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Kopfkino
„In Liebe, deine Anni“, steht da. Ich flüstere die Worte noch einmal:
„…deine Anni…“. Meine Anni? Wenn du meine Anni gewesen wärst, würdest du nun neben mir sitzen.
Wie in Trance durchwühle ich deine Schubladen. Um irgendeinen Anhaltspunkt zu finden. Irgendein Zeichen. Eine Antwort auf das große Fragezeichen in meinem Kopf. Nichts. Die wenigen Sachen, die du bei mir gelassen hast, sind nur ein paar Kleider und ein Lippenstift. In der Kommode befinden sich nur wirre, einzelne Blätter. Alles ohne Bedeutung.
Ich lese den Brief noch einmal, doch in meinem Gehirn bleiben nur einzelne Sätze hängen.
„Frag nicht warum, frag auch nicht Wozu.“ „Es geht nun mal nicht anders. Verzeih mir bitte“. Deine Worte. Annis Worte. Meine Trauer wird immer mehr von Wut verdrängt. Das Warum klopft gegen mein Herz und das Fragezeichen wummert gegen meinen Verstand. War der Mistkerl das wert, Anni? Sag mir, ob er es wert war! Meine Fingernägel bohren sich in meine Handfläche. Über meine Lippen rinnen salzige Tränen. Tränen der Wut? Der Trauer? Ich weiß es nicht, Anni.
Ich erinnere mich noch genau an den Tag, an dem du Jonas kennen gelernt hast. Jonas, der Mistkerl. Wir waren in der Stadt unterwegs. Es war ein schöner Tag. Die Sonne schien, es war ja Ende Juni. Wir saßen im Schatten der großen Eiche im Park, erinnerst du dich an sie?
Und da sahen wir Jonas. Er spielte mit seinen Freunden Fußball. Ich schlug vor, doch zu ihnen zu gehen, da wir uns beide etwas langweilten. So schlenderten wir betont lässig zu ihnen hinüber. Und dann ging alles ganz schnell. Ihr habt euch in einander verliebt, und 2 Monate später bist du aus unserer WG ausgezogen. Zu Jonas dem Mistkerl. Das war im August. Ich weiß nicht, ab wann du ihn auch Mistkerl genannt hast. Aber ich glaube du hast begriffen, dass er einer ist. Oder Anni? Sonst wärst du doch nicht gesprungen. Mittlerweile weiß die ganze Stadt, was er dir angetan hat. Du bist in allen Zeitungen, das wolltest du doch immer. Einmal berühmt sein und auf den Titelblättern der Zeitungen gedruckt sein. Vielleicht schaust du ja von einer Wolke herab und lächelst, während andere Leute von dir und Jonas lesen. Ich hoffe, dass du lächelst, Anni. Ich hoffe, dass du glücklich bist.
Ich zünde mit eine Zigarette an und schaue aus dem Fenster. Unten im Hof fegt eine Frau das gelbe, matschige Laub zusammen. Es ist November. Es nieselt. Trotz des miesen Wetters verrichtet die Frau weiter ihre Arbeit. Zwischen mir und ihr sind zehn Stockwerke. Mich durchzuckt ein Gedanken, derselbe, der dich durchzuckt hat, Anni. Ich überlege zu springen, Anni. Schau, was du mir angetan hast. Soweit bin ich nun schon. Ich gehe vom Fenster zurück und drücke die Kippe aus. Nein, ich springe nicht Anni. Ich will nicht wie du enden. Ich will nicht, das das Knacken meiner zerschellenden Knochen das letzte Geräusch ist, das ich in meinem Leben von mir gegebe habe.