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Kratzen im Schnee
Ich achte genau auf das Kratzen des Füllers auf dem Papier, das mal schneller mal langsamer werdende Geräusch hält mich hier, während ich versuche mein Höchstes und Tiefstes zu erkunden. Wie die Schnur eines Drachen, mal höher mal tiefer, mein Anker und meine Orientierung.
Obwohl ich so versunken bin höre ich es, als er rein kommt. Kleine Plattfüße, die tapsend versuchen zu schleichen und leicht am Linoleum kleben. Bis er fast in meinem Nacken hängt, jedenfalls fühlt es sich so an. Er versucht leise zu atmen, das krampfhafte Rasseln durch die Rotznase ist noch verräterischer. Ungerührt lasse ich den Stift weiter kratzen. Ein Schöner ist das, sehr alt und schwer.
Noch ein Tapsen, er zieht schnell Luft ein und eine Millisekunde, bevor die Lungenflügel voll wären, drehe ich ruckartig den Drehstuhl.
"Buh!"
"Aaah!"
Er weint.
Ich sehe ihm eine Weile ungerührt dabei zu, während er hinter seinen kleinen dicken Händen: "Du Aschloch, Dennis. Wichsa!", murmelt.
Er spricht die Buchstaben rund aus, irgendwie schemenhaft, als hätten sie keine Form. So dass dem Zuhörer schwer fällt, die Buchstaben auseinander zu halten. Wie fast alle Kleinkinder, außer Sonderlinge.
Als mich das Weinen zu sehr langweilt, drehe ich mich wieder zu dem klapprigen Holztisch, die Beine quietschen, wenn ich schneller schreibe.
Ich erwarte eigentlich, dass er geht. Macht er aber nicht, ich will gerade laut werden, da tapst er an meine Seite und guckt auf das Blatt. Ich atme einmal tief aus und ein, schiebe meine Brille hoch und entscheide mich, nicht zu schreien. Er wird schon gehen, denke ich, er kann nicht lesen und nicht einmal Mama findet mich spannend. Die kann lesen und tut es gern. Bücher von richtigen Autoren. Nicht das, was Sonderlinge so schreiben.
Max tapst davon, endlich, denke ich und seufze.
Nur noch das Kratzen, das weiche Papier und der Sonderling. Ich lächle versonnen in mich hinein. Die Luft schmeckt bitter in meiner Welt.
Plötzlich kracht es neben mir hölzern, ich zucke zusammen, so sehr war ich in mir versunken. Max grabscht an den Tisch, um auf den Stuhl zu kommen, den er hergeschleppt hat. Ich entscheide mich, mich nicht aufzuregen und stöhne laut, dann kratze ich weiter die Wörter aus dem Schnee. Um dem, was keine Form hat, einen Namen zu geben.
Max klettert unbeholfen auf den Stuhl und glotzt intensiv auf das Blatt, dann sieht er mich an.
Ich stelle mir vor, wenn ich ihm sage, dass das nichts für kleine Kinder ist, nervt er weiter, weint, zerreißt das Blatt, ich schlage ihn und Mama dann mich, während die Kippe aus ihrem Mund ein Loch in den Teppich brennt, kokelndes Plastik.
"Warum schreibst du?", will Max wissen.
Ich wundere mich darüber, dass er nach dem warum fragt, nicht nach dem was, wie sonst jeder.
Ich sehe in seine irrwitzig großen blauen Augen. Die Haut darum ist noch leicht gerötet. Für einen Moment sehe ich da was aufblitzen, etwas, was da eigentlich nicht sein kann, er ist fünf.
Könnte es etwa sein, dass er mich versteht?
"Wir haben Nachbarn, ich darf nicht schreien", sage ich.
Er sagt nichts, guckt plötzlich ziemlich blöde. Er ist fünf.
Ich kratze weiter im Schnee.
"Also wegen Mama!", bestimmt er.
Ich lege den Füller auf den Tisch.