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Krähen im Nebel
Der Nebel überzieht die Landschaft, die Luft ist feucht, kalt. Hier draußen, am Ufer des zugefrorenen Weihers, ist kein Laut zu hören, eine unwirkliche, tote Stille liegt über allem.
Baumgerippe säumen das Ufer, die schwarzen Äste bedrohlich in das Weiß gestreckt. Ein paar Krähen sitzen darauf, auch sie ohne einen Hauch von Bewegung, ohne mit ihrem Krächzen die Stille zu durchdringen.
Langsam drehe ich mich um, höre meine Stiefel auf dem Kies knirschen. Ich gehe Richtung Eis, teile mit meinen Schritten den dichten Nebel.
Ich sehe das Schilf, eingefroren die Halme, geknickt vom Wind, zerbrochen von der Natur, abgestorben und unnütz. Die Kälte hat Luftblasen eingeschlossen, tellergroße und auch ganz kleine. Kinder haben mit den Schuhen versucht, die Eisschicht darüber zu zertreten, die Eisfläche ist verwundet, rau, hat Narben bekommen.
Es dämmert schon und die letzten Schlittschuhläufer haben den See verlassen. Ich bin allein. Als ich den ersten Schritt auf das Eis setzte, kann ich es knistern hören. Ich gehe weiter, tiefer in den Nebel hinein, weg vom Ufer, weg von den Spuren der Kufen, die die Fläche gedankenlos zerschnitten haben mit ihren scharfen Kanten.
Unter meinen Sohlen höre ich das Wasser arbeiten, es knackt und knirscht. Die Skelette der Buchen, keine fünfzig Meter entfernt, kann ich nicht mehr sehen, ich ahne nur noch ihre Schemen, ihre Schwärze, die stummen Beobachter des Sees.
Einige Schneeflocken schweben an mir vorbei, lassen sich auf mein Haar sinken. Ich gehe weiter, auf die kleine Insel zu, die sich in der Mitte des Sees befindet, auch ohne dass ich sie sehen kann. Ich weiß, sie ist da, sie ist immer da. Im Frühjahr, wenn die Wasservögel in den Gebüschen einen Platz zum Brüten suchen, im Sommer, wenn die Liebespärchen sich vom Schwimmen zurückziehen, im Herbst, wenn der Wind die Blätter spielen lässt, und auch jetzt, wenn die Natur sich zum Schlafen zurückzieht.
Vor mir tauchen erste Schemen auf, ich kann die Sträucher und das tote Holz erahnen, gehe weiter über das Eis. Das Knirschen wird lauter, es berührt mich nicht. Die letzten Nächte waren kalt, das Eis muss viele Zentimeter dick sein, es wird mich halten. Ich gehe auf das trostlose Stück Land zu, erreiche das Ufer. Schilfhalme stehen auch hier, zersplittert. Ich trete wieder auf Kies, ein lautes Geräusch gibt Zeugnis von meiner Ankunft.
Ich muss nicht lange suchen. Zu genau, zu tief hat sich die Stelle in mein Gedächtnis eingebrannt. Sommer war es, als ich zuletzt herkam, der Himmel blau, fröhliche Menschen beim Schwimmen und Toben. Sie haben es nicht bemerkt, auch ich erst zu spät.
Jetzt bin ich alleine hier und das ist gut so. Ich nehme die Kerze aus meiner Tasche, zünde sie an und stelle sie vor das kleine Kreuz aus hellem Holz. Die Blumen, die ich die ganze Zeit in Händen hielt, lege ich daneben.
Frohe Weihnachten, mein Sohn.