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Kleiner Junge auf großer Fahrt

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22.12.2002
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Kleiner Junge auf großer Fahrt

Rolf und Sabine sehen zu, wie Mama und Papa sich umarmen. Dann nimmt Mama die Kinder an die Hand und führt sie über das schmale, wackelige Brett vom Schiff herunter. Eigentlich hat Rolf immer etwas Angst, über dieses Brett zu gehen, auch wenn auf beiden Seiten Seile zum Festhalten sind.
Aber heute ist Rolf nicht ängstlich. Nur traurig. Weil Papas Urlaub zu Ende ist.
Papa ist Kapitän. Drei Monate war er zu Hause. Das war eine tolle Zeit. Er und Mama waren mit den Kindern im Zoo und im Kino und im Schwimmbad und auf dem Spielplatz im Park. Stundenlang hat Papa Bilderbücher vorgelesen und Rolf und Sabine auf seinem Rücken reiten lassen. Und von seinen Abenteuern in fremden Ländern erzählt. Zum Beispiel, wie er mit Indianern gekämpft hat. Und als er die Narbe an seinem Arm gezeigt hat, wo er mal von einem Hai angegriffen wurde, haben sogar Rolfs und Sabines Freunde gestaunt.
Obwohl Mama manchmal gelacht und gesagt hat, daß man einem Seemann nicht alles glauben darf.
Jetzt ist die tolle Zeit vorbei. Papa muß wieder auf große Fahrt. Fast ein ganzes Jahr wird Rolf ihn nicht sehen. Wenn Papa wiederkommt, geht Rolf schon längst zur Schule.
Vom Kai aus winken sie Papa noch zu. Papa winkt zurück. Dann verschwindet er im Schiff, wo viel Arbeit auf ihn wartet.
Rolf ist nach Weinen zumute. Aber er ist sehr tapfer. Er sieht etwas feuchtes in Sabines Augen glänzen, und er überlegt, ob seine Schwester vielleicht auch sehr tapfer ist.
Sie gehen zum Auto. Das steht ein Stückchen entfert, hinter dem großen Schuppen. Unterwegs faßt Rolf einen Entschluß. Er trödelt absichtlich, und als Mama und Sabine hinter der Ecke des Schuppens verschwinden, folgt er ihnen nicht.
Sondern läuft schnell zurück zum Schiff.
Zum Glück steht gerade niemand an der Reling. Rolf nimmt seinen Mut zusammen und huscht über das schmale, wackelige Brett an Bord.
Die Tür, die ins Innere des Schiffs führt, steht offen. Rolf geht hinein – gerade rechtzeitig, um nicht gesehen zu werden. Schon kommen zwei Seeleute und ziehen die Gangway – so nennen sie das schmale, wackelige Brett – an Bord. Selbst wenn er wollte, könnte Rolf jetzt nicht wieder zurück zu Mama.
Er ist sehr aufgeregt.
An den Weg zu Papas Kabine erinnert er sich nur ungefähr. In den engen Gängen mit den vielen Türen ist es ganz schön schwierig, sich zurechtzufinden. Aber da ist schon die steile Treppe, die er hinaufsteigen muß. Von hier ist es nicht mehr weit.
Endlich hat er die richtige Tür gefunden. Sie ist nicht abgeschlossen.
Vorsichtig schleicht er sich in die leere Kabine.
Er hört ein leises Geräusch. Das sind die Schiffsmotoren. Er steigt auf die Sitzecke und sieht durch das runde Fenster. Das Schiff bewegt sich schon!
Lange steht Rolf so am Fenster und sieht zu, wie das Land vorbeigleitet. Zuerst die Stadt mit ihren Häusern und Autos. Dann die Bäume und Felder außerhalb der Stadt. Manchmal taucht ein Bauernhof auf. Oder eine Herde Schafe, die auf dem Deich grast.
Der Fluß, auf dem das Schiff dem Meer entgegen fährt, wird immer breiter. Das Schiff beginnt, sich auf und ab zu bewegen. Hoffentlich wird das Schaukeln draußen auf dem Meer nicht zu heftig. Dabei wird Rolf nämlich immer seekrank.
Aber er wird sich schon daran gewöhnen. Schließlich ist er jetzt ja irgendwie auch ein Seemann.
Zuerst soll es nach Südamerika gehen. Ob es Rolf da überhaupt gefallen wird? Egal. Solange er nur Papa jeden Tag sehen kann. Der wird nachher vielleicht Augen machen!
Dann muß Rolf daran denken, daß er ja nun Mama und Sabine fast ein Jahr lang nicht sehen kann. Das macht ihn wieder traurig.
Er hält das Warten nicht mehr aus und macht sich auf die Suche nach Papa.
Die Seeleute auf dem Gang sehen ihn überrascht an. Aber sie sprechen eine fremde Sprache, die Rolf nicht versteht. Er fühlt sich sehr allein.
Einer der Männer nimmt Rolfs Hand und bringt den Jungen zur Brücke. Das ist der Raum, von dem aus das Schiff gesteuert wird.
Da steht ja auch Papa!
„Du meine Güte, Rolf!“ , ruft er erschrocken. Dann guckt er böse. Zum Schluß nimmt er Rolf auf den Arm und drückt ihn ganz fest.
„Jetzt bleib’ ich für immer bei dir“, sagt Rolf.
Leider erklärt Papa ihm, daß das nicht geht. Nur noch ein paar Minuten darf Rolf als Hilfskapitän – mit Papas Mütze, die ihm dauernd ins Gesicht rutscht – helfen, das Schiff zu steuern. Dann muß er sich endgültig von Papa verabschieden.
Der Lotse, der nun von einem kleineren Schiff abgeholt wird, nimmt Rolf mit an Land. In der Lotsenstation wartet Rolf darauf, daß Mama kommt, um ihn abzuholen. In der Zwischenzeit erklären ihm die Lotsen ihre Arbeit. Sie kennen sich auf diesem Fluß besser aus als die Kapitäne, die ja immer wieder andere Häfen ansteuern. Darum helfen sie ihnen, den Weg zum Meer zu finden.
„Also sind Sie ein Hilfskapitän“, sagt Rolf zu einem der Männer. „So wie ich vorhin.“
„Ja, genau“, sagt der Lotse und lacht.
Es ist schon spät, als Mama endlich ankommt. Trotzdem hat sie Sabine mitgebracht. Alle drei sind sehr froh, daß sie sich wiederhaben.
Auf der Rückfahrt im Auto denkt Rolf an Papa, der jetzt draußen auf dem Meer ist. Vielleicht wird es doch nicht so lange dauern, bis sie sich wiedersehen. Papa will versuchen, zu Rolfs Einschulung ein paar Tage Sonderurlaub zu bekommen. Dann kann er mit dem Flugzeug nach Hause kommen.
Überhaupt ist es wohl besser, daß Rolf jetzt doch kein Seemann geworden ist. Wer weiß, ob sich sein Magen wirklich an das Schaukeln gewöhnt hätte.

 

Hallo Roy,

ich kann mir den kleinen Seefahrer so richtig vorstellen - erst mutig, dann zeifelnd und doch froh wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Kinder wird das sicher ansprechen, weil sie ja ab einem gewissen Alter den Zwiespalt von Nestwärme und Selbständigkeit erleben.

Tschüß... Woltochinon

 

Hallo Roy!

Schön erzählt wie immer, und auch das Verhalten kann ich mir bei Kindern oft vorstellen, eben recht emotional und impulsiv :) Nicht die schlechteste Art zu leben...
Mir hats sehr gut gefallen, dass sich der Junge nicht einfach damit abfinden wollte, dass er seinen Vater so lang nicht mehr sieht. Und das das Ende dann noch Hoffnung macht... allerdings eine ernste Frage, die allerdings nicht wirklich zur Geschichte gehört: Werden Kinder echt seekrank? Ich dachte, dass man bis zu einem bestimmten Alter... so wie man ja keine Kinder findet (oder bilde ich mir das auch nur ein?), denen beim Karussellfahren schlecht wird... oder die Höhenangst ahben...
Na, eigentlich für den Text egal. :) Nix zu meckern sonst. (ausser vielleicht an der Unachtsamkeit der Mutter...)

schöne Grüße, Anne

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Woltochinon,

wieder einmal danke für das Lob.

Hallo Anne,

ebenfalls danke - und glaub' mir: Ich weiß zwar nicht mehr genau, wann ich das erste Mal seekrank war, aber ich war jedenfalls noch ziemlich klein. Mein Vater ist nämlich Kapitän, also durfte ich diese zweifelhafte Erfahrung recht früh machen ;-)

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy,

wie immer erzählst du sehr schön. Ich habe auch diese Geschichte gerne gelesen. Allerdings finde ich sie nur so, als für sich allein dastehende Geschichte (etwa für ein Bilderbuch), nicht ganz so gelungen. Ich könnte sie mir viel eher als einen Abschnitt aus einer längeren Erzählung über einen kleinen Kapitänssohn vorstellen, der lernen muß, mit den immer wiederkehrenden längeren Trennungen von seinem Vater zu leben. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es liegt daran, dass mir von Anfang an klar war, dass Rolf nicht wirklich mit auf große Fahrt gehen wird, d.h. da fehlte für mich die Spannung.... Verstehst Du, was ich meine?

@Maus
Und wie Kinder seekrank werden! Unsere Söhne leiden beide, wie mein Mann daran, dass sie jeweils zu Beginn der Segelsaison, beim ersten rauhen Wetter Rasmus opfern müssen. Nach ein, zwei Tagen auf dem Wasser gibt sich das dann. Ein Zeichen von Seekrankheit bei Kindern ist aber gnädigerweise auch, dass sie sehr müde werden und wenn sie Glück haben, einfach einschlafen und das Ganze schlafend überstehen...

Viele Grüße
Barbara

 

Hallo Barbara,

danke für Deine Antwort. Ich versteh' schon, was Du meinst. Allerdings könnte ich mir vorstellen, daß einem Kind nicht von vornherein klar ist, wie die Geschichte ausgeht. Auf jeden Fall werde ich mal über die Anregung nachdenken, eine längere Erzählung drum herum zu schreiben.

Schöne Grüße
Roy

 

Hallo Roy!

Mir gefällt die Geschichte ausgezeichnet! Ein kleiner Junge, der auf eigene Faust die große Welt entdecken will. Das sind die Geschichten, die ich schon als Kind am liebsten gelesen habe - wobei ich mich immer gefragt hab, warum nicht auch mal die Mädchen mutig sind und weglaufen oder Abenteuer bestehen!
Nur eins: Für meine erwachsene Sichtweise wäre es besser, wenn der Vater schon längst per Handy oder so von der Mutter über das Verschwinden des Sohnes informiert wäre und das Spiel erstmal eine Weile mitspielt, also so tut, als müsse Rolf jetzt wirklich ein Jahr an Bord bleiben. Zum einen wäre es glaubhafter (welche Mutter würde nicht zuerst den Mann anrufen, wenn ein Kind verlorengeht?), zum anderen könnte man das noch prima ausschmücken. Der Junge bekommt seine Kabine gezeigt, muss als Smutje in die Kombüse und Ähnliches. Viel Spaß beim Weiterspinnen! :)

Lieben Gruß

chaosqueen :queen:

 

:)
Hallo Roy
ich finde deine Geschichte sehr schön. Als Kind hatte ich eine Freundin, deren Vater auch Kapitän war. Sie hatte einen kleinen Bruder, und ich teilte jedesmal ihren Kummer, wenn der Vater wieder auf Große Fahrt mußte.
Meine Freundin hatte nun das große Glück, dass ihr Vater irgendwann als Hafenlotse an Land blieb.

Du hast eine schöne Srache, einfach und verständlich. Ich bin sicher, das die Kinder deine Geschichten lieben.
Einen netten Gruß von Barbara

 

Hallo Chaosqueen,

vielen Dank! Wenn Du lieber was über ein Mädchen lesen möchtest - wie wäre es mit "Sonja im Schneemannland?" Na gut, genug der Eigenwerbung ;-)

welche Mutter würde nicht zuerst den Mann anrufen, wenn ein Kind verlorengeht?
Ich weiß nicht, ob die Mutter, die plötzlich ihren Sohn nicht wiederfindet, so schnell auf die Idee kommen würde, er könne an Bord des abfahrenden Schiffes sein. Vielleicht würde sie ihn zuerst im Hafen suchen, wo es ja unzählige mögliche Verstecke gibt. Und den Vater anrufen und ihn gleich nach dem Abschied so sehr beunruhigen, wo er doch wahrscheinlich gar nicht helfen kann? Wer weiß...

Aber Deine Ideen für das Ausschmücken der Geschichte sind ziemlich gut. Vielleicht baue ich das irgendwann mal ein!

Hallo Barkai,

auch Dir vielen Dank! Ich hatte auch das Glück, daß mein Vater eine Weile an Land blieb (da war ich allerdings schon älter), aber inzwischen fährt er wieder.

Schöne Grüße
Roy

 

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