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Klassentreffen mit Milan

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13.08.2005
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Klassentreffen mit Milan

Unter seinen Händen der raue Kneipentisch, ihm gegenüber die nichtssagenden Gesichter seiner einstigen Klassenkameraden. Smalltalk. Warum war er hierher gekommen? War es die Neugier zu erfahren, was aus den anderen Verlierern und den wenigen Klassenlieblingen geworden war? Um nach den Jahren der Niederlage über die mühselig errungenen Erfolge Rechenschaft abzulegen? Letztlich war es profaner, dachte Ralf, und starrte auf die Schaumkrone seines Guinness. Er war hierher gekommen, um dem Albtraum seiner Schulzeit einmal gehörig das Gesicht zu polieren.

Lange hatte er gebraucht, bis er begriff, das Prinzip des Sich Wehrens gelte auch für ihn. Seine halbherzigen Luftschläge, die den unzähligen Angreifern auf dem Pausenhof gegolten hatten, waren von der Klassen seinerzeit nur belächelt worden. Er hatte nie kämpfen gelernt.

Er war ein Einzelkind, eines von jenen, die in einer Umgebung ohne andere Kinder aufwuchsen. Einzelhäuser mit kleinen Gärten, bewohnt von Rentnern oder jungen Paaren. Dazwischen er mit seiner Mutter und dem ständig abwesenden Vater, ohne Möglichkeiten, sich auch nur rudimentäre Kampftechniken anzueignen.

Dies hatte er Jahre später nachgeholt, als er bereits Mitte zwanzig war. Unweit seiner WG hatte eine billige Karate-Schule aufgemacht. Dort brachte er es zu diversen Gürteln und schloss erst mit dem Training ab, als er das Gefühl hatte, sich bei Spaziergängen im Dunkeln nicht mehr fürchten zu müssen. Nie war er in die Verlegenheit gekommen, seine neuen körperlichen Fähigkeiten jenseits der Matte zu testen. Jetzt saß er zusammen mit vier Frauen, deren Gesichter er kaum zuzuordnen vermochte, in einer kleinen Kneipe am Waldrand und wartete auf die Klassenkameraden von einst, die da noch kommen sollten. Er, der zusammen mit Janowic der erklärte Fußabtreter der Klasse gewesen war. Der Oberlooser.

Milan hieß sein persönlicher Albtraum aus Kindertagen, Alexander Milan. Ein kleiner Kerl, anderthalb Kopf kleiner vielleicht als Ralf. Aber drahtig. Und schnell. Es brauchte keinen Grund, um von Milan eine Kopfnuss zu ernten. Es reichte völlig, ihm den Rücken zuzukehren. Wenn Milan von vorn kam und Anstalten machte, ihn zu schupsen, ahnte Ralf bereits ein anderes Kind hinter sich knieend, über das er unweigerlich stolpert würde.

Ralf hatte sich strategisch auf einer Eckbank platziert. Während die Frauen sich über Belanglosigkeiten austauschten, beobachtete er gespannt die Kneipentür. Janowic sollte noch kommen, bei Milan war es unsicher. Die Frau, die das Treffen organisierte, hatte nur dessen Anrufbeantworter erwischt. Mit Janowic würde er lediglich abgleichen, wer es inzwischen weiter gebracht hatte. Eine kleine Genugtuung bestenfalls. Aber Milan und dessen Kumpanen würde er provozieren, so viel war klar. Er würde sie dazu bringen, auf ihn einzuschlagen. Um dann ihre verdutzten Gesichter zu sehen, wenn er sich zum ersten Mal wehrte.

Was wäre ein guter Grund für eine Prügelei? Sollte er Milan ein Bier über die Hose gießen, ups, entschuldige bitte? Ihn mit Sprüchen lächerlich machen? Das wäre alles zu offensichtlich. Ralf nahm einen Schluck Guinness und betrachtete die einstigen Klassenschönheiten. Drei der vier waren mittlerweile geschieden, die vierte klang jedoch auch nicht zu euphorisch in Bezug auf ihre Ehe. Vielleicht könnte er Milan dazu bringen, ein Foto seiner Frau oder Freundin zu zeigen, um dann freundlich zu kommentieren: „Sie hat bestimmt Charakter.“ Allerdings bezweifelte er, dass Milan das verstehen würde. Nein, der Klassenhellste war er nicht gewesen.

Als Milan endlich kam, waren die anderen – viel mehr waren sie nicht geworden – bereits nahe daran zu gehen. Das Gesicht immer noch schmal und kantig. Ein helles Sportsakko lässig über die Schulter geworfen. Erneut begann das Rätselraten, wer nun wer sei. Ein paar Erinnerungen wurden ausgetauscht. Ralf hielt sich dabei zurück. Milan beachtete ihn kaum. Erst, als die Sprache auf Ralf kam und eine der Frauen Milan an den Prügelknaben aus der zweiten Reihe erinnerte, begann sich in Milans Gesicht etwas zu regen. Ein feines Lächeln glitt über sein Gesicht.

Die anderen tauschten Anekdoten aus. Ralf spielte dabei keine wesentliche Rolle, er hatte anscheinend kaum bleibenden Eindruck hinterlassen. Ab und zu warf er kleine, spöttische Bemerkungen in Richtung Milan, die jedoch von den anderen weitestgehend ignoriert wurden. Es bot sich keine passende Gelegenheit, von dem Maklerbüro zu erzählen, das er mit den Jahren zum führenden Unternehmen am Platz aufgebaut hatte. Die Fotos seines Besitzes blieben in der Jackentasche.

Gerade stellte er sich vor, wie er Milans Gesicht mit einer ausgeklügelten Kata verschiedener Uchi-Waza-Techniken bearbeitete, als das Gespräch auf Janowic kam. Milan hatte von ihm gehört. Janowic hatte sich bis zum Abteilungsleiter eines kleinen Unternehmens für Halbleiterelektronik heraufgearbeitet. Vor ein paar Tagen hatten sie ihn auf dem Dachboden seines Hauses gefunden, erhängt. Ohne Abschiedsbrief, ohne erkennbaren Grund. Milan wirkte nachdenklich, als er das erzählte.

Mit einem Mal war Ralf nicht mehr danach, sich zu prügeln. Wie sollte man auf jemanden einschlagen, der eine solche Geschichte erzählte. Müde starrte er in sein halb leeres Bierglas. Kippte es ein wenig und lies es auf dem Rand kreisen. Kippte es schließlich um, so dass das Bier auf Milans helle Stoffhose floss.

„Ups, entschuldige.“
Milan zuckte mit den Schultern und wischte sich das Bier mit einem Taschentuch ab.
„Du warst glaube ich damals schon so ein Tollpatsch. Oder verwechsle ich dich?“
Ralf nickte, ärgerte sich aber schon im nächsten Moment über das Zugeständnis.
„Was machst Du eigentlich heute?“
„Ich arbeite inzwischen als Makler. Habe ein ganz gut laufendes Büro in Poppenbüttel. Und du?“
Alexander Milan bearbeitete seine Hose, ohne Ralf eines weiteren Blickes zu würdigen.
„Habe eine Zeitlang Sport an der Uni studiert. Aber das war nichts für mich. Bin dann nach Indien gegangen und habe bei einem Meister Kalarippayat gelernt.“
„Meditation? Du?“
„Es ist mehr. Yoga. Heilkunde. Kampfkunst. Ich unterrichte diese Kampftechniken mittlerweile selbst, in einer Sportschule in Harburg, die ich aufgemacht habe.“
Ralf nickte und versuchte seine Gedanken zu ordnen.
Schließlich fragte er: „Willst Du noch ein Bier?“

 

Hallo Ennka,

es wird viel zu viel erinnert und zu wenig aus der Erinnerung ausgebrochen und gegen den herkömmlichen Trott gehandelt und gegen den Strich gebürstet. Nichts gegen das Erinnern, wenn es sich lohnt, wenn es Sinn hat. Aber hier... .Selbst das spannende Leben des einstigen Außenseiters versinkt am Ende in lauwarmer Cervisia.
Leben ist tödlich, wir wissen es, aber davor ist es bunt und vielfältig...
Gruß Naso

 

Hallo Ennka,

Lebenswege sind verschieden, so zeigst du es hier auch auf. Der einstige Klassenalbtraum hätte über die Karateambitionen vielleicht gelacht, aber der Weg scheint mir, so gern ich solche Geschichten auch lese, und so positiv ich es finde, dass du nicht in Extreme gehst, hier nicht ganz glaubwürdig. Vielleicht erwarte ich aber auch zu viel von einer solchen Geschichte. Was mich enttäuschte, war die ausgelassene Möglichkeit eines Dialogs, der von Milan ausgehen könnte. Die Feststellung "Du warst glaube ich schon damals so ein Tollpatsch" passt zwar in sofern, dass Milan die Ruhe behält, sie passt aber wieder nicht, weil ich sie zu erkenntnisarm für jemanden finde, der sich mit Kalarippayat tiefer beschäftigt hat. Und da diese indische Kampf- und Heilkunst nun nicht so unbedingt zum Allgemeinwissen gehört, hätte er vielleicht sogar eher nachgefragt als verbessert, wenn er merkt, dass sein Gegenüber immerhin eine Vorstellung hat, worum es dabei geht.
Zum Ende hin scheint mir dieses gleichzeitig frustrierte Auslaufen der Geschichte unter diesem Aspekt zu schnell zu gehen. Es treibt doch niemand.
Natürlich kann ich mir vorstellen, dass von solcher Dialogmöglichkeit Protagonisten eines wahren Lebens in solchen Momenten überfordert sind. Erst recht, wenn sie sich ja ganz etwas Anderes vorgenommen haben. Insofern ist es auch wieder realistisch. Aber darim steckt eben auch das Gefühl seichten Plätscherns der Geschichte, das Claudio Nase wohl empfunden hat.
Zwei Details:

Dies hatte er Jahre später nachgeholt, als er bereits Mitte zwanzig war und unweit seiner WG eine billige Karate-Schule aufmachte.
Natürlich ist klar, was du meinst, aber "er" bezieht sich grammatisch auch auf "aufmachte" und selbst hat Ralf die Karateschule sicher nicht aufgemacht.
Wenn Milan von vorn kam und Anstalten machte, ihn zu schupsen, konnte Ralf sicher sein, hinter sich kniee ein anderes Kind, über das er unweigerlich stolpert würde.
Auch hier ist die Perspektive ungenau, mein erster Gedanke war "ihm" statt "sich", aber so leicht ist es leider nicht (auch wenn es in dieser Perspektive die richtige Form wäre). Du verwendest "sich" da ja das andere Kind nicht hinter Milan kniet, soweit ist der Gedanke richtig. Grammatisch korrekt wäre es dann in der Form "wusste Ralf ein anderes Kind hinter sich knieend, über ..."
Solltest du also noch mal dran puzzlen.

Lieben Gruß
sim

 

Hallo Sim,

danke für deine ausführlichen, konstruktiven Bemerkungen zum Text. Die Idee, über Milan tiefer ins Thema Kalarippayat einzusteigen, war mir tatsächlich nicht gekommen. Was zum einen sicher daran liegt, dass ich extrem nah am Protagonisten Ralf geschrieben habe, und dieser an einer Diskussion über indische Kampfkunst (während ich ihn erfand) nur sehr indirekt interessiert war. Zum anderen aber vor allem deswegen, weil all die mir bekannten Freaks mit Hang zur östlichen Philosophie und/oder Lehrbegegnungen in Indien erstaunlich selten erkenntnistiefe Reaktionen auf alltägliche Ereignisse (wie einem umgekippten Bier auf der eigenen Hose) parat haben. Da scheint mir nicht nur Ralf, sondern auch Alexander überfordert. Aber Recht hast du schon: wo soll man von einem besseren Leben träumen, wenn nicht in der Literatur?

Zum ersten Detail: kein Autor kann seinen eigenen Text lesen wie ein Fremder. Danke für diesen Hinweis bezüglich der Doppeldeutigkeit der Satzkonstruktion. Wird geändert.

Zum zweiten: du erwischt mich kalt. Du bist nicht der erste, der mir vorwirft, mit dem Reflexivpronomen Schindluder zu treiben. Hatte es bis jetzt wieder erfolgreich verdrängt. Hast Du zufällig einen Link parat, der sich mit diesem Phänomen auseinander setzt? Bisher schienen mir Konstruktionen wie "vor sich", "hinter sich", "neben sich" völlig legal, wenn damit die Perspektive des Subjekts bezeichnet wird. Oder geht das bloß im Plural: "Sie hielten plötzlich ihren Schritt an, weil sie vor sich einen Auflauf bemerkten"? Meine Grammatik spricht in diesem Zusammenhang von Präpositionalkasus. Gebe Dir aber insofern Recht, als "kniete hinter sich" sehr eigen klingt und eine enorme Gelenkigkeit suggeriert. Wie gesagt: wenn du zu dem Thema irgendwo etwas Erhellendes gefunden hast, würde ich mich über einen Hinweis freuen.

Liebe Grüße,
Ennka

 

Hallo Claudio Naso,

nachdem mich dein Kommentar postwendend zu deiner letzten Geschichte getrieben hatte, wollte ich mich hier an dieser Stelle zumindest noch einmal dafür bedanken, dass du meine doch relativ lange Geschichte nicht nur gelesen hast, sondern auch die Mühe gemacht hast, deine Kritik in Worte zu fassen.

Du hast natürlich Recht: unterm Strich passiert bei diesem Klassentreffen so gut wie gar nichts. Alle wüsten Action-Einlagen finden höchstens im Kopf statt und am Ende ist nicht klar, ob sich Ralf nun versöhnen will oder nur klein bei gibt. Von seiner ursprünglichen Ambition, Milan gehörig zu vermöbeln, ist er nach Abwägung seiner Chancen schnell wieder abgekommen. Damit zeichnet er sich nicht als Held im klassischen Sinne aus. Das Leben tobt anderswo.

Nicht ganz klar wurde mir, ob Deine Kritik sich auf den Text oder den Textinhalt bezog. Kritisierst du Ralf, weil er aus der Erinnerung nicht raus kommt, oder fandest du einfach die Geschichte tödlich langweilig konstruiert? Oder ergibt sich für dich das eine folgerichtig aus dem anderen?

Herzliche Grüße,
Ennka

 

Hallo Ennka,

ich wollte nicht so einseitig sein und am 'Pool' bleiben... :D

So, Klassentreffen und alte Rechnungen sind auch keine besonders spannende Themen, nichtsdestotrotz war ich in der Geschichte ab einem bestimmten Punkt drin. Nämlich ab da, wo's eigentlich 'losgeht'. ;)

Zwei Sachen haben mich gestört. Erstens die Lebensgeschichte des Erzählers: Es gibt jedoch viele, die sowas wie Hintergründe bei einer Geschichte verlangen. Manchmal mögen sie auch nötig sein. Hier kann man drauf verzichten: Das, was eigentlich erzählt wird (ehemaliger Klassentrottel auf Klassentreffen), kennt jeder und jeder kann sich den Hintergrund auch selbst denken. (Die Warum-bin-ich-hier-Fragen erübrigen sich dabei auch.)

Zweitens: Der Text wäre prägnanter, menschlicher, hätte Milan nicht auch eine Kampfausbildung absolviert. Dadurch wird die Geschichte von Janowic blass und unerheblich, die eigentlich das Potential hätte für einen richtig nachdenklichen Schluß.

Äh, drittens: Ich kenn bis jetzt zwar nur zwei Texte von dir, also könnte ich da falsch liegen, aber Klassentreffen, Grillparty & co. eignen sich als Basisszenarien jetzt nicht grade dazu, die Leser in den Bann zu ziehen. Oder man macht was ganz anderes draus. Bei den beiden begnügst du dich aber, Typen zu erzählen - da geht mehr, denke ich.

Zu "Erstens": Streich mal die folgenden Abschnitte und lies dann die Geschichte, vllt. gefällt's dir.:)


Warum war er hierher gekommen? War es die Neugier zu erfahren, was aus den anderen Verlierern und den wenigen Klassenlieblingen geworden war? Um nach den Jahren der Niederlage über die mühselig errungenen Erfolge Rechenschaft abzulegen? Letztlich war es profaner, dachte Ralf, und starrte auf die Schaumkrone seines Guinness.

Lange hatte er gebraucht, bis er begriff, das Prinzip des Sich Wehrens gelte auch für ihn. Seine halbherzigen Luftschläge, die den unzähligen Angreifern auf dem Pausenhof gegolten hatten, waren von der Klassen seinerzeit nur belächelt worden. Er hatte nie kämpfen gelernt.

Er war ein Einzelkind, eines von jenen, die in einer Umgebung ohne andere Kinder aufwuchsen. Einzelhäuser mit kleinen Gärten, bewohnt von Rentnern oder jungen Paaren. Dazwischen er mit seiner Mutter und dem ständig abwesenden Vater, ohne Möglichkeiten, sich auch nur rudimentäre Kampftechniken anzueignen.

Dies hatte er Jahre später nachgeholt, als er bereits Mitte zwanzig war. Unweit seiner WG hatte eine billige Karate-Schule aufgemacht. Dort brachte er es zu diversen Gürteln und schloss erst mit dem Training ab, als er das Gefühl hatte, sich bei Spaziergängen im Dunkeln nicht mehr fürchten zu müssen. Nie war er in die Verlegenheit gekommen, seine neuen körperlichen Fähigkeiten jenseits der Matte zu testen. Jetzt saß er zusammen mit vier Frauen, deren Gesichter er kaum zuzuordnen vermochte, in einer kleinen Kneipe am Waldrand und wartete auf die Klassenkameraden von einst, die da noch kommen sollten.


Gruß
Kasimir

 

Hallo Kasimir,

nettes Leseerlebnis, die Geschichte in der gekürzten Version. Was den ersten Absatz angeht: hat mich selbst überrascht, dass der noch drin war. Rhetorische Fragen streiche ich normalerweise auch immer an, bzw. weg. Ich glaube mich zu erinnern, dass der ursprüngliche Anfang noch furchtbarer war und mir die Fragen zumindest als Steigerung vorkamen. (Laue Ausrede, ich weiß...)

Nichts desto trotz erzählst du mit der Kurzversion eine andere Geschichte, als ich sie im Sinn hatte. Mir ging es um diese unterdrückte Wut, die all die Jahre Ralfs Leben bestimmt hat. Da gehört die Karateschule als klarste Auswirkung der Schulerfahrung existenziell dazu. Diese aber macht nur Sinn, wenn der Leser weiß, warum die Karate-Schule für Ralf einen Wendepunkt darstellt.

Der zweite Topos, um den herum ich die Geschichte konstruiert habe, war der der Erwartungshaltung: wenn Ralf sich geändert hat, warum sollte es Milan nicht auch tun? Hier eben nicht den Raufbold von einst zu zeigen, sondern jemanden, der nach Indien gegangen ist und sich dort mit östlicher Philosophie beschäftigt und diese nach Deutschland mitgebracht hat, erschien mir als schöner Bruch der Erwartungshaltung.

Zugegeben, ich benutze Milans Kampfkunst-Erfahrungen als Pointe - und weiß wohl, dass Du Pointen nicht magst. In dieser Geschichte stellt sie aber nicht den Schluss-Paukenschlag, sondern zeigt lediglich auf, dass Ralf letztlich an genau dem Punkt steht, an dem er schon in seiner Schulzeit stand: er gibt klein bei, weil er merkt, dass Milan ihm körperlich überlegen ist. Nichts hat sich geändert, obwohl Ralf all die Jahre mit dem Gefühl herumgelaufen ist, nun endlich kein Looser mehr zu sein. Sicherlich kein übermäßig lebensfroher Schluss, aber das wäre die Konzentration auf Janowic auch nicht gewesen.

Zu deinem dritten Punkt: Latürnich ginge in diesen Texten mehr. Im Augenblick bin ich aber dabei, an meiner Subtilität zu feilen ;) Oder, um es einmal ohne Aikido zu probieren: Kann sein, dass ich mich an die großen Themen, die Reißer, erst einmal heranarbeiten muss, sozusagen im Selbstversuch. Geht mehr? Ich bin nicht sicher, nicht bei meiner Weltsicht. Natürlich könnte ich es wie Woody mit einer Prise Humor versuchen (s. Mein Zweibeiner ist rollig), um das Unerträgliche des Alltäglichen unterhaltsam zu machen. Aber es bleibt das Gefühl, dass auch Woody viel lieber Filme wie Bergman machen würde, und er sich mit seinen "lustigen" Filmen immer wieder ein Stück weit verkauft. Und da ich nicht vom Schreiben leben muss, kann ich zumindest vorsichtig auf meinem Weg weitertapsen.

Allerdings würde mich auch hier interessieren, was Du Dir eigentlich unter diesem "mehr" vorstellst und welche Richtung Du im Hinterkopf hattest.

Gruß,
Ennka

 

Hallo Ennka,
ich habe mir mal die erste Geschichte geschnappt, die mir von dir unter die Finger kam und fühle mich ganz wohl dabei.
Der erste Teil (ich unterteile mal für mich) ist unterhaltsam und gut nachvollziehbar, die Unterschiedlichkeit in dem Klassengefüge hat fast jeder erlebt. Die einen Gewinner, die anderen nicht. Auch Rachegedanken sind wohl nichts seltenes, auch für einen Kampfkunsterfahrenen (zum fernöstlichen kämpfen gehört ja meist versöhnliche Philosophie).
So wartet der Protagonist auf die Möglichkeit zurückzuschlagen und postiert sich taktisch, legt sich Bemerkungen zurecht. Sehr typisch.
Die Wendung mit dem Tod des anderen Losers machte mich betroffen. Gut fand ich da, das du nichts anderes über ihn schreibst. Das du das offen lässt.
Der Schluss wirkt zu konstruiert, nachdem du Ralf gut beschrieben hast, fehlt der Figur von Milan etwas. Diese Frage ob Ralf immer noch so tollpatschig ist, die er unwillkürlich bejaht, finde ich hingegen sehr gut gesetzt, eine gute Darstellung der möglichen Dynamik eines Gesprächs, das einen Gesprächspartner überrollen kann.
Liebe Grüße
Kubus

 

Hallo Kubus,

keine klassische feel-goog-Story, umso schöner, dass du dich zumindest "ganz wohl dabei" gefühlt hast. Danke übrigens für dein Interesse.

Was nun Milan angeht: ich habe die Geschichte (wie die meisten meiner Storys) streng subjektiv gehalten. Ich denke auch, dass es die Erzählperspektive sprengen würde, zu stark auf Milan einzugehen. Was möglich wäre - und ich denke, das war dein Ansatz, ist Ralf seinen Gegner während des Treffens noch genauer beobachten zu lassen: Was gibt Milan von sich? Wie wirkt er auf Ralf? Wie wirkt er auf die anderen? Vielleicht macht es wirklich Sinn, auf diese Art ein wenig mehr Ausgeglichenheit zwischen den Charakteren herzustellen.

Die Bemerkung "überkonstruiert" fand ich von je her schwierig. Was meinst du damit? An den Haaren herbeigezogen? Für mich war ausschlaggebend, dass ich in Milans Vita einen totalen Bruch einbauen wollte. Das ist das eigentliche Zentrum der Geschichte: der Raudi von einst - den Ralf als Bild immer noch sieht - hat inzwischen seinen Trip nach Indien hinter sich, hat sich mit der östlichen Philosophie beschäftigt und quasi nebenbei sein eigenes Terrain - nämlich das Prügeln - auf eine höhere Ebene gehoben, indem er ein Kampfsportzentrum aufmachte. Damit sind natürlich alle Rachephantasien Ralfs ad absurdum geführt. Er spürt, er wird wieder den Kürzeren ziehen und benimmt sich so, wie er sich immer benommen hat: er gibt klein bei.

Vielleicht würde es helfen, wenn du noch einmal kurz erklärst, warum genau du das Ende für "zu konstruiert" hältst. Denn im Grunde ist es ja genau jener Wechsel zu Milan und seiner Vita, der den Schluss ausmacht.

Liebe Grüße und noch einmal herzlichen Dank fürs Lesen,
Ennka

 

Hallo Ennka,
die Geschichte hat mir gefallen, ich fühle mich in Geschichten wohl, die ich gut geschrieben finde. Das meine ich.
Überkonstruiert finde ich schon zuviel gesagt, das ist schon eine gute Geschichte, die im ganzen bei mir einen stimmigen Eindruck hinterlässt.
Das Ende besteht aus dem Dialog von Milan und Ralf und wirkt insofern auf mich ein bisschen hölzern, als das mir das Bild, dass du von Milan machst, unvollständig scheint. Zum einen wirkt er nachdenklich, während er von dem Toten erzählt, das macht ihn sympathisch. Nachdem Milan von den Klassenkameradinnen an Ralf erinnert wird lächelt Milan. Das suggeriert mir wiederum, das da jemand ist, der sich noch an seinen vergangenen Grausamkeiten erfreuen kann.
Dann nennt er Ralf den Tollpatsch, gibt vor ihn nicht zu kennen.
Das beides passt nicht zusammen. Die verschiedenen Seiten des Menschen passen ja manchmal auch nicht, aber dem Bruch, der zum Schluss im Charakter von Milan ersichtlich wird hätte nach meiner Meinung mehr Tiefe folgen müssen. Da wirkt das Ende lapidar.

Liebe Grüße,
Kubus

 

Hallo Kubus,

danke für die Rückmeldung. Ich verstehe, was du meinst. Werde noch einmal darüber nachgrübeln, ob und wie ich das ändern kann.

Einen schönen Sonntag,
Ennka

 

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