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Kleine Loana
"Du nervst!", schrie die kleine Loana ihren jüngeren Bruder mit einem weinerlich-klingenden Unterton in ihrer Stimme an und riss den gelben Spielzeugkran aus seinen Händen. Sie wusste, dass dieser ihm gehörte, sie wusste auch, dass er diesen Kran liebte. So waren keine fünf Sekunden verstrichen und sein zahnloser, rosaroter Schlund öffnete sich. Es entkam ihm ein langer, verzeifelter und ohrenbetäubender Ton.
"Hey!", rief ihre Mutter. Wieder dieses wütende, boshafte "Hey!", nicht wie jenes, mit dem sie all die Männer begrüsste, die immer zu Besuch kamen und der kleinen Loana durch das Haar wuschelten. "Hey!". Das Geschrei ihres Bruders wurde lauter.
Loana blickte hoch und sah ihre Mutter über sich stehen, die Wangen fast so rot wie das Sofa im Wohnzimmer. "Jetzt gibst Du Felix auf der Stelle sein Spielzeug zurück!", forderte ihre Mutter. Loana sprach kein Wort, blickte verstohlen nach unten.
"Loana! Du hast mich verstanden, ja?", drückte sie mit einer noch lauteren Stimme nach. Auch jetzt zeigte Loana keine Reaktion. Sie horchte den Vögeln, die sie nun ganz deutlich hörte, denn ihre Mutter schwieg in ihrem Zorn und Felix hatte längst aufgehört zu weinen.
"Loana!"
Ein Zischen, dem Hieb einer Peitsche gleich, oder vielleicht auch nur jenem Geräusch, das ihr Federballschläger machte, wenn sie ganz stark gegen den Ball schlug. Sie spürte einen harten Knall an ihrem Hinterkopf, dann Finger, die sich in den Haaren am Nacken verhedderten und kurz, dafür schmerzvoll daran rüttelten.
Ihre Mutter nahm den kleinen Felix in den Arm und schritt schnellen Ganges durch den Garten, bis sie in der Balkontür des Hauses verschwand.
Loana weinte nicht. Sie fühlte den Schmerz an ihrem Nacken und das Gefühl, missverstanden worden zu sein. Doch sie weinte nicht, denn sie wusste, dass Erwachsene solche Dinge nun einmal tun.
Sie erinnerte sich an einen Film, den sie gesehen hatte, als einer der Männer ihrer Mutter vor dem Fernseher eingeschlafen war und sie unbemerkt das Leben der Erwachsenen mitbekommen hatte. Sie erinnerte sich daran, wie ein angstvoller junger Mann erschossen wurde, weil ein anderer einen Glasstein haben wollte. Sie weinte nicht, weil sie die Erwachsenen verstand.