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Kleiner Junge auf großer Fahrt
Rolf und Sabine sehen zu, wie Mama und Papa sich umarmen. Dann nimmt Mama die Kinder an die Hand und führt sie über das schmale, wackelige Brett vom Schiff herunter. Eigentlich hat Rolf immer etwas Angst, über dieses Brett zu gehen, auch wenn auf beiden Seiten Seile zum Festhalten sind.
Aber heute ist Rolf nicht ängstlich. Nur traurig. Weil Papas Urlaub zu Ende ist.
Papa ist Kapitän. Drei Monate war er zu Hause. Das war eine tolle Zeit. Er und Mama waren mit den Kindern im Zoo und im Kino und im Schwimmbad und auf dem Spielplatz im Park. Stundenlang hat Papa Bilderbücher vorgelesen und Rolf und Sabine auf seinem Rücken reiten lassen. Und von seinen Abenteuern in fremden Ländern erzählt. Zum Beispiel, wie er mit Indianern gekämpft hat. Und als er die Narbe an seinem Arm gezeigt hat, wo er mal von einem Hai angegriffen wurde, haben sogar Rolfs und Sabines Freunde gestaunt.
Obwohl Mama manchmal gelacht und gesagt hat, daß man einem Seemann nicht alles glauben darf.
Jetzt ist die tolle Zeit vorbei. Papa muß wieder auf große Fahrt. Fast ein ganzes Jahr wird Rolf ihn nicht sehen. Wenn Papa wiederkommt, geht Rolf schon längst zur Schule.
Vom Kai aus winken sie Papa noch zu. Papa winkt zurück. Dann verschwindet er im Schiff, wo viel Arbeit auf ihn wartet.
Rolf ist nach Weinen zumute. Aber er ist sehr tapfer. Er sieht etwas feuchtes in Sabines Augen glänzen, und er überlegt, ob seine Schwester vielleicht auch sehr tapfer ist.
Sie gehen zum Auto. Das steht ein Stückchen entfert, hinter dem großen Schuppen. Unterwegs faßt Rolf einen Entschluß. Er trödelt absichtlich, und als Mama und Sabine hinter der Ecke des Schuppens verschwinden, folgt er ihnen nicht.
Sondern läuft schnell zurück zum Schiff.
Zum Glück steht gerade niemand an der Reling. Rolf nimmt seinen Mut zusammen und huscht über das schmale, wackelige Brett an Bord.
Die Tür, die ins Innere des Schiffs führt, steht offen. Rolf geht hinein – gerade rechtzeitig, um nicht gesehen zu werden. Schon kommen zwei Seeleute und ziehen die Gangway – so nennen sie das schmale, wackelige Brett – an Bord. Selbst wenn er wollte, könnte Rolf jetzt nicht wieder zurück zu Mama.
Er ist sehr aufgeregt.
An den Weg zu Papas Kabine erinnert er sich nur ungefähr. In den engen Gängen mit den vielen Türen ist es ganz schön schwierig, sich zurechtzufinden. Aber da ist schon die steile Treppe, die er hinaufsteigen muß. Von hier ist es nicht mehr weit.
Endlich hat er die richtige Tür gefunden. Sie ist nicht abgeschlossen.
Vorsichtig schleicht er sich in die leere Kabine.
Er hört ein leises Geräusch. Das sind die Schiffsmotoren. Er steigt auf die Sitzecke und sieht durch das runde Fenster. Das Schiff bewegt sich schon!
Lange steht Rolf so am Fenster und sieht zu, wie das Land vorbeigleitet. Zuerst die Stadt mit ihren Häusern und Autos. Dann die Bäume und Felder außerhalb der Stadt. Manchmal taucht ein Bauernhof auf. Oder eine Herde Schafe, die auf dem Deich grast.
Der Fluß, auf dem das Schiff dem Meer entgegen fährt, wird immer breiter. Das Schiff beginnt, sich auf und ab zu bewegen. Hoffentlich wird das Schaukeln draußen auf dem Meer nicht zu heftig. Dabei wird Rolf nämlich immer seekrank.
Aber er wird sich schon daran gewöhnen. Schließlich ist er jetzt ja irgendwie auch ein Seemann.
Zuerst soll es nach Südamerika gehen. Ob es Rolf da überhaupt gefallen wird? Egal. Solange er nur Papa jeden Tag sehen kann. Der wird nachher vielleicht Augen machen!
Dann muß Rolf daran denken, daß er ja nun Mama und Sabine fast ein Jahr lang nicht sehen kann. Das macht ihn wieder traurig.
Er hält das Warten nicht mehr aus und macht sich auf die Suche nach Papa.
Die Seeleute auf dem Gang sehen ihn überrascht an. Aber sie sprechen eine fremde Sprache, die Rolf nicht versteht. Er fühlt sich sehr allein.
Einer der Männer nimmt Rolfs Hand und bringt den Jungen zur Brücke. Das ist der Raum, von dem aus das Schiff gesteuert wird.
Da steht ja auch Papa!
„Du meine Güte, Rolf!“ , ruft er erschrocken. Dann guckt er böse. Zum Schluß nimmt er Rolf auf den Arm und drückt ihn ganz fest.
„Jetzt bleib’ ich für immer bei dir“, sagt Rolf.
Leider erklärt Papa ihm, daß das nicht geht. Nur noch ein paar Minuten darf Rolf als Hilfskapitän – mit Papas Mütze, die ihm dauernd ins Gesicht rutscht – helfen, das Schiff zu steuern. Dann muß er sich endgültig von Papa verabschieden.
Der Lotse, der nun von einem kleineren Schiff abgeholt wird, nimmt Rolf mit an Land. In der Lotsenstation wartet Rolf darauf, daß Mama kommt, um ihn abzuholen. In der Zwischenzeit erklären ihm die Lotsen ihre Arbeit. Sie kennen sich auf diesem Fluß besser aus als die Kapitäne, die ja immer wieder andere Häfen ansteuern. Darum helfen sie ihnen, den Weg zum Meer zu finden.
„Also sind Sie ein Hilfskapitän“, sagt Rolf zu einem der Männer. „So wie ich vorhin.“
„Ja, genau“, sagt der Lotse und lacht.
Es ist schon spät, als Mama endlich ankommt. Trotzdem hat sie Sabine mitgebracht. Alle drei sind sehr froh, daß sie sich wiederhaben.
Auf der Rückfahrt im Auto denkt Rolf an Papa, der jetzt draußen auf dem Meer ist. Vielleicht wird es doch nicht so lange dauern, bis sie sich wiedersehen. Papa will versuchen, zu Rolfs Einschulung ein paar Tage Sonderurlaub zu bekommen. Dann kann er mit dem Flugzeug nach Hause kommen.
Überhaupt ist es wohl besser, daß Rolf jetzt doch kein Seemann geworden ist. Wer weiß, ob sich sein Magen wirklich an das Schaukeln gewöhnt hätte.