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Klischee

gox

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13.02.2004
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Klischee

Behütet wuchs ich auf, fast spießig. Samstags wurde in unserer gutbürgerlichen Postbeamtenfamilie gebadet und sonntags gab es einen Sonntagsbraten. Unsere Sofakissen hatten "Ohren", den berühmten Hausfrauenknick in der Mitte des Kissens. Feiertags tranken die Erwachsenen ein Glas lieblichen Weißweins.

Man möchte ausscheren, wenn die Richtung allzu gradlinig ist. Vermutlich ereignen sich deshalb so viele Verkehrsunfälle auf schnurgerader Fahrbahn. Und vielleicht endet mein Leben deswegen fast genau so. Ich bin ausgeschert.
Es war an einem Badesamstag, als ich meinem Vater unvermittelt sagte, dass ich Tänzer werden wollte. Er sah mich an. Lange. Dann fragte er sehr ruhig: „Hat dein Vater so etwas verdient?“
Ich antwortete ihm nicht. Ich konnte es nicht, meine Augen füllten sich mit Tränen. Als Vater das sah, wandte er sich ab. Sechs Wochen später habe ich, dank der Hilfe meiner Mutter, mit dem Ballettunterricht begonnen. Damals war das sehr ungewöhnlich. Auch Mutter fand meine Tanzbegeisterung seltsam, sie hätte mich lieber beim Fußballspielen gesehen, wie alle anderen Jungen. Aber sie liebte mich und sie unterstützte mich, wenngleich sie mich nicht verstand.
Als ich Balletttanz nicht nur als Hobby, sondern als Beruf betreiben wollte, zog Vater sich aus meinem Leben gänzlich zurück. Zum achtzehnten Geburtstag überreichte mir Mutter einen ‚gefütterten’ Briefumschlag zur Ausbildungsfinanzierung. Auf die beiliegende Glückwunschkarte hatte Vater einen Satz geschrieben:
„Ein Nagel, der hervorsteht, muss eingeschlagen werden.“

Alexander saß nackt auf dem Stein. Der Stein stand am Strand des Mittelmeers. Alexanders dünner, sehniger und gut trainierter Körper erholte sich in der untergehenden Sonne Sardiniens. Selten hat es einen größeren Tänzer als ihn gegeben. Der Ausdruck und das Gefühl, das durch seine tänzerische Darbietung zum Publikum floss, waren sensationell. Nur wenige schaffen es, durch federleichte Sensibilität der Bewegung Zuschauer in den Bann zu ziehen. Es gibt Tänzer, die jeden einzelnen Part des Tanzes beherrschen, sie sind die Handwerker unter den Tänzern. Alexander aber war der Virtuose und das Medium war sein Empfinden, das Funken auf die Zusehenden übertrug. Er trieb sein Gefühlsleben auf die Spitze.

Ich glaube fest daran, dass jedem Menschen ein bestimmter Lebensweg vorgezeichnet ist. Schicksal oder Karma. In meinem Leben ist das nachvollziehbar. Immer, wenn ich an einem Scheideweg stand, gab es jemanden, der mich nachhaltig beeinflusst hat oder der mir einfach nur half. Meine Mutter, die die Ballettstunden bezahlte. Mein Lehrer, der mir Talent bescheinigte und mich vorwärts trieb. Mein Mentor, der mir seelisch beistand und mich managte. Und vor allen Dingen Michael.
Michael war die Liebe meines Lebens. Das Klischee vom homosexuellen Tänzer mag ausgetreten sein, aber welcher Weg bleibt, wenn man ein Teil dieser Schublade ist? Ableugnen? Meine Seele sehnte sich danach, wie jede andere Seele geliebt zu werden. Für mich war unwichtig, dass ich diese Liebe von einem Mann geschenkt bekam. Ich wollte nicht klassifiziert werden.
Der weibliche Anteil an der Weltbevölkerung liegt knapp über fünfzig Prozent. Dieser Teil der Bevölkerung sollte eigentlich hinter mir und meiner Liebe stehen, dachte ich. Einen Mann zu lieben, sollte doch für Frauen verständlich sein. Mutter sah das anders. Sie konnte nicht verstehen, dass Michael mein Lebenspartner wurde, obwohl sie doch selbst einen Mann liebte. Sie fand die Liebe zu einem Mann eklig, zumindest, wenn ich ihn liebte. Dennoch stand sie unerschütterlich zu mir. Vater vermied den Kontakt. Unser nicht vorhandenes Verhältnis zueinander war für beide Seiten ein angenehm ruhendes Kriegsgebiet. Eines konnte ich meinen Eltern niemals vorwerfen: Mangel an Gradlinigkeit.

Alexanders Fels war ein Monolith. Der Stein war von stattlicher Größe. Alexander hatte sich vor vielen Jahren ein kleines Ferienhaus an der Küste Sardiniens gekauft. Nicht zuletzt, weil sein Lebensgefährte Michael den einsamen Strand mit dem schönen großen Stein so liebte.
Er saß allein, ganz an der Spitze des Monolithen, den die beiden Männer "Petra" getauft hatten. Petra, der Fels. Der Fels in der Brandung.
Alexander spürte seinen Körper gern. Für ihn war sein Körper das Instrument, auf dem er perfekt zu spielen vermochte. Um es zu beherrschen, hatte er Strapazen und Torturen auf sich genommen. Er setzte sein Innerstes in äußere Bewegung um.

Als Michaels Aidserkrankung offenbar wurde, war es für mich ebenfalls zu spät. Ich konnte ihm nicht einmal böse sein. Er starb zwei Jahre nach der Diagnose, umgeben von Schläuchen, Apparaten und meiner Liebe.
Ein Klischee ist eine Druckvorlage. Mein Leben war eine solche Druckvorlage. Tänzer, schwul, HIV-Positiv, aidskrank. In den letzten Monaten konnte ich nur noch ab und zu tanzen, wenn meine Kraft es zuließ. Mich schwächten eine Lungenentzündung, eine Grippe und mehrere schwere Rippenfellentzündungen. Auch eine Krankheit kann ein Klischee sein, das abgearbeitet werden muss. Ein hässliches Klischee. Derzeit schlage ich mich mit einem nicht minder hässlichen Hautkrebs herum.

Die Nacktheit seines Körper war eine Provokation in der ländlich-christlichen Gegend dieses Teils von Sardinien. Alexander hatte sich daher den frühen Abend ausgesucht, um die letzten Sonnenstrahlen auf seiner Haut zu spüren. Kein Einheimischer würde ihn unbekleidet zu Gesicht bekommen. Er wollte nicht provozieren, nicht hier und nicht jetzt. Nicht mehr. Das Meer roch nach Fisch und Salz. Wellen rollten in gleichmäßigem Tempo an den Strand. So wie sie es schon vor tausenden von Jahren getan hatten und vermutlich auch noch in den nächsten tausend Jahren tun würden. Alexander beneidete die Wellen und „Petra“.

Ich habe Vaters Lektion verstanden. Wovor er mich schützen wollte. Erstickende Normalität als Lebensgarantie. Obwohl ich jetzt verstehe, kann ich ihn dafür nicht lieben. Ich hätte so nicht leben mögen, wie er es wollte. Und mit meinem Weg, diesem vorgestempelten Weg, werde ich nicht leben können. Bis heute bin ich der Nagel, der nicht eingeschlagen werden möchte. Ich habe mein Leben in vollen Zügen, beinahe ekstatisch, genossen, für Tanz und für Michael. Könnte ich noch einmal wählen, ich würde nichts ändern. Nun, das stimmt nicht ganz - ich würde Präservative benutzen.

Alexander fühlte die Kälte des Steins. Die untergehende Sonne berührte die Wasseroberfläche. Der magere, muskulöse Körper Alexanders stand auf und reckte sich dem Horizont entgegen. Nacktheit, Körpergefühl und Bewegung bildeten eine Einheit. Er breitete seine Arme aus und sprang mit einer anmutigen Bewegung in das noch warme Wasser.
Eine junge Frau aus dem Dorf sah einen nackten Mann vom großen Felsen springen. Die perfekte, gleichmäßige Bewegung ließ ihren Blick für einen Moment bewundernd auf dem Körper des Mannes verharren. Er schwamm schnurgerade auf die untergehende Sonne zu. Sie schalt sich allerdings sofort für ihren Blick. Die Touristen glauben wohl, sich hier alles erlauben zu können, dachte sie und ging entrüstet ihres Weges.

 

Lieber gox!

Wäre ich jetzt das ganze Publikum eines großen Theatersaales, würde ich aufstehen und minutenlang applaudieren. :thumbsup:

Mehr Worte hab ich grad nicht, so beeindruckend ist Deine Geschichte. :)

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hello Häferl,
ich danke Dir herzlich, freut mich sehr, wenn mein Klischee Dich angesprochen hat! *nachdemfünfzehntenvorhangtiefverbeug* ;-)

Viele Grüsse vom gox

 

Hallo gox,

falls ich doch noch einen Platz im Theater bekäme, würde ich sicher auch klatschen. Gefallen haben mir in erster Linie die Sprache und die gelungenen Metaphern (zB das Ausscheren der Autos). Um (auf hohem Niveau) doch noch etwas zu kritisieren: Irgendwie verläuft die Geschichte genau so, wie diese Art Geschichte immer verläuft (der Titel ist da auch nicht wirklich eine Ausrede ;-)). Vor allem der Vater-Sohn-Konflikt kommt mir sehr bekannt vor und erinnert an Filme wie 'Billy Elliot'. Insgesamt fehlt eine wirkliche Überraschung - wie zum Beispiel ein positiver Schluss.

Aber wie gesagt: Vom rein technischen Standpunkt finde auch ich die Story toll!

Viele Grüsse
Sorontur

 

Hello Sorontur,

besten Dank für Lob und Kritik!
Allerdings muss ich zu meiner Ehrenrettung sagen, dass der Titel vor der Geschichte feststand. Es gibt hier in der Rubrik 'Autoren' eine Diskussion zum Thema Klischee und sim brachte als Beispiel den 'schwulen Baletttänzer' - das wollte ich einfach umsetzen. Mit positivem Ende wär's ja kein Klischee mehr! :D
Aber, so negativ finde ich den Schluß nicht, immerhin steht der Protagonist zu seinem Leben, wie er es geführt hat und er springt von seinem Lieblingsstein Petra. 'Petra' wäre übrigens noch meine favorisierte Titel-Alternative gewesen.

Viele Grüsse vom gox

 
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Hallo gox,

deine Geschichte gefällt mir auch sehr gut. Die Klischees darf man ja nicht bemängeln :D ; sehr schlau eingefädelt ;).

Ein paar Gedanken zu verschiedenen Textstellen:

Behütet wuchs ich auf, fast spießig. Samstags wurde in unserer gutbürgerlichen Postbeamtenfamilie gebadet und sonntags gab es einen Sonntagsbraten.

Spießig ist für mich auf keinen Fall die Steigerung (so verstand ich deinen Satz) von behütet. Behüten ist für mich ein ganz wichtiger Teil der Erziehung.

Zweimal Sonntag ist ja nicht so schön (oder benutzt du das als Stilmittel ?); da direkt davor der Samstag angesprochen wird, könnte man ja auch vom Tag darauf sprechen.

Der weibliche Anteil an der Weltbevölkerung liegt knapp über fünfzig Prozent. Dieser Teil der Bevölkerung sollte eigentlich hinter mir und meiner Liebe stehen, dachte ich. Einen Mann zu lieben, sollte doch für Frauen verständlich sein. Mutter sah das anders.
:thumbsup:

Er saß allein, ganz an der Spitze des Monolithen, den die beiden Männer "Petra" getauft hatten. Petra, der Fels.

Mir fiel dazu als I-Tüpfelchen Petra, die Felsin ein ;).


Ich habe Vaters Lektion verstanden. Wovor er mich schützen wollte. Erstickende Normalität als Lebensgarantie.

Das finde ich nicht so logisch. Otto Normalverbraucher kann auch an x-möglichen Dingen zu früh sterben.


Eine junge Frau aus dem Dorf sah einen nackten Mann vom großen Felsen springen hinausschwimmen.

Da müsstest du noch was ändern.


Wirklich tolle KG :).

Lieber Gruß
bernadette

 

Hallo gox,

diese Geschichte zum Klischee ist dir wirklich gelungen. Mit spitzer "Feder" pointierst du auch die traurigen Momente, ohne dabei abzurutschen. Die zwei Erzählstränge harmonieren gut und lassen Platz für Träume und Sehnsüchte. Lediglich eine Steigerung hätte ich als Reminiszenz an die Beamtenherkunft noch etwas ausgebaut:

Mein Leben war eine solche Druckvorlage. Tänzer, schwul, aidskrank.
Da fehlte mir noch ein "HIV-Positiv" als Zwischenstation. ;)

Die Geschichte hat mir gut gefallen. :)

Lieben Gruß, sim

 

Hallo Gox,

ich finde die Idee, eine Geschichte anhand eines Klischees zu schreiben, echt interessant. Leider empfand ich sie eben auch als Klischee. Nichts in deiner Geschichte hat mich wirklich überrascht und daher wäre mein Applaus wohl nicht so nachhaltig wie Häferls ausgefallen. Trotzdem kann ich einer Geschichte schlecht das vorwerfen, das sie sein möchte. Als Klischee-Geschichte wirklich gut gelungen!

LG
Bella

 

@ bernadette,
behütet ist für mich auch positiv besetzt, spiessig weniger - ich denke, mit diesen Wörtern ein bestimmtes Bild zu erzeugen. Ein Klischee ;-)
Sonntags Sonntagsbraten, die Doppelung war als Stilmittel gedacht, vielleicht ändere ich das noch, wenn's nicht so gut ankommt.

Nicht logisch - da hast Du einfach Recht. Das ändert aber nichts daran, dass viele Menschen meinen, besser und länger durchs Leben zu kommen, wenn sie sich so 'normal' und angepasst wie möglich verhalten. Anders gesagt: Die Unlogik habe ich gewollt.
Springen - hinausschwimmen ist geändert, Dank!

@ sim,

Danke Dir für den Vorschlag mit der Steigerung, den habe ich sofort übernommen - hätte ich ja auch selbst drauf kommen können. Müssen. ;-)
Und Dank auch für die Inspiration!

@ bella,

sei froh, dass ich die Gechichte nicht 'Rechtschreibfehler' genannt habe! ;-) Du hast recht, an der Geschichte ist nichts Überraschendes - und das ist allenfalls das einzig Überraschende.

Viele Grüsse vom gox

 

Zum achtzehnten Geburtstag überreichte mir Mutter einen ‚gefütterten’ Briefumschlag zur Ausbildungsfinanzierung. Auf die beiliegende Glückwunschkarte hatte Vater einen Satz geschrieben:
„Ein Nagel, der hervorsteht, muss eingeschlagen werden.“

Das hat Kraft!


Hi gox!

Wie der Titel es sagt, deine Geschichte ist ein Klischee. Dem Lob meiner Vorredner kann ich mich nur bedingt anschließen.
Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut, die eigentlich Handlung aber spulst du in einem runter.
Nur, weil du selbst sagst, dass es ein Klischee ist, wird die Geschichte dadurch nicht facettenreicher.
Ich habe sie gerne gelesen, vermisse aber jeglichen Tiefgang.
So ist dieser Text für mich leider nur Durchschnitt. Aber Geschmäcker sind eben halt verschieden.

Grüße

Cerberus

 

Hallo gox,

deine Geschichte hat mir gut gefallen. Der erste kursive Absatz war eine Überraschung, dann war die Geschichte doch recht vorhersehbar. Das hat mich nicht weiter gestört, der inhaltliche Wechsel bei kursiv geschriebenen Absätzen im Vergleich zu normalem Druck ist prima gelungen, auch der Bezug auf die Ausgangssituation:

„Ich habe Vaters Lektion verstanden. Wovor er mich schützen wollte. Erstickende Normalität als Lebensgarantie. Obwohl ich jetzt verstehe, kann ich ihn dafür nicht lieben.“


„Man möchte ausscheren, wenn die Richtung allzu gradlinig ist. Vermutlich ereignen sich deshalb so viele Verkehrsunfälle auf schnurgerader Fahrbahn.“

Eine schöne Analogie.

„Dann fragte er sehr ruhig: „Hat dein Vater so etwas verdient?““

Hier merkt man so richtig, wie weh selbst etwas ganz ruhig Gesagtes tun kann.


Änderungsvorschläge:

„Man möchte ausscheren, wenn die Richtung allzu gradlinig ist. Vermutlich ereignen sich deshalb so viele Verkehrsunfälle auf schnurgerader Fahrbahn. Und vielleicht endet mein Leben deswegen fast genau so. Ich bin ausgeschert.“

- Die Folgerung „vielleicht endet mein Leben ... genau so“ gefällt mir nicht. „So“ würde ja bedeuten, sein Leben endet wie ein Unfall - der Tod ist doch der größte anzunehmende Unfall?


„Alexander aber war der Virtuose und das Medium war sein Empfinden, das er auf die Zusehenden übertrug. Er trieb sein Gefühlsleben auf die Spitze.“

- Wenn ich in dem Satz für „Medium“ ‚Mittlerin’ einsetze, fehlt der Hinweis auf das Vermittelte.

Ich denke, „auf die Spitze treiben“, ist eher negativ belegt.

L G,

tschüß... Woltochinon

 

Hallo gox,

obwohl du es beabsichtigt hast, finde ich es schade, dass diese Geschichte nur auf das Klischee ausgelegt wurde. Ich vermisse Ecken und Kanten, kleine Eigenheiten, die den Prot und den Plot ueber das Klischee hinaus plastisch werden lassen. Denn so hab ich wiklich nicht mehr als das, was mir bereits bekannt ist - gut umgesetzt, aber ohne eigenen Charme. Und der liesse sich sicher auch mit exakt demselben Plot erreichen.

liebe Gruesse,
Anea

 

hallo gox!

Klischee hin oder her, mich hat die Geschichte gut unterhalten. Teilweise witzig und generell sehr sauber erzählt. Gerade richtig, um sie nach einem anstrengenden Tag Abends am PC zu lesen.

Gruß!
One

 

Hallo gox!

Mit so einem kurzen Kommentar wollte ich Dich natürlich nicht abspeisen, aber mich hat die Geschichte wirklich so fasziniert, daß ich einfach gleich etwas sagen wollte. :)
Und nachdem Dir die Klischees ja schon kräftig um die Ohren gehauen wurden, sag ich jetzt noch, was mir so gefallen hat.

Es ist nicht alles, was sich Klischee nennt, unbedingt schlecht. Die meisten Klischees entstehen ja dadurch, daß etwas häufig so ist. Das Klischee vom schwulen Tänzer ist ein real existierendes. Nicht, daß alle Schwulen Tänzer wären, aber der Anteil an künstlerischen Berufen ist unter den Schwulen im Gegensatz zu Heterosexuellen enorm hoch. Umgekehrt stimmt es natürlich auch, daß viele Schauspieler, Maler oder Tänzer eben schwul sind. Warum sollte man das irgendwie wegleugnen, indem man ihnen in Geschichten zwanghaft andere Berufe gibt? Hättest Du zum Beispiel über einen schwulen Bauarbeiter geschrieben, hätte ich möglicherweise gesagt (wäre natürlich auf den Rest der Geschichte angekommen), daß mir ein schwuler Bauarbeiter eher seltsam vorkommt. Die Kollegen würden wahrscheinlich über ihn lästern und er wäre schneller gemobbt als er sich sein Arbeitsgewand anziehen könnte. Er würde sich in dieser Machoumgebung aus harten Kerlen, die in ihrer Kindheit natürlich alle Fußball gespielt haben, vermutlich gar nicht wohlfühlen. Und da Schwule meistens eher sanfter sind, würde die Berufswahl an sich schon recht seltsam anmuten. (Das waren aber jetzt auch alles Klischees…)

Du hast Deinen Protagonisten aber nicht einfach einen schwulen Tänzer sein lassen, sondern hast das Tanzen als Form des Ausdrucks seiner Gefühle und seiner Neigung in meinen Augen sehr schön dargestellt. Etwas ausführlicher und tiefgehender könnte natürlich alles sein, aber ich fand es in dieser Geschichte nicht störend, obwohl ich sonst ja auch auf Details dränge.
Ich finde, gerade in der Kürze trifft sie den Nagel auf den Kopf; wie schnell es doch gehen kann…

Könnte ich noch einmal wählen, ich würde nichts ändern. Nun, das stimmt nicht ganz - ich würde Präservative benutzen.
Endlich schreibt einmal jemand davon. Danke, gox.
Ich habe irgendwie das Gefühl, daß in den letzten Jahren weniger für Aufklärung getan wird, als vor 10 bis 15 Jahren (kann aber auch sein, daß mich da der subjektive Eindruck täuscht, denn damals hatte ich viel mit HIV-Positiven zu tun, und bekam das alles vielleicht nur intensiver mit als heute). Wenn über Aids nicht oder kaum mehr geredet wird, macht es den Eindruck, als sei »alles unter Kontrolle«. Tatsächlich aber gibt es gerade im heterosexuellen Bereich einen deutlichen Anstieg an Infektionen, während sie bei Schwulen rückläufig ist – die haben bereits gelernt, damit umzugehen. Womit das Klischee »schwul und aidskrank« eigentlich im Magen umdrehen muß wie ein Bumerang… Es ist ein überkommenes Klischee, eins, das von der Wirklichkeit längst eingeholt ist. Und gerade die Art, in der Du es verwendest, hat mir das wieder einmal bewußt gemacht.

Was mir auch sehr gut gefällt, ist, daß der Protagonist, um in all diese Klischees zu fallen, erst einmal eines brechen mußte. Nämlich das erlernte Rollenbild (seines Vaters), das ja um nichts weniger klischeehaft wäre, aber eben ein allgemein akzeptiertes Klischee, den von den Alten vorgestempelten Weg darstellen würde.

Die Gegenüberstellung am Schluß, was die Frau sieht und denkt, und was tatsächlich geschieht, finde ich auch sehr interessant. Es ist eben nicht alles immer so, wie es scheint. Für die Frau paßt der Protagonist perfekt in ihr Touristen-Klischee, während sie sich selbst verleugnet, indem sie sich für das schalt, was ihr gefallen hat. Eigentlich wäre die Frau ja eine eigene Geschichte wert. ;)
Obwohl der Schluß ja eigentlich traurig ist, ist er schön. Weil der Protagonist zwar nicht lang, aber dafür sein eigenes Leben gelebt hat, seine Gefühle nicht eingesperrt waren, wie bei anderen, etwa dieser Frau, das ganze Leben lang. Und das Schwimmen Richtung Sonne hat irgendwie was von Freiheit.

Dann waren da noch die bereits genannten Vergleiche mit der schnurgeraden Fahrbahn usw., die ich natürlich auch sehr schön fand und mich dem Lob der Einfachheit halber anschließe. :)

Was mir noch aufgefallen ist:

»wenngleich sie mich nicht verstand.
Als fest stand, dass ich Balletttanz nicht nur als Hobby,«
– zweimal »stand«

»Die Nacktheit seines Körper war eine Provokation in der ländlich- christlichen Gegend dieses Teils Sardiniens.«
– würde schreiben »der ländlichen, christlichen Gegend«, ansonsten gehört die Leertaste nach dem Bindestrich weg. Wobei ja genaugenommen nur die Menschen christlich sein können, die Gegend eigentlich nicht…
– fände »dieses Teils von Sardinien« schöner zu lesen

»stand auf und reckte sich dem Horizont zu.«
» Er schwamm schnurgerade auf die untergehende Sonne zu.«
– statt beide Sätze mit »zu« zu beenden, könntest Du auch einmal »entgegen« verwenden: reckte sich dem Horizont entgegen

Liebe Grüße,
Susi :)

 

Hi gox,

mir hat deine Geschichte sehr gut gefallen. :)
Gerade durch den fast nüchternen Stil, hat man den Eindruck, dass dein Prot, kurz vor dem Sprung, die prägensten Ereignisse in seinem Leben, noch einmal überdenkt.
Er ist seiner Neigung, Talent und Liebe gefolgt. Ist seinen "geraden" Weg gegangen. Ist nicht abgewichen von seinem Ich. Er hat das Klischee der "Herde" abgelehnt.

Er war so "groß" und "stark," wie sein Fels in der Brandung.

Ich finde nicht, dass es mehr Worte, als du gebraucht hast, bedurfte.

lieben Gruß, coleratio

 

an dieser stelle musste ich zugegebener maßen lachen, weil es irgendwie so überraschend kam, diese ironie,
Ich habe das eigentlich mehr als eine recht traurige Erkenntnis empfunden. Umso trauriger, da sie ihm nichts mehr nützt, selbst, wenn es vielleicht der einzige Fehler in seinem Leben war.
Ich kann mir nicht erklären, wie man da lachen kann.

 

Dieser saubere, sterile Stil sagt mir gar nicht zu. Nun ja, ich hätte mir auch eine tiefgehendere Auseinandersetzung zum Thema Klischee oder Klischeegeschichte gewünscht. Was soll es mir denn sagen, dass Du eine Geschichte aufbaust, die nur von Klischees lebt? Naja, und wie Anea anmerkte, es sind zu wenige Ecken und Kanten drin, als dass der Prot wirklich Form annehmen könnte. D.h. ich kann weder inhaltlich viel mit der Story anfangen, noch mit der Umsetzung Deiner Idee eine Klischeegeschichte zu schreiben, da Du nach meinem Geschmack diese Idee leider nicht ausgefeilt hast.

 

Herzlichen Dank
an Euch alle für die vielen Kommentare - und schöne Restostern!

@ Cerberus81

ich denke nicht, dass das Ausleben eines Klischees Tiefgang unbedingt ausschliesst. Insbesondere dann nicht, wenn der Protagonist das Abziehbildhafte seines Lebens erkennt.

@ Woltochinon,

Du hast schon recht, 'auf die Spitze treiben' hat einen negativen Beigeschmack. Ich wollte den Ausdruck hier dennoch positiv, wenigstens neutral verwenden. Den Patzer mit dem Medium habe ich flugs ausgebügelt!

@ Anea,

das mag wohl sein - wenn ich aber dem Prot Ecken und Kanten gebe, ist das Klischee keines mehr. Kann es nicht ein besonderer Charme sein, ein Klischee zu leben und dazu zu stehen? Jeder Mensch sucht doch nach Individualität - mit der Folge, dass alle die gleichen Jeans tragen. ;-)

@ Häferl,

angesichts Deines Kommentars bin ich ziemlich platt, denn es ist mir noch niemals vorher passiert, dass jemand eine Gechichte genau so liest und versteht, wie ich sie meinte. Ein schönes Gefühl, Danke!
Meines Wissens ist es so, dass die Zahl heterosexueller HIV-Positiver prozentual am stärksten steigt, am meisten sind aber noch immer schwule Männer betroffen, auch bei Neuansteckungen.

Über eine eigene Geschichte der Frau hatte ich auch schon sinniert. ;-)
Deine Verbesserungvorschläge habe ich sämtlich eingearbeitet, besonders 'dem Horizont entgegen' hat es mir angetan.

@ coleratio,

ja, das war der Sinn meiner eher nüchternen Schreibweise - angesichts der emotional erdrückenden Situation wäre ein hinausschreien des Unglücks ja auch nicht ganz unangemessen.

@ kraM und Häferl,

ich kann das Lachen an der Stelle verstehen, es ist eine Form des bitteren, verzweifelten Humors. Angesichts des grossen Unglücks wirkt die Idee, dass alles mit einem winzigen Gummitütchen besser gelaufen wäre, irgendwo auch lächerlich.

@ Zaza,

es ist ja eine Geschichte, keine philosophische Abhandlung. Mir ging es um die Darstellung eines Menschen, der gängige Klischeevorstellungen tatsächlich lebt - ohne dauernd zu fragen, ob das, was er gerade tut, vielleicht ein Klischee sei. Die Stilwahl ist mir nicht leichtgefallen. Allerdings wäre mir eine gefühligere Ausdrucksweise zu nahe an den Kitsch geraten. Wie schon bei Anea erwähnt: Ecken und Kanten schliessen ein Klischee eigentlich aus.

Viele Grüsse vom gox

 

Naja, jetzt wo Du mich darauf aufmerksam machst: Aber vielleicht wäre gerade der Gegensatz zwischen Tiefe und Klischees reizvoll gewesen. Das Grundgerüst, sein Lebensverlauf, bleibt also gleich, Du verlängerst nur die Story und verleihst dem Prot eine fassbare Persönlichkeit. Also Klischees überhaupt nicht klischeevoll darstellen, das hätte ich wesentlich interessanter gefunden.

 

Also Klischees überhaupt nicht klischeevoll darstellen, das hätte ich wesentlich interessanter gefunden.

Also Zaza,

ich weiss nicht, ob das wirklich so originell ist.
Jeder versucht doch, Klischees zu vermeiden. Und wenn er sie schon verwendet, sie so einzubauen, dass sie nicht klischeehaft wirken.
Stellt sich zudem die Frage, weshalb Klischee und Tiefe Gegensätze sein sollen. Ist Tiefe nur dann denkbar, wenn jemand einem Klischee zu entrinnen versucht? Ist jemand oberflächlich, der ein flaches Klischee lebt?

Viele Grüsse vom gox

 

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