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Kollektive Wahrheit
Du irrst durch einen endlosen Garten aus Vergessen und welke Blätter zerfallen zu Staub, während sich Wolken vor die Grellheit der Sonne schieben, um ihre Strahlen davor zu bewahren, dich in ein Licht zu rücken, das deiner nicht würdig ist.
So ist dein Leben. So bist du.
Und wenn es endet, wird sich niemand erinnern. In tausend Jahren welken viel zu viele Blätter, ohne je die Gnade der Wolken (oder auch der Sonne) nur annähernd gespürt zu haben.
Jaqueline konnte kaum fassen, wie rapide sich der allgemeine Zustand verschlechterte. Hilflos fing sie Regen in den Waagschalen ihrer zerknitterten Hände mit den dürren Fingern daran auf. Nicht, um das Nass zu empfinden. Das war überhaupt nicht möglich.
"Scheiße Jackie, ich glaube er ist tot."
Ein wunderbares Gebilde aus Haut und Fleisch, Knochen, Nervensträngen und stillen, reglosen Augen, die noch immer das Gewitter beobachteten; hätte sie es nicht besser gewusst.
Blut sickerte durch feine Hautporen, verklebte den Körper nach innen und das Herz schlug schneller, bereinigte verdichteten Verstand.
"Sag mal, raffst dus nicht? Wir haben ihn umgebracht!"
Zartes Lächeln vertrockneter Lippen. Den Rucksack aufgehoben und fest umschlossen. Gierend auf den Inhalt.
"Nein, du hast ihn umgebracht", lachte die kleine, zarte Jaqueline, als sei es die Melodie eines Kinderliedes, dass ihr die Mutter im Suff vorgurgelte; dabei innerlich tausend Vergangenheiten zugleich erlebte; unzählige Symphonien, eine schrecklicher als die nachfolgende.
"Lass uns abhauen ... Scheiße ... lass uns hier abhauen!"
Tänzelnd und anmutig schwangen und drehten sich die beiden, vorbei an kapitalistischen Kleinstgeschwüren mit ihren immer gleichen Leuchtreklamen; zwängten sich durch enge Gassen im Mondscheinlicht.
Sirenen tuckerten scheinbar willkürlich durch Beton; Plattenbauten wippten im Rhythmus der Flucht und die Jäger hatten nicht die geringste Chance die Beute der so genannten Gerechtigkeit zu übergeben.
Ein Wunderland für jene, die nicht mehr an Wunder glaubten.
In einer dunklen Ecke schleuderte sie ihn gegen Mülltonnen, oder vielleicht war es auch die Ecke selbst, die das Liebespaar zwischen all dem Dreck einzuatmen versuchte.
"Ich liebe dich!" - Ohne Moral und Ethik presste sie dieses ausgelutschte, bittere Kaugummi der Erkenntnis in seinen Rachen; feuerte und explodierte bis in den übel riechenden Hals hinein.
Dann bedienten sie sich; voneinander, miteinander, übereinander; bedienten sich aus dem Rucksack; schluckten und geiferten; brüllten und gackerten ... lachten so lange, bis die Welt im Sekundentakt zugrunde ging.
Dann machten sie weiter.
Es war eine nicht enden wollende Zeremonie, der eine Lust voran ging, an die man sich letztendlich nicht mehr so recht erinnern konnte. Irgendwann einmal war sie sättigend gewesen. Soviel stand fest.
Vielleicht war es die Sterilität dessen, was Laternen auf die Straßen spuckten, wenn sie des Nachts niemanden mit ihrem flackernden Speichel treffen konnten.
Erblindendes Rampenlicht, ganz ohne Publikum, und du stehst mitten drin und stirbst.
Möglicherweise aber auch einfach bloß ein neuer Sinn, der in der alten Welt so nutzlos erschien, wie das 08 / 15 im Alltagsgebet.
Die Wolken wurden dichter und als ein Blitz im plötzlichen Gewitter sie durchfuhr, da war es ganz klar und deutlich:
"Wir lieben uns doch, oder? Schlaf nicht ein, Arschloch!"
Wie gerne hätte sie Gott in den blauen Lichtern der Autos gesehen.
"Nur ein einziges Zwinkern, nicht mehr."