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- 02.09.2015
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Kreis mit Kreuz: Doro
Was ist, wenn wir alles erreicht haben,
um dann festzustellen,
dass wir nichts davon jemals wollten?
Schwarz-Weiß-Fotografien hängen in symmetrischen Abständen an den weiß getünchten Wänden der Pasinger Fabrik. Glänzen im Licht der Deckenstrahler in Lebensgröße.
Doro geht rasch an den ersten drei Bildern vorbei. Richtet sich dabei Haarsträhnen, die ihr in den Augen piksen. Die Absätze ihrer Stiefeletten hinterlassen mit jedem Schritt einen Widerhall, ein regelmäßiges Klacken in kurzen Abständen.
Michi ist mit Finn, Mira und seinen Eltern im Zoo. Doro kann sie bildlich vor sich sehen, wie die Fünf von Gehege zu Gehege schlendern. Hört, wie die Schwiegermutter über sie lästert: Wie kann so eine Ausstellung wichtiger sein, als ein Nachmittag mit der Familie? Michi müsse sich auch einmal durchsetzen. Blablabla.
In ihrer Handtasche nestelt Doro nach den Dulcolax. Immer diese Vorwürfe. Dabei kann sie es kaum fassen, dass sie es tatsächlich noch am letzten Ausstellungstag hierher schaffte. Gerade als sie sich ein Dragee in den Mund schieben will, fällt ihr Blick auf das vierte Bild. Sie bleibt so abrupt stehen, dass die Schuhsohlen hörbar quietschen. Ein paar Blicke anderer Besucher wenden sich ihr zu.
Sie atmet durch. Lässt das Dragee zurück in die Handtasche fallen. Greift sich mit beiden Händen an den Kopf. Vom Drogerie-Haarspray sind die Haare klebrig. Sie wiederholt im Gedanken die Worte: Ich bin tatsächlich hier.
Über ihr knacken die Deckenstrahler. Sie nimmt den Duft der Pasinger Fabrik wahr: eine Mischung aus Putzmittel und Entwickler. Unerwartet erfüllt sie ein Gefühl der Erleichterung.
Für einen Moment verharrt Doro vor dem vierten Bild, einer Flusslandschaft, vermutlich der Jangkok. Dann dreht sie sich um und geht zurück an den Anfang der Ausstellung. Auf dem ersten Foto ist eine alte Dame zu sehen. Das an die Wand geklebte Pappkärtchen weist sie als Frau aus Sumatra aus. Tiefe Furchen zeichnen das Gesicht. Da ist etwas, das Doro stört. Sie beißt sich auf die Lippe. Es ist der Winkel. Oder ... der Zoom. Nein, es sind Winkel und Zoom. Der Fokus hätte auf diesem wunderbaren Muttermal links neben der Oberlippe liegen müssen. Das hätte der Dame einen leicht verschmitzten Gesichtsausdruck geben können. Wie jemand, der viel erlebte, aber trotzdem über dem Leben steht. Aber auf diesem Foto wirkt sie einfach nur alt, dominiert von den Falten, die sie nicht einmal müde erscheinen lassen, sondern auf irritierende Weise versteinert.
Doro blinzelt in das Licht, als sie die Ausstellungsräume verlässt. Michi und die Kinder werden sicher schon wieder zu Hause sein. Sie sollte –
Aber da ist etwas, das sie festhält. Wie ferngesteuert geht Doro zu einem der Bistrotische, die vor dem Gebäude auf Gäste warten. Mit einem leichten Seufzen lässt sie sich nieder, der Klappstuhl quietscht auf dem Kopfsteinpflaster. Sie ist durstig. Im Hintergrund hört sie die ein- und ausfahrenden Züge des Pasinger Bahnhofs.
Ihr Blick wandert zu einem der Nachbartische, bleibt hängen an einer Frau in ihrem Alter mit einem Neugeborenen im Arm. Beobachtet, wie sie es schafft, einen dunkelgrünen Smoothie zu trinken, ohne das Smartphone am Ohr oder das Baby an ihrer Brust fallen zu lassen, geschweige denn einen Flecken auf den weißen Hosenanzug zu produzieren. Diese Frau ist eindeutig eine von diesen Super-Muttis, denkt Doro.
»Haben Sie schon gewählt?« Die Stimme der Kellnerin weckt Doro aus ihren Gedanken.
»Ähm, ja …« Doro blättert durch die Karte. »Ein Wasser.«
»Noch was?« Die junge Frau duftet nach einer Mischung aus Blumen und Frittierfett. In ihrer engen Jeans mit dem schwarzen Schürzchen gäbe sie ein tolles Motiv vor der Hecke ab, unter der sich Bierdeckel halb verrottet sammeln.
»Und – ein Glas Prosecco, bitte.« Mit glühenden Wangen schließt Doro die Getränkekarte. Schaut kurz auf die Hände, den goldenen Ehering mit dem Diamantsplitter.
»Das Wasser mit oder ohne?« Die Kellnerin tippt etwas in ein schwarzes Gerät ein.
»Ohne bitte.« Doro lehnt sich zurück. Sie sollte viel öfters eine Auszeit von ihrer Familie nehmen, als sie es sich bisher gönnte. Einfach etwas tun, das ihr gefällt. Gedankenversunken streift sie den Ehering ab, lässt ihn in die Handtasche fallen. All die Dinge, die Michi hasst und für die Mira und Finn zu ungeduldig sind.
Sie nimmt einen Hauch von französischen Zigaretten wahr, der sie zurück in einer Zeit vor Michi, Mira und Finn versetzt. Damals lebte sie für einige Monate mit Bernd in Nizza.
Doro dreht sich um und lächelt den Herren an, der mit der Gauloise im Mund mit seinem Smartphone spielt, ihr die Erinnerung an das Meer und die erste große Liebe in den Kopf blies.
»Entschuldigung, hätten Sie vielleicht eine Zigarette für mich?« Ein wenig rot läuft sie an, so einfach zu fragen.
Der Herr schaut hoch, reicht ihr wortlos die blaue Schachtel. Doro zieht mit feuchter Hand eine Gauloise heraus, riecht bereits jetzt den frischen Tabak.
Der Fremde reicht gibt ihr Feuer und Doro bedankt sich mit einem Nicken. Schaut in den blauen, wolkenlosen Himmel. Es ist ein schöner Sommertag mit guten Lichtverhältnissen.
Die Super-Mutti nebenan legt das Baby zurück in den Kinderwagen. Winkt einem Mann an einem der Tische zu, bevor sie die Bremse löst und durch das Tor Richtung Bahnhof verschwindet.
Die Kellnerin serviert Doro derweilen die Getränke. Der Prosecco sprudelt im Glas.
»Ich würde dann gleich zahlen«, sagt Doro, schaut unruhig auf ihre Armbanduhr. Die Kellnerin nickt, tippt wieder auf dem Gerät herum und hält es ihr schließlich unter die Nase. Doro holt einen Zehneuroschein aus dem Portemonnaie. »Stimmt so.«
Das tat sie schon lange nicht mehr, einfach ausgehen, alleine. Aber sie müsste ... Doro hält inne. Sie muss nichts. Sie würde in Ruhe den Prosecco trinken, die Zigarette rauchen ...
Die Kellnerin verschwindet. Sie ist noch jung. Schätzungsweise Mitte zwanzig. Als Doro so alt war, hatte gerade Bernd mit ihr Schluss gemacht. Der Mann, von dem Doro immer dachte, sie würde ihn heiraten, mit ihm ein Haus bauen, Kinder bekommen und sich zwei Hunde anschaffen. Doch dann lernte Bernd Amelie kennen. Ein französisches Model. Bei einem der Fotoshootings. Es war Liebe auf den ersten Blick. So jedenfalls verkaufte ihr Bernd es bei der Trennung. Und das Schlimme war, sie sah es, das Glühen in seinen Augen jedes Mal, wenn er Amelie sagte.
Doro nimmt einen tiefen Zug der Gauloise, anschließend einen Schluck vom Prosecco. Atmet das Sprudeln ein. Die Perlen kribbeln in ihrer Nase, vermischen sich mit dem Tabak.
Die Kinder haben sicher Spaß im Zoo. Auch ohne sie. Überhaupt ist Michi der geborene Vater, immer gelassen, jederzeit zu einem Spaß bereit, selbst wenn Finn einen seiner berühmten Trotz-Wut-Anfälle bekommt.
Doro mag Zoos nicht. Tiere in Käfigen, in begrenzten Anlagen – sie wollte immer nach Afrika. Tiere in der Freiheit beobachten. Sie fotografieren. Den Löwen beim Absprung auf eine Antilope vor die Linse kriegen. Davon träumte sie, als sie die Realschule verließ und die Ausbildung in einem Fotostudio in Bamberg machte. Sie quälte sich durch die ganzen Hochzeits-, Einschulungs-, Kommunions- und Konfirmationsfotos mit diesem Traum vor Augen. Sie wollte immer reisen und fotografieren. Aber sie wollte auch immer eine Familie, als sei es der natürlichste Wunsch einer Frau.
»Mama, Mama!«, ruft Mira, »Ich habe Hunger. Hun…!«
Doro kommt gerade zur Tür herein. »Ja, Mira. Lass mich doch erst einmal …«
»Hunger!«, schreit Mira nun energischer. Tritt mit dem Fuß auf. »Hun…«
»Hallo, Schatz.« Michi kommt die Treppe hinunter und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Er wirkt erschöpft. »Wie war es im Museum?«
»Mama!« Finn hüpft auf den Stufen. »Wir waren im Zoo und da waren so große Elefanten. Und Pinguine und Lamas und Giraffen. Die hatten ...« Mit ausgestreckten Armen hopst der Neunjährige den letzten Treppenabsatz rauf und runter, sodass es knarzt und knirscht. »Du hättest die fotografieren können!«
»Du sollst nicht immer springen«, sagt Doro mit mütterlicher Routine in der Stimme, während sie ihre Stiefeletten auszieht. Ihr Blick fällt kurz in den Spiegel. Sie richtet sich die Frisur, die sie nach Finns Geburt zu- und nicht mehr ablegte. Es wäre wieder an der Zeit für einen Friseurbesuch. Der Pony hing in den Augen und ... Vielleicht wäre es aber auch an der Zeit, sie wieder wachsen zu lassen.
»Hunger!« Mira zupft an ihrem Pullover. Doros entspannender Nachmittag löst sich auf, wie die Farben auf altem Fotopapier.
Finn bleibt auf der vorletzten Stufe stehen, lässt sich nach vorne fallen und schlingt seine Arme um ihren Hals. Drückt so fest zu, dass Doro fast die Luft wegbleibt. »Hab dich lieb, Mama!«
»Lass los, Finn!« Doro japst.
»Liebling, was gibt es denn heute Abend zu essen?«, fragt nun auch Michi aus der Küche. »Hast du die neue Autozeitschrift mitgebracht?«
»Nein. Finn, lass jetzt los.« Doro schüttelt den Sohn ab. »Ich habe nicht daran gedacht.«
Enttäuschtes Grummeln kommt aus der Küche. »Bist du nicht am Bahnhof vorbeigekommen?«
»Mama, Mama!« Mira kreuzt die Ärmchen. »Wann gibt es endlich was zum Essen?«
Finn klammert sich an einem ihrer Beine fest, lässt sich hängen. Das Gewicht des Sohnes lässt sie straucheln.
Doro atmet tief durch, nimmt Finn an die Hand und geht mit ihm in die Küche. Mira rennt an ihnen vorbei.
Michi steht bereits am geöffneten Kühlschrank. »Hättest du gesagt, dass du so lange weg bist, dann wäre ich mit den Kindern zum Ital...«
»Ich wusste ja nicht, dass es so spät wird.« Doro greift in das Gemüsefach und angelt einen Salatkopf heraus.
»Och nö, keinen Salat.« Finn zieht eine Schnute. »Pizza!«
»Ja, Pizza!«, ruft auch Mira.
»Du weißt nicht, wie lange du im Museum…?«
»Es war eine Ausstellung. Eine Fotoausstellung von Gre…«
»Hast du geraucht?« Michis Nase kommt näher.
Doro drückt sich an den geöffneten Kühlschrank, zuckt mit den Schultern. »Wenn die Kinder keinen Salat wollen, rufen wir eben den Lieferdienst.« Sie legt den Salatkopf zurück. Er ist schon leicht schleimig an den Blättern. Spätestens morgen Abend müsste sie ihn entsorgen.
Michi hat einen enttäuschten Gesichtsausdruck, schluckt aber sichtbar eine Bemerkung herunter. »Sag 'mal, Schatz. Hast du es dir eigentlich überlegt?«
Jetzt schluckt Doro. »Nicht vor den Kindern.«
»Ich meine ja nur, wenn ich jetzt das neue Projekt habe und oft weg bin …«
Brauche ich ein Baby, um beschäftigt zu sein? Sie könnte auch auf eine Vollzeitstelle wechseln. Ihr Chef fragte sie erst vor Kurzem danach, jetzt, wo die Marketing-Agentur in das Asien-Geschäft einsteigt. Das wäre für sie vielleicht auch die Chance, nach Indonesien und China zu kommen.
»Lass uns später darüber reden.« Doro lässt die Kühlschranktür zufallen und greift nach dem Handy, sucht die Nummer vom Italiener. »Funghi?«
Michi setzt sich an den Küchentisch, gibt ein Geräusch von sich. Das heißt wohl »ja«.
Es gibt diese Super-Muttis, die im weißen Hosenanzug im Café neben zwei malenden Kindern an einem Cappuccino nippen, dabei elegant das Baby mit der einen Hand an der Brust halten, gerade so, dass kein bisschen Haut, sondern nur das Köpfchen mit dem flauschigen Haar zu sehen ist, während sie zwischen Ohr und Schulter das Smartphone eingeklemmt halten und Meetings vereinbaren. Ich bin keine von diesen Supper-Muttis, denkt Doro, starrt in die Dunkelheit.
Sie lauscht Michis ruhigem Atem, berührt mit der Hand seine Brust, die sich sanft hebt und senkt. Das Bett ist warm. An der Zimmerdecke summt der Ventilator.
Damals, nachdem Bernd sie verlassen hatte, suchte sie nach jemanden wie Michael. Einen Mann, der wie sie eine Familie wollte. Anders hätte sie es sich gar nicht vorstellen können. Und vermutlich hätte sie jemanden wie Michi ohne den gemeinsamen Wunsch nach einer Schar von Kindern nie geheiratet. Wenn es einen Sinn im Leben gibt, dann ist es doch derjenige, Kinder zu bekommen, sie auf das Leben vorzubereiten auf der Welt, die sie eines Tages von der Elterngeneration übernehmen würden. Dachte so nicht jede Frau? Jedenfalls irgendwann einmal im Leben?
Doros Gedanken wandern zurück zur Ausstellung, zur Frau aus Sumatra. Gregory ist ein guter Fotograf, aber ihm fehlt das Gespür für das Detail. Ein flaues Gefühl bildet sich in Doros Magen. Sie braucht einen Moment, um zu verstehen, dass es Neid ist. Gregory hat die Chance, diese Details zu finden, sie nicht. Sie ist Mutter mit einem Teilzeitjob in einer Marketing-Agentur. Ein Schauer läuft ihr den Rücken herab. Sie tastet nach dem Schalter für den Ventilator, schaltet ihn ab. Wirft einen kurzen Blick auf Michi, der sich nicht rührt. Ihm ist immer zu heiß im Sommer. Im Winter eigentlich auch.
Doro gibt einen leisen Seufzer von sich. Als sie jung war, stellte sie sich immer vor, irgendwann zusammen mit der Familie auf Safari zu gehen, ihren fiktiven Sprösslingen das Fotografieren beizubringen, mit ihnen am Mekong zu wandern oder anfangs einfach nur in den Alpen.
Letzteres versuchte sie sogar, doch das Ergebnis waren zwei quengelnde Kinder, ein Haufen Blasen und ein Sonnenstich bei Mira, der auf dem Weg zurück nach München zu einer vollgekotzten Autorückbank führte.
Und dann war er wieder da, der Gedanke, den Doro gar nicht haben wollte, für den sie sich schämte: Was ist, wenn man alles erreicht hat, um dann festzustellen, dass man nichts davon jemals wollte?
Mira steht mit der knallroten Schultüte vor der Henriette Goldschmidt-Grundschule. Mit ihren blonden Zöpfchen und dem rosafarbenen Dirndl sieht sie entzückend aus. Doro kniet auf dem Asphalt des Schulhofes, fotografiert die Tochter. Es ist wie damals in Bamberg. Aber es waren fremde Kinder und nun ist es ihre kleine Große, die den ersten Schritt in die Zukunft macht.
Miras Gesicht verzieht sich langsam. »Mama, können wir nach Hause?«
»Ja, ja, ein Foto noch. Lächle doch einmal!« Doro rutscht auf dem Boden ein Stück nach rechts. Durch die Jeans stechen Steinchen.
»Du machst dir ja die Hose schmutzig und kaputt.« Die Schwiegermutter hat mittlerweile ein genauso gelangweiltes Gesicht wie Mira, die sich zu einem letzten gekünstelten Grinsen zwingt.
Doro steht auf, klopft sich die Jeanshose ab. »Das geht schon.«
Mira, befreit von dem Modeljob, läuft auf die Oma zu und drückt ihr die Schultüte in die Hand. »Oma, Oma, gibt es jetzt Kuchen?«
»Ja, ja. Wie war denn der erste Schultag?.« Die Oma lacht, streicht Mira über den Kopf, während Doro auf der Digitalkamera die Fotos kontrolliert. Das Licht steht nicht gut. Der rote Backstein sieht bräunlich aus, beißt sich mit Miras Dirndl.
»Ich sitze neben der Laura!« Mira zieht an Doros Pullover. »Hörst du, Mama?«
Doro steckt die Kamera weg. »Neben Laura, das ist ja großartig, Schatz.« Sie nimmt die Tochter auf den Arm. Sie ist mittlerweile so groß. So viele Jahre sind vergangen, verpufft.
Die breiten Flügelfenster in der Marketing-Agentur sind geöffnet. Jetzt, wo Mira, in die Schule geht, könnte sie vielleicht doch die Vollzeitstelle annehmen. Aber Michi liegt ihr in den Ohren mit dem dritten Kind. Das hätte sie doch auch immer gewollt, eine große Familie.
Das stimmte, aber irgendetwas ist jetzt anders. Es war schon immer anders, schleicht sich ein Gedanke durch Doros Kopf. Eigentlich kannte sie die Wahrheit schon seit Finns Geburt: Muttersein ist ganz anders als ihre Vorstellung davon als junge Frau. Sie dachte immer, dass die Leidenschaft, sie ergreifen und die Liebe für ihre Kinder, beflügeln würde. Daneben keine anderen Sehnsüchte beständen. Jedenfalls nicht so überstarke, die sie immer wieder von der Familie wegdrifteten. Wenn sie noch einmal wählen könnte, sie würde nicht mehr Mutter …
»Dorothea? Dorothea aus Bamberg?«
Doro schreckt auf. Sieht in die blauen Augen ihres Gegenübers, der sich an ihrem Schreibtisch in dem luftigen Großraumbüro drückt. Sie braucht einen Moment. Betrachtet den Mann mit dem Vollbart und den wilden Locken.
Schließlich begreift sie. »Karsten! Das ist ja wirklich lange her. Wie geht es dir?«
»Hervorragend. Ich wusste gar nicht, dass du nach München gezogen bist.«
»Ja, ich habe hier geheiratet.« Doro dreht verlegen an ihrem Ehering. Hoffentlich fragt er jetzt nicht …
»Und, du machst sicherlich noch so tolle Fotos.« Karsten lacht.
Ein Stich im Magen ruft ein wenig Übelkeit hervor. Doro erinnert sich. Sie war die Fotografin auf der Silberhochzeit seiner Eltern. Kurz denkt sie an ihre letzte Fotosession mit Mira als unwilliges Model vor der Grundschule. Schüttelt den Kopf. »Nein, das ließ sich nicht mehr mit der Familie vereinbaren. Ich bin nun Assistentin von Dr. Brehm. Kümmere mich um die Termine mit den Fotografen und so weiter.«
Karsten lässt seinen Blick über die Tische des Großraumbüros streifen. »Ach, das ist aber schade. Du warst so talentiert.«
»Und du? Was machst du hier?«, versucht Doro vom Thema abzulenken. Du warst so talentiert, wiederholt sie in ihrem Kopf. Was soll das denn heißen? Ihre Hände unter dem Schreibtisch werden feucht.
»Ich habe dies und das gemacht. Ein paar Reportagen geschrieben. Habe mich dann nach der Scheidung mit meiner eigenen Pferderennsportzeitschrift ganz neu aufgestellt.«
Doro nickt. Für Pferde hatte Karsten schon immer ein Faible. Seine Augen leuchten.
Sie merkt, wie ihre wässrig werden, versucht zu lächeln. »Das klingt gut.«
»Ist es auch. Ich bin viel in England. Bei den Züchtern. Begleite Pferderennen auf der ganzen Welt.«
Er sieht wirklich zufrieden aus, stellt Doro mit Wehmut fest. »Dann hast du keine Kinder?«
»Doch, doch. Drei Stück sogar. Elf, zwölf und fünfzehn. Zwei Jungen und ein Mädchen. Die leben aber seit der Scheidung bei der Mutter. Wir haben eine lockere Vereinbarung. Ich sehe die Kinder, wann ich kann.«
»Und das funktioniert?«
»Hervorragend. Ich bin viel entspannter. Die ganze Zeit unter einem Dach, das war nichts für mich. Aber wir machen oft zusammen Urlaub. Anfangs hatten wir so eine Jedes-Zweite-Wochenende-Regelung, aber das ließ sich auf Dauer nicht mit meinem Job vereinbaren. Ella, meine Ex, ist da glücklicherweise flexibel.«
»Und deine Kinder, vermissen sie dich nicht?« Doros Knie werden etwas zittrig. Karsten scheint wirklich glücklich zu sein mit seiner Teilzeitfamilie.
»Anfangs war es schwierig. Aber irgendwann haben sie auch gemerkt, dass es besser ist, wenn die Eltern sich nicht ständig anschreien und sie kommen mit dem Neuen meiner Frau prima klar. Er hat auch zwei Kinder. Eine richtige Rasselbande.« Karsten lacht. Streicht eine Locke hinter das Ohr. »Und du?«
Doro schaut auf ihre Hände. »Ähm, zwei Kinder. Sechs und neun. Mira und Finn.«
»Ach, schön. Du bist sicher eine tolle Mutter. War nett, dich wiederzusehen. Ich muss jetzt aber, habe einen Termin mit Dr. Brehm wegen einer Werbekampagne. Vielleicht sieht man sich ja wieder.« Karsten schlägt die flache Hand auf den Großraumbürotisch, was ein dumpfes Geräusch hinterlässt. Ihr PC wackelt.
Doro nickt. »Ja, vielleicht.«
Karsten verschwindet, hinterlässt den Geruch eines teuren Afters-Shaves und, Doro könnte schwören, auch ein wenig von Heu und Pferden.
Doro steht vor dem Badezimmerspiegel, bürstet das Haar, das ihr mittlerweile struppig über die Augen hängt, am Hinterkopf kräuseln sich erste Locken.
Michi kommt rein, zieht das Unterhemd aus, um sich zu rasieren. Drängt sich neben sie an das Waschbecken. »Na, Schatz.« Er drückt ihr einen Kuss auf die Wange. »Wie wäre es heute Nacht mit uns beiden?« Er gibt ihr einen Klaps auf den Po.
Doro verstaut die Bürste wieder im Spiegelschrank der Eigentumswohnung. Sie hasst diese Schränke, erinnern sie an den Sechzigerjahremietklotz ihrer Oma. Doch Michi findet das so praktisch. Alles griffbereit für die Familie. Immerhin setzte sie sich bei den weißen Fliesen durch. Doro beißt sich auf die Lippen. »Ich muss – wir müssen reden.«
Michi starrt sie an. »Reden?«
»Ja, das mit dem Kind. Dem Baby. Ich weiß nicht ... Dr. Brehm hat mir ein Angebot gemacht. Ich soll Vollzeit arbeiten und ein Teil des Asiengeschäfts betreuen.«
Michis Augen werden größer. »Das hast du doch gar nicht nötig. Mit dem neuen Job verdiene ich mehr als genug. Da könnten wir noch zwei ...«
»Das ist es nicht«, sagt Doro. »Ich möchte das gerne machen. Ich könnte ihn sogar begleiten nach Indonesien und ...«
Michi setzt sich auf den Badewannenrand. »Du willst mit dem Brehm nach Indonesien? Wie soll ich mir ...«
»Jetzt mach da nicht so eine Nummer draus. Der Brehm ist verheiratet und gar nicht mein Typ.«
»Das hört man ja oft genug. Dass sie dann auf der Geschäftsreise ...«
»Du bist auch ständig auf Geschäftsreise.«
»Das ist doch etwas anderes.«
»Was ist anders?«
Michael schaut zur Decke. »Und überhaupt Indonesien. Wer kümmert sich denn dann um die Kinder?«
»Deine Mutter?« Doro zuckt mit den Schultern. »Mira und Finn sind doch ohnehin oft nach der Schule bei ihr und ...«
Michi schüttelt seinen Kopf, vergräbt das Gesicht kurz in den Händen, bevor er wieder aufschaut. »Wir sind neununddreißig. Wie lange sollen wir mit dem dritten Kind noch warten? Du wirst auch nicht ...«
Doro atmet tief durch. »Gerade jünger? Nein, das werde ich nicht. Deswegen will ich das jetzt versuchen. Ich möchte etwas aus meinem Leben machen, etwas Produktives tun.«
»Aber, du machst etwas Produktives. Du hast eine Familie. Wir waren uns doch einig, dass du Teilzeit arbeitest und dich um die Kleinen kümmerst.«
Doro seufzt, blickt hoch. So steht's auch im Ehevertrag. »Das reicht mir aber nicht. Ich dachte, du würdest das verstehen. Du entwickelst dich doch auch weiter mit dem neuen Job. Das ist ja auch prima, aber ich will auch etwas für mich.« Und ganz sicher kein Jodeldiplom. Doro reibt die Handflächen aneinander. Sie sind nass.
»Du hast doch Finn und Mira und ist das neue Kind erst einmal da ... Und irgendwann sind sie alt genug, dann können wir einmal zusammen nach Indonesien.«
»Einmal zusammen nach Indonesien.« Doro lacht verbittert. »Du verstehst nicht, was ich meine.«
Michael steht auf. Schaut aus dem Badezimmerfenster in den Vorgarten. »Nein, ehrlich gesagt nicht. Ich dachte immer, es wäre alles in Ordnung.«
»Irgendwie war es das auch. Aber manchmal – manchmal sind mir sogar Finn und Mira zu viel. Ich glaube, ich will kein drittes Kind.«
Michael dreht sich abrupt um. »Was heißt, sie sind dir zu viel?«
»Sie sind – beanspruchend. Mir bleibt kaum Zeit für mich. Und ich frage mich, wann die Zeit kommt, an der ich wieder frei bin, etwas aus meinem Leben zu machen.«
»Etwas aus deinem Leben zu machen?«
Doro nickt.
»Ist das jetzt deine Midlife-Crisis?«
»Haben Sie es sich überlegt?« Dr. Brehm sitzt hinter dem großen Glasschreibtisch, wie immer schaut er in seinen Computer, während er mit seinen Angestellten spricht.
»Ich habe mit meinem Mann geredet.« Doro sieht an dem Chef vorbei aus dem Fenster. »Wir sind uns noch nicht sicher, wegen der Kinder.«
»So klein sind die doch gar nicht mehr.« Der groß gewachsene Mann kratzt sich die Halbglatze. Tippt etwas in den PC.
»Sechs und neun.«
»Kann die Oma nicht aufpassen? Und es wäre ja nur ein- oder zweimal im Jahr, dass wir tatsächlich nach Asien müssten. Und auch nur für wenige Tage. Wird ein voller Terminkalender.« Dr. Brehm gibt ein heiseres Lachen von sich.
Voller Terminkalender, wann soll ich dann ...
Mit einem Schlag wird es Doro klar: Sie will nicht diesen Job. Sie will ...
Doro steht auf. »Bitte geben Sir mir noch eine Woche. Ich muss noch einmal mit meinem Mann sprechen.«
Und mit Ihnen.
In der Nacht träumt Doro von der Frau aus Sumatra. Wie sie auf einem Feld vor ihr hergeht, sich zu ihr umdreht. »Du hättest so viel mehr aus mir machen können.«
»Ja, aber ich habe keine gute Kamera.«
»Du bist Fotografin.« Die alte Frau lacht laut, bis Doro aufwacht. Schweißperlen laufen über ihr Gesicht.
Doro starrt ins Leere. Denkt an Karsten und seine Pferdezeitschrift. Was Karsten kann, das kann sie auch. Sich selbstständig machen, fotografieren, reisen. Ihrer Leidenschaft nachgehen und den Kindern geht es gut bei Michi und der Oma, die sogar eine viel bessere Mutter ist. Besorgt, interessiert, nicht ständig mit den Gedanken bei etwas anderem.
Michi regt sich neben ihr. »Guten Morgen, Schatz. Schon wach?«
Doro richtet sich auf. »Du hast recht.«
Michi schaut sie irritiert an. »Womit?«
»Es ist wirklich die Midlife-Crisis.«
»Einsicht ist der erste Weg zur Besserung, Schatz. Wollen wir jetzt doch das dritte Kind?« Michi zwinkert ihr zu und greift sich symbolisch an dem Saum seiner Unterhose.
Doro sieht ihn an. »Nein, ich will die Scheidung.«
Es ist still am Frühstückstisch. Selbst Mira und Finn sind leise, beißen brav in ihre Schokoladencremeschnitten. Fast so, als würden sie die Spannung in der Luft spüren.
»Möchtet ihr nicht spielen gehen?« Doro räumt das Geschirr ab.
Finn nickt, nimmt die Schwester an die eine Hand und das restliche Brot in die andere. Sein Mund ist total verschmiert. Für einen Moment muss Doro lächeln.
»Mag nicht mehr«, sagt Mira und wirft das angebissene Brot zurück auf den Teller.
»Schon gut.« Doro nimmt den Teller und leert ihn über den Biomülleimer.
Mira sieht die Mutter mit großen Augen an.
»Geht ruhig«, sagt Michi, zieht Mira zärtlich am Zopf. Die Kinder verschwinden in den Garten, werfen sich in das abgefallene Laub.
»Ich verstehe nicht ...« Michis Blick ist versteinert, furchig wie der der alten Frau aus Sumatra.
»Glaub mir.« Doro setzt sich ihm gegenüber. »Ich mache mir das nicht leicht.«
»Warum machst du das überhaupt?« Verzweiflung klingt aus seiner Stimme. Die blauen Augen wirken glasig.
»Weil ich nicht glücklich bin.« Doro schaut auf die Hände. Ein weißer Streifen am rechten Ringfinger markiert die Stelle, an der sie im Sommer den Ehering trug.
»Weil du nicht glücklich bist mit was? Mit mir? Gibt es einen ander...«
»Nein. Ich. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll.« Doro streicht sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich saß beim Brehm im Büro und er fragte nach wegen der Vollzeitstelle. Und dann dachte ich an Karsten und ...«
»Karsten?« Schweißtropfen bilden sich auf Michis Stirn. Er sucht nach seinem Gleichgewicht. Er ist nicht der Typ, der aus der Haut fährt. Er möchte immer alles unter Kontrolle halten. In Ordnung.
»Ja, den kenne ich aus Bamberg«, fährt Doro fort. »Der stand plötzlich vor mir im Büro. Er hat jetzt eine eigene Zeitschrift und ...«
»Ich verstehe nicht ... Läuft was mit diesem Karsten?« Jetzt wird Michis Stimme doch lauter.
»Nein, nein.« Doro steht auf, lehnt sich an die Wand, verschränkt ihre Arme. »Es ist nur, mir wurde auf einmal klar, dass ich diese Vollzeitstelle vom Brehm gar nicht will, sondern ich will etwas machen wie Karsten. Etwas, wofür ich glühe. Etwas mit Leidenschaft.«
»Leidenschaft?« Michi gibt ein glucksendes Geräusch ab. »Bin ich dir nicht mehr Leidenschaft genug?« Sein Gesicht wird rot. Unter dem Küchentisch tritt er abwechselnd mit den Füßen auf den Marmorboden. Rückt den Stuhl zurecht, sodass es beständig quietscht.
Doro atmet tief durch. »Nein. Und ich weiß nicht, ob das jemals der Fall war. Was ist, wenn wir alles erreicht haben, um dann festzustellen, dass wir nichts davon jemals wollten?«
»Was meinst du damit?«
Doro überlegt, wie sie Michi erklären soll, was sie selbst erst gerade begreift: Sie will keine Teilzeitjobberin sein, sondern eine Teilzeitmutter. Mit selbstsicherer Stimme sagt sie schließlich: »Ich dachte immer, dass mich das glücklich machen würde. Heiraten, die Kinder, eine eigene Wohnung mit Garten, der Job in der Marketingagentur ... ich habe aber nicht gemerkt, dass ich schon längst gefunden habe, was mich glücklich macht.«
»Und was soll das sein?«
»Das Fotografieren.«
Die langen Locken kleben verschwitzt an Doros Schultern, als sie im Gunung Leuser, einem der größten Nationalparks Indonesiens, im Gebüsch sitzt. Vor ein Haufen Steine, der in der tropischen Hitze vor den Augen zu vibrieren scheint. Die Anspannung lässt sie zittern. Sie traut sich kaum zu atmen. Und dann – kommt er.
Mit geschickten Klimmzügen angelt sich der rotbraune Orang-Utan auf einen der Steine. Ein weiterer folgt, setzt sich zu ihm, laust ihm das Fell.
Klick, klick, klick.
Ihr Herz schlägt schneller. Weitere Affen kommen aus dem Gebüsch gegenüber hervor. Doro strahlt und mit einem Male ist ihre Aufregung verschwunden.
Klick, klick, klick.
Die heiße Luft riecht nach Sand, den roten Kelchblüten neben ihr, die in die Luft ragen, sich ihren Weg durch das dichte Grün suchen.
Die Affen auf dem Felsen sind kräftig, fröhlich. Springen auf den Steinen. Unabhängig. Frei.
Am Abend sitzt sie in einem der für Touristen hergerichteten Häuser des Nationalparks. Es ist angenehm kühl und duftet nach Stroh. Eine SMS erreicht ihr Handy. Mira. Sie ist mittlerweile zehn und geht auf das Gymnasium. Eine richtige Streberin ist sie.
»Wie ist es in Indonesien?«, schreibt sie.
Doro lächelt. »Endlich Orang-Utans fotografiert! Nach sechs Wochen auf der Lauer!«, schreibt sie zurück und hängt das Foto einer Orang-Utan-Dame mit ihrem Kleinen auf dem Rücken an.
Bereits im Kongo konnte sie in den letzten Jahren Schimpansen und Gorillas fotografieren. Als sie nach Sumatra umzog, dachte sie, sie würde die rotbraunen Vetter und Cousinen ebenfalls schnell vor die Kamera kriegen. Aber die Orang-Utans zogen ihr einen Strich durch die Rechnung. Doro lacht. Es ist ein guter Tag, vielleicht der beste in ihrem Leben.
Sie legt das Handy weg, denkt kurz zurück an die Zeit in Deutschland. An die kalten und verregneten Sommer, die stickigen Münchner U-Bahnen und die teure Eigentumswohnung, die Michael nun mit seiner neuen Frau bewohnt. Zwillinge bekamen sie vor zwei Jahren. Zwei Jungs.
Bald würde Finn sie besuchen kommen, hier auf Sumatra.
Das Smartphone bimmelt und vibriert auf dem Tisch, wandert ein Stück zur Kante.
Auf dem Display erscheint: »Süüüüüüüß!!!!!!!«