittlerweile selbst, in einer Sportschule in Harburg, die ich aufgemacht habe.“
Ralf nickte und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Schließlich fragte er: „Willst Du noch ein Bier?“