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Koffer voller Erinnerungen
Hagebuttenmarmelade tropft von meinem Brot. Sandra schaut kurz mit dieser hochgezogenen Braue herüber.
„Und das dir“, sagt sie mit Blick auf ihr Smartphone.
„Zweitausend weitere Stellen bauen die ab“, sage ich kopfschüttelnd.
„Kann dir doch jetzt egal sein.“
Als ob mir das egal wäre. Mein ganzes Leben Diesel im Blut und dann das. Elektrifizierung. Ich schalte das Tablet ab.
„Schau nicht so verkniffen. Du hast jetzt viel Zeit!“
„Und eine ordentliche Abfindung!“ Ein Lächeln huscht über meine Lippen. Die haben so blöd geschaut, als mein Anwalt den Aufhebungsvertrag vorgelegt hat.
Sandra schaut auf ihren Teller und dann an sich herunter: „Wann besorgen wir endlich das Laufband?“
Der Keller erscheint vor meinem inneren Auge. Das kann Jahre dauern, den aufzuräumen.
„Wozu? Kannst doch eh nur gehen. Machst dir sonst die Knie kaputt.“ Ich starre auf ihren Bauch, der aussieht wie damals, als sie mit Tim schwanger war.
„Iss doch was von dem Kuchen. Der wird sonst trocken.“
Ich beiße rein und nehme schnell einen Schluck Kaffee. Viel Kaffee. Damit ist es erträglich. Seitdem Sven aus dem Haus ist, ist ihr Kuchen noch schlechter geworden.
„Der ist schon trocken“, murmele ich.
„Liegt am Herd. Der geht nicht mehr richtig.“
„Sehe ich mir mal an.“
„Sagst jetzt schon seit einem Jahr.“
Das Stück muss ich wohl aufessen. Ich hole mir neuen Kaffee.
„Iss du doch auch was“, sage ich.
„Ich will abnehmen!“
„Hm“, murmle ich und stochere in dem Brocken auf meinem Teller herum.
„Könntest mich ruhig unterstützen.“
Ich packe den Kuchen und schlurfe in die Küche. Beim Öffnen der Schranktür fällt mir der Mülleimer entgegen.
„Was ist denn hier los?“
„Wolltest du dir auch ansehen.“
Ich hole meine Lesebrille und untersuche die Tür, die Bohrungen für die Scharniere.
„Rausgebrochen“, sage ich mit dem Kopf im Schrank.
„Dann müssen wir den Schreiner holen.“
„Das mache ich selbst. Hab jetzt ja Zeit.“
„Mach, was du meinst.“
Ich höre, wie sie mit dem Schreiner telefoniert.
„Was soll das?“, frage ich, als sie fertig ist.
Sie sieht mich mit funkelnden Augen an. „Glaubst du wirklich, ich warte jetzt wieder Jahre, bis du das mit deiner Pedanterie repariert hast? Ich will mit der Scheißküche nicht zum Mars fliegen!“
Ich schlage mit Wucht die Schranktür zu. Sie fällt mir auf die kleine Zehe. Vollholz.
„Gut, dass du ein halbes Jahr lang die Kanten so schön im Keller gefräst hast“, sagt Sandra, während sie den Eisbeutel aus dem Gefrierfach holt.
Sie sieht den Fuß an: „Wir müssen endlich den Keller aufräumen.“
„Ich habe mich verletzt und du denkst an den Keller?“
„Du bist nicht verletzt. Du lässt dich hängen.“
„Und du dich gehen.“
Der Keller ist der Vorhof zur Hölle. Halb Werkstatt, halb Schuttabladeplatz.
„Das muss alles raus“, sagt Sandra und schmeißt mir eine Tüte mit alten Lappen entgegen.
„Die brauche ich doch noch zum Beizen.“
„Mit deinem Rücken?“
Ich sehe mich um. Die Maschinen sind in einem jämmerlichen Zustand. Es riecht muffig, nach Holzstaub, Öl und Rost. In meinen Gedanken baue ich unsere Küche. Eiche. Alles selbst gemacht. Jede Nut, jede Kante.
„Das muss alles raus“, sagt Sandra und zerrt meinen Gitarrenkoffer aus der Ecke.
„Nicht meine Les Paul!“, rufe ich und mache einen Ausfallschritt auf Sandra zu.
„Wie willst du da drauf spielen?“ Sie öffnet den Koffer und hält mir die Gitarre vor die Nase. Der Hals ist gebrochen, baumelt an zwei Saiten. Der Sunburst sieht aus, als ob die Sonne in einem Tümpel untergegangen ist.
„Die kann ich doch reparieren!“. Das johlende Publikum vom letzten Auftritt tönt in meinen Ohren.
„Ja, so wie die Küche, die Badlampe, mein Fahrrad …“
„Ich hab doch jetzt Zeit!“
Sandra baut sich vor mir auf. Ihr Bauch streift leicht meinen Pullover. Ihr Atem riecht nach Kaffee.
„Wenn du jetzt nicht endlich aufräumst, kannst du deine viele Zeit allein verbringen!“
„Schatzi“, raune ich.
„Dein Schatzi kannst du dir bald sonst-wo-hin! Hör endlich auf, dich zu bemitleiden und tu was!“
„Du mit deinem Pseudo-Halbtagsjob weißt doch gar nicht, wie es ist, seinen Job, seine Lebensaufgabe zu verlieren!“
„Lebensaufgabe? Was ist mit mir? Um die Jungs habe ich mich gekümmert. Tagaus, tagein. Jetzt sind sie weg. Deine Pedanterie habe ich ertragen. Alles auf den Mikrometer genau.“
„Millimeter“, sage ich.
„Was?“
„Mikrometer ist …“
Sandra packt die Gitarre und wirft sie auf den Berg alter Sachen in der Mitte des Raums: „Das kommt weg!“, schreit sie.
Meine Hände greifen in die Luft, doch ich kann nur zusehen, wie die Gitarre aufschlägt. Die Arme sinken nach unten und ich starre auf den Schutt. Den Abfall unseres Lebens. All die Jahre, in denen immer wieder dieser tiefe Zorn in ihr aufflackerte, den ich nie verstanden habe, und doch hinnahm. Dieses Flackern, das seit die Kinder aus dem Haus sind, immer heller wurde. Diesmal aber nicht. Ich packe den kleinen Lederkoffer, den sie bei allen drei Umzügen mitgeschleppt hat, schmeiße ihn mit voller Kraft auf den Berg und brülle: „Dann kommt der aber auch weg!“
Der Koffer springt auf, ein rosa Schnuller kullert heraus und ein Briefumschlag rutscht zwischen den Müll.
Sandra stürzt bei dem Versuch, den Umschlag aufzufangen und fällt auf den gebrochenen Gitarrenhals. Sie schreit auf, zerrt den Umschlag zwischen den Sachen hervor, drückt ihn an sich und schluchzt. Blut rinnt an ihrem Knie herunter.
Sie sitzt einfach nur da, die Beine an sich gezogen. Ich spüre meine Fingernägel, die sich in die Handflächen bohren. Sie blickt starr auf einen Punkt im Keller, wippt langsam vor und zurück, wie ein kleines Kind, das von seinem Vater angeschrien wurde. Was hat sie mir nur verheimlicht. Dieser Koffer, der Schnuller neben der Gitarre, der Strampler. Alles rosa. Nie zuvor gesehen. Und doch sind sie da, liegen vor mir, schreien mich an, als ob ich taub bin. Ich war wohl blind, habe mich vom Flackern blenden lassen, konnte es nicht sehen, nicht verstehen, wollte es nicht wissen. Ich gehe in die Knie, hebe den Schnuller auf. Sie stiert vor sich hin. Nimmt mich gar nicht wahr. Ihr Unterkiffer zittert und das Zittern greift nach ihren Händen, schüttelt sie fast. Meine Finger entspannen sich, ich atme tief ein und aus und gehe einen Schritt auf sie zu, strecke meine Hand aus, die flattert wie eine Fahne im Wind. Ihr Blick huscht über mein Gesicht, trotzdem sehe ich, wie ihre Gesichtszüge ein wenig weicher werden.
Schließlich setze ich mich zu ihr, nehme sie in den Arm, spüre wie das Zittern nachlässt, atme den Duft ihrer Haare, wie damals, als wir nach unserm ersten großen Streit auf den Triumphbogen gegangen sind, mit Blick über die Champs-Élysées, Hand in Hand. Die Lichter der Autos spiegelten sich in ihren Augen. Sie hatte dieses bezaubernde Lächeln.
Mit flattrigen Händen nehme ich den Koffer, packe den rosa Strampler hinein und flüstere: „Komm, lass uns nach oben gehen.“
Ich durchwühle den Schrank im Flur auf der Suche nach dem Erste-Hilfe-Kasten, während meine Gedanken um die Babysachen in dem Koffer kreisen. Der Koffer, über den sie nie sprechen wollte. Abwesend halte ich eine Schuhcreme in der Hand. Gespürt habe ich es schon immer, dass es da diesen dunklen Punkt gibt, besonders als sie mit Tim schwanger war. Da war ihre ständige Angst, dass etwas schiefgehen könnte. Als Tim dann da war, hat sie ihn die ersten Tage keine Sekunde aus den Augen gelassen, hat nur geschlafen, wenn ich da war. Ich zucke bei der Erinnerung innerlich zusammen, wie sie mir die Leviten gelesen hatte, als ich einmal Tim alleine im Bettchen ließ, um auf die Toilette zu gehen. Die ganze Zeit war ich so damit beschäftigt Fotos zu schießen, dass ich ihre Sorgen gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Den Erste-Hilfe-Kasten finde ich im hintersten Eck.
„Was sind das für Babysachen?“, frage ich, während ich ihr Knie verbinde.
Sandra schweigt. Ich sehe sie an, doch sie weicht meinem Blick aus, knetet ihre Hände, versucht dann den rosa Schnuller zu nehmen, den ich vor ihre Nase halte. Ich ziehe ihn weg, gehe einen Schritt zurück. Ihr Gesicht ist weiß, fast wie die Maske einer Toten. Der Sauger klappert in meinen Fingern, die unkontrolliert in der Luft rumfuchteln. Ich schlucke, atme tief ein, dann aus. Setze mich schließlich neben sie. „Diesmal gebe ich nicht auf“, seufze ich, schüttle den Kopf, raffe mich hoch und hole den alten Macallan aus der Vitrine. Aufgehoben für einen besonderen Anlass. Frage mich, welcher das sein soll. Ist nicht alles Besondere schon geschehen, ohne dass wir es bemerkt haben?
Whiskyduft strömt mir in die Nase. Hätte gedacht, der riecht besser. Ich halte Sandra ein Glas hin, das sie zögernd umgreift. Sie nimmt einen winzigen Schluck, ich einen großen.
„Schmeckt furchtbar“, sagt sie.
„Wie wohl alles, was man zu lange aufhebt“, antworte ich mit verzogenem Gesicht.
Ich nehme ihr das Glas ab, schütte das Zeug weg, starre in den Abfluss, gehe zum Weinkühlschrank und sehe den Champagner, den wir vor einem Jahr zum Hochzeitstag trinken wollten. Genau vor einem Jahr, wird mir bewusst. Meine Hände zittern, als ich Sandra das Getränk reiche: „Fröhlichen Hochzeitstag“, flüstere ich während des Anstoßens. Sie atmet tief aus, schluchzt, trinkt das Glas leer.
„Warum hast du nie etwas erzählt?“, frage ich und deute auf den Koffer. Ich setze mich neben sie, stiere die Küchenuhr an, nippe am Champagner, höre das Ticken, drücke sie an mich, spüre ihren Herzschlag.
„Rosa ist zwei Tage nach der Geburt gestorben. Herzfehler“, krächzt Sandra nach einer Ewigkeit.
Ich sehe sie an: „Rosa?“
„Ich war siebzehn. Naiv und dumm. Dachte, er liebt mich. Dann war ich schwanger mit Rosa und einen Tag, nachdem ich es ihm gestanden hatte, war er verschwunden.“
Ich nehme ihre Hand, die sie auf den Bauch gelegt hatte, und halte sie fest.
Schließlich öffnet Sandra den Koffer, ihre Finger fahren über den rosa Strampler. Eine Träne läuft über ihre feuchten Wangen.
„Meine Eltern waren dagegen. Sollte abtreiben. Das konnte ich nicht. Ich konnte einfach nicht.“
Sandra sieht in die Ferne und schweigt.
Ich stehe auf, schenke nach. Sie trinkt einen großen Schluck, nimmt den Schnuller und dreht ihn in der Hand.
„Und deine Mutter?“, frage ich.
„Die wollte auch, dass ich Rosa wegmache. Sie hat mir Vorwürfe gemacht. Du weißt, wie sie ist.“
„Ja, einfach nur eiskalt.“
„Mein Vater war schlimmer. Der brüllte nur rum, dass ihm der Bastard nicht ins Haus kommt.“
„Kann ich mir vorstellen. Aber sonst beruhigt er sich doch immer irgendwann.“
„Damals nicht. Ich weiß noch genau, wie ich abends im Bett lag, zum ersten Mal die kleinen Tritte gespürt habe.“
Ich rücke dichter an Sandra heran und schlucke. Vor meinen Augen sehe ich Tims kleine Fußabdrücke auf Sandras Bauch, wenn er sich gestreckt hatte.
„Am nächsten Morgen habe ich das beim Frühstück erzählt. Mein Vater meinte, dass sie beschlossen haben, Rosa zur Adoption freizugeben. Ich wollte einfach nur weg, zur Oma ziehen.“
„Von der du immer so viel erzählt hast?“
„Genau die. Meine Eltern wollten das aber nicht. Die Nachbarn hätten ja sonst was gemerkt. Also musste alles vertuscht werden. Der Bauch wurde anfangs mit weiten Sachen kaschiert. Später hatte ich die Grippe. Selbst meine Oma durfte es nicht wissen.“
„Und dann?“
„Ich schwieg. Keiner hat es gemerkt. Rosa kam zur Welt und starb in der ersten Nacht.“
Sandra schaut mich an, bläst Luft durch die Nase: „Meine Eltern waren ja so froh darüber.“
„Furchtbar“, flüstere ich und starre auf mein leeres Glas.
„Sie hatte so eine süße, kleine dunkle Locke über der Stirn.“
Sandra holt den kleinen Umschlag hervor und öffnet ihn behutsam. Rutscht ein wenig näher. Ihre Finger ziehen eine kleine Haarsträhne heraus. Ich halte die Luft an und streiche vorsichtig mit dem Zeigefinger darüber.
„Das ist alles, was von ihr geblieben ist.“
Ich fühle die feinen Härchen.
„Wo ist sie begraben?“, frage ich.
„Keine Ahnung.“
Ich schaue sie verwundert an.
„Meine Eltern haben sie anonym bestatten lassen. Du weißt schon, die Nachbarn. Und dann durfte ich nie mehr darüber sprechen.“
Wir stehen vor dem ewigen Licht, in der hinteren Ecke des Gartens. Der Mähroboter zieht seine Kreise. Geranienduft weht herüber. Der Nachbar häckselt.
Sandra legt Blumen vor das Licht.
„Jetzt kannst du sie jederzeit besuchen“, flüstere ich in ihr Ohr.
Ich spüre ihre Finger an meiner Hand.