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- 02.09.2015
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Kreis mit Kreuz: Tamara (Novelle)
I.
Vertikal fließen blaue Linien von der rechten oberen Ecke nach unten, träufeln auf den unteren Rand. In der Mitte strahlt ein gelber Fleck gleich einer zerfledderten Sonne, während hellblaue Tropfen in der Corona explodieren.
Die Farben sind grell, beißend und erinnern Tamara an den Schrammelrock in der Kneipe ihres Bruders. Gut gemeint, aber einfach drüber. Wie alles in der Bierbude am Mainufer, in der die Stammgäste an der Theke zusammen mit den Holzwürmern verrotten.
Am kühlen Champagner nippt Tamara so gekonnt, dass ihr knallroter Drogerie-Lippenstift nicht am Rand des tulpenförmigen Kristallglases haften bleibt. Sie betrachtet die weiteren Gemälde an der weißen Wand. In einer Ecke steht der Künstler, ein gewisser Raffael Da Vinci, mit dem feisten Galeristen. Tamara mag ihn nicht besonders, den Dicken, ihren Arbeitgeber. Aber hier bekommt sie kostenloses Buffet und Blubberwasser so viel sie will, und nicht zuletzt eine gute Bezahlung. Für das Rumstehen, Nettaussehen und den einen oder anderen Plausch mit neureichen Herren, die von Kunst keine Ahnung haben, aber dennoch damit angeben wollen.
Anfangs war sie Idealistin, dachte noch, dass sie mit ihrem Wissen die Galerie bereichern könnte. Hinter jedem Kunstwerk steht eine Geschichte und zu gerne hätte sie davon erzählt. Tamara unterdrückt ein Auflachen. Sie, als gescheiterte Studentin der Kunstgeschichte; als ob sie jemals etwas am Kunstbetrieb hätte ändern können. Sie verstand schnell, dass die Herren sich lieber selbst reden hören, während sie ihr in den Ausschnitt starren.
Tamara lehnt sich an die Wand. Zwischen zwei der blauen Bilder. Der Duft der Ölfarben zieht ihre Nase hoch. In der hintersten Ecke steht eine ältere Dame mit Nickelbrille vor dem rot-grünen Zwilling des Sonnenbildes, betrachtet es und schreibt sich etwas in ein schwarzes Büchlein. Am Ende wird die Dame die einzige sein, die etwas kaufen wird. Das Leben brachte Tamara schnell bei: Männer prahlen, Frauen handeln. Sie erinnert sich, wie sie als Kind in der Kneipe den Geschichten der Betrunkenen zuhörte, deren Frauen an der Supermarktkasse das Geld verdienten, das die Herren der Schöpfung beim Plausch über die großartigsten und abwegigsten Geschäftsideen wieder vertranken.
Tamara verdrängt den Gedanken aus ihrer Kindheit. Wendet sich wieder der Dame zu, die ihre Hilfe nicht braucht. Sie kennt die Dame schon lange. Aus einem Praktikum in einer anderen Frankfurter Galerie. Eine der großen und renommierten. Warum und weshalb Tamara letztlich bei Hans-Jörg landete, weiß sie selbst nicht mehr genau. Ebenso wenig, warum sie das Studium kurz darauf hinschmiss und sich neben diesem Job einmal hier und einmal da verdingte, von einem »Freund« zum nächsten zog, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Dabei war alles, was sie jemals wollte eine echte Familie.
Tamara nimmt einen großen Schluck Champagner und zieht ihn vor dem Schlucken durch die Backenzähne, als wolle sie sich den Mund ausspülen. Es sprudelt leicht bitter auf der Zunge. Das Leben ist eine fucking Kneipe. Dunkel, modrig und überall hängt ein Hauch von Alkohol in der Luft. Und das schlimmste ist: Irgendwann bemerkt man, dass der Moder aus den eigenen Poren kommt.
Mittlerweile sind die Besuche in der Galerie für Tamara reine Routine. Jedoch heute fällt es ihr schwer, ruhig zu bleiben, professionell. Sie nähert sich der Ecke am Schaufenster. Da Vinci und ihr Gönner scheinen sich blendend zu unterhalten. Das ist erstaunlich. Gegensätzlicher könnten die beiden Männer nicht sein. Der kleine, dicke Galerist im hellgrauen Anzug mit blauer Krawatte, schmalzigen Locken und braunen Lackschuhen. Hans-Jörg ist reich, erinnert Tamara dennoch an Veit, einem schläfrigen Fettsack in Jogginghose, der ihr als Kind auf dem Po schlug und immer am gleichen Tisch weit weg von jedem Fenster saß. Hätte man ihn in einen Anzug gesteckt …
Der groß gewachsene, schlanke Künstler dagegen erregt Tamaras Interesse. Seine Bewegungen sind elegant, routiniert. Schön. Als hätte er vor dem Spiegel geübt. Wie seine Muskeln sich unter der engen Lederhose anspannen, er mit gepflegten Fingern am Kragen seines schwarzen Steve-Jobs-Rollis spielt und seine Tätowierung auf dem Kopf sich mit jedem Runzeln regt. Ein Drache, dessen Feuerflamme sich bis auf die Mitte der Stirn zieht. Er könnte genauso gut Guru einer Sekte sein. Oder Schauspieler. Oder … Tamara kann nicht anders, als immer wieder in seine Richtung zu schauen. Dabei dürfte Da Vinci so alt sein, wie es ihr Vater heute wäre. Ein geradezu absurder Vergleich. Ihr Vater hielt nichts von Kunst, sondern verdingte sich sein Lebtag hier und da als Türsteher, bevor er einer der Kneipen übernahm, um einige Jahre später als sein bester Gast mit achtundvierzig an einer Leberzirrhose zu sterben. Im Grunde war der Tod des Vaters nichts weiter als ein vorhersehbarer Unfall am Wegrand ihres Lebens. Sie kämpfte sich schon immer selbst durch. Mit vierzehn zog sie zu ihrem ersten Freund. Vater und Bruder schien das damals nicht zu interessieren. Ihr Bruder interessiert sich bis heute nicht für sie. Einmal bot er ihr an, sie könne sich etwas in der Kneipe dazu verdienen, ein bisschen nett sein zu den Stammgästen, sie wisse schon …
Tamara leert das noch halb volle Glas in einem Zug, stellt es auf das silberne Tablett einer vorübergehenden Kellnerin. Vermutlich eine Studentin, die sich etwas dazu verdient, denkt Tamara, nicht ohne Zynismus. Vielleicht sogar eine Studentin der Kunstgeschichte. Tamara schluckt die wiederaufkommende Bitternis auf der Zunge herunter.
Sie schaut noch einmal zu den beiden Männern. Ein kühler Schauer lässt sie frösteln. Sie bewegt sich langsam in ihrem online bestellten, rückenfreien Kleid, dessen Preisetikett sie unter ihren dichten, schwarzen Haaren knapp über dem Po versteckt hält, auf ein anderes Gemälde zu. Ebenfalls blau, doch dieses Mal erinnert die Kugel in der Mitte an einen Ozean. Tamara fühlt ein Kribbeln in ihrem Nacken, das sich den Rücken hinabfrisst. Sie dreht sich um. Da Vincis und ihr Blick kreuzen sich für einen Moment. Ein Lächeln geht über das Gesicht des Mitfünfzigers, verschwindet so schnell wie es kam. Er könnte mein Vater sein, wiederholt sie ihn ihren Gedanken, als müsse sie sich ihn ausreden, obwohl sie ihn noch gar nicht wirklich kennt.
Ein älterer Herr nähert sich ihr. Galantes Lächeln, schwarzer Anzug, italienische Lederschuhe. Tamara kommt er bekannt vor.
»Das Fräulein Tamara ist auch wieder hier.« Der Herr hat eine ungewöhnlich hohe Stimme für sein Auftreten. Das fällt auf. Ebenso seine buschigen Augenbrauen und die grauen Härchen, die aus seiner Nase wachsen.
Ein typischer »Alter weißer Mann«, nein, ein typischer »Alter weißer, reicher Mann«. Tamara schluckt Ärger und Ekel runter, setzt ihr süßestes Lächeln auf. »Wie schön Sie wiederzusehen.«
»Es ist mir immer wieder eine Freude.« Der Herr greift nach ihrer Hand und drückt ihr einen feuchten Kuss auf. Tamara bemüht sich, weiterhin zu lächeln, während sie sanft die Hand entzieht, heimlich den Speichel an dem Kleid abputzt, als der Herr für einen Moment tief mit der Nase in sein Champagnerglas schaut. Anschließend rückt er seine Hornbrille zurecht, auf welcher nun kleine Alkoholtröpfchen wabbeln. »Ein außerordentlich talentierter Künstler.«
»Sie möchten eines kaufen?«, fragt Tamara in einem Tonfall, der Interesse vorgaukelt. Wenn sie ehrlich zu sich ist, dann brachte die Kunst ihr nur Unglück, ein Studium, von dem sie sich entfremdete, dreimal Liebeskummer und eine Abtreibung mit Sechzehn, die sie ohne Erfolg zu vergessen versucht. Manchmal bildet sie sich ein, das Kind noch zu spüren, wie es in ihr wächst. Erst als es nicht mehr da war, wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich so etwas wie eine Familie wünschte. Aber sie konnte es sich damals nicht erlauben Mutter zu sein. Und der Vater konnte sich nicht einmal vorstellen, eine Zweierbeziehung zu führen. Mit einem innerlichen Seufzen strahlt sie den potentiellen Kunden an.
Der alte Herr winkt ab. »Ach, wo denken Sie hin. Aus dem wird nichts.«
Er lächelt sie an, als würde er Fragezeichen in ihrem Gesicht suchen. Aber Tamara schockt nichts mehr. Sie reißt die Augen auf und formt die roten Lippen zu einem stummen »Oh«.
Ihr Gegenüber sieht seinen großen Auftritt kommen. »Ihm fehlt das Charisma. Sonst hätte er es schon längst geschafft. Mitte Fünfzig und noch kein Durchbruch? Der ist zu alt für den Kunstmarkt.«
»Van Gogh wurde erst nach seinem Tod berühmt.«
»Ja, früher. Aber heute ist der Kunstmarkt ein Spektakel. Da muss der Künstler sich zu einer Marke machen, die er zelebriert. Der zurückgezogene Einsiedler mit seinen zwei Huskys in der Lehmhütte, der sein Wasser filtert, oder der schwule Partyhengst in NY, der den Champagner nur so spritzen lässt. Dazwischen gibt es nichts mehr.«
Tamara zuckt mit den Schultern, fragt sich, wo er Xenia Hausner oder Fujiko Nakaya sähe. »Wenn Sie meinen.« Sie setzt wieder ein Lächeln auf. Ihr Job ist es, nett zu den potentiellen Kunden zu sein und sie zum Kaufen zu animieren, nicht mit ihnen zu diskutieren. »Und Sie möchten keine Risikoanlagen mehr …?« Das »In-Ihrem-Alter« schluckt Tamara gekonnt so runter, dass ihr Gegenüber das Unausgesprochene trotzdem hören kann.
Durch die Tropfen auf seiner Hornbrille schaut er sie an, der alte Herr, rückt das Gestell am rechten Ohr nochmals zurecht und räuspert sich in die zur Faust geballten Hand. Schließlich ist er es, der mit den Schultern zuckt. Geht einen Schritt zur Seite zu einer knallroten Leinwand, in deren Mitte wieder ein gelb, ausgefranster Kreis zu sehen ist. Sie ist nicht ganz so groß wie die anderen. Der Herr bückt sich, geht näher ran und verzieht das Gesicht, um das kleine Täfelchen mit dem Preis lesen zu können. »Tja, hm. Das ist ja noch erschwinglich.«
»Herr Krüger!« Es ist die Stimme des Galeristen. »Ich sehe, schon ganz vertieft. Hat Ihnen unsere Tamara alles gezeigt?«
»Das Fräulein Tamara ist sehr zuvorkommend.« Der Alte dreht sich um, setzt einen sehr geschäftigen Blick auf, während er sich aufrichtet.
Neben Tamara steht Da Vinci. Er duftet nach einer Mischung aus Bergamotte und Moschus. Der Duft löst einen Funkenflug in ihrem Kopf aus.
»Habe ich Ihnen schon Raffael Da Vinci vorgestellt?« Der Galerist schaut den Krüger an, nicht sie.
Da Vinci nickt dem alten Herren zu. Sie bleiben auf Abstand. Hans-Jörgs Finger zeichnet in der Luft den gelben Kreis auf dem Gemälde nach. Krüger nickt dazu interessiert, gaukelt Kaufwillen vor. Am Ende wird die alte Dame, die Einzige sein, die etwas kauft. Da ist Tamara sich sicher.
Der Spätnachmittag nähert sich. Nachdem die Sonne nicht mehr durch die großen Glasfenster scheint, wird es kühler in der Galerie. Eigentlich schließen sie am Vormittag die Vorhänge, aber nicht bei Vernissagen. Dann sollte alles erstrahlen. »So schön sein wie du«, witzelte der Dicke am Morgen. Und Tamara widersprach nicht. Ihr Aussehen ist ihr Kapital und zurzeit bestreitet sie von den Einkünften bei Hans-Jörg fast ihr gesamtes Leben.
Als der letzte Interessent die Galerie verlässt, nimmt Tamara ihr Halstuch, bindet die schwarzen Haare damit turbangleich zusammen. Sie geht in das kleine Büro von Hans-Jörg. Als sie im Inbegriff ist, ihre abgewetzte Jeansjacke überzuziehen, berühren warme Finger ihren nackten Rücken, knapp oberhalb ihres Pos.
»Das Preisschild hängt raus.« Es ist die Stimme Da Vincis. Flüsternd, in einem weichen Tonfall, gleichzeitig rau, aber dennoch irgendwie weich.
Leicht errötet dreht Tamara sich um. »Danke …« Schnell zieht sie die Jacke an. Knöpft die letzten drei vorhandenen Knöpfe zu.
»Kein Problem. Ein hübsches Kleid und … mögen Sie mit rüber ins Café?« Da Vinci lächelt sie an. Um seine Mundwinkel bilden sich tiefe Falten.
Tamara nestelt in ihrer Jackentasche herum.
»Ich lade Sie natürlich ein.« Die Falten bilden noch größere Furchen.
»Ein bisschen Zeit hätte ich noch.« Tamara versucht, das Magenknurren zu unterdrücken, überspielt das Geräusch, indem sie möglichst laut mit den hohen Absätzen auftritt, als sie Da Vinci aus dem Büro folgt.
»Und Sie sind also das Fräulein Tamara?« Seine braunen Augen haben etwas Schelmisches, aber auch etwas Tieftrauriges, Resigniertes. Der Moder riecht aus unser aller Poren, denkt Tamara.
»Meine Freunde nennen mich Tam«, antwortet sie, auch wenn das gelogen ist. Sie hat keine Freunde, aber tief in ihrem Gedächtnis ist Tam noch gespeichert, zusammen mit einer Spielkameradin aus dem Kindergarten, die sie mit piepsiger Stimme rief. Aus welchen Gründen auch immer, wünscht sie sich, dieses Tam geformt von seiner weich-rauen Stimme zu hören.
»Tam wie Tamtam?« Jetzt lacht er, greift nach ihrem Arm und führt sie Richtung Ausgang.
Sie wird noch röter. »Wo ist Hans-Jörg? Ich muss …«
»Der Dicke ist zum Klo. Kommen Sie.« Da Vinci hält ihr die Tür auf und sein Blick deutet ihr, dass er keine Lust hat, sich noch weiter mit Hans-Jörg zu beschäftigen. Er leckt sich über die Lippen und räuspert sich. »Ich heiße übrigens – Norbert.«
Es ist ein altes Café, so eines mit sahnetriefenden Torten und vergilbten Spitzengardinen. In ihnen hängt der Mief der letzten Jahrzehnte. Norbert zieht den Stuhl am runden Tischchen wie ein Kellner hervor, damit Tamara sich setzen kann. Angetan von der Geste werden ihre Hände feucht und sie bemüht sich, nicht zu nervös zu wirken. Der Künstler ist galant. Ganz anders als ihr Vater oder ihr Bruder.
»Und du arbeitest schon lange für Hans-Jörg?« Norbert setzt sich nun selbst und winkt die Kellnerin herbei, aus deren schwarzen Röckchen knochige Beine starren. Das graue Haar ist zu einem strengen Dutt frisiert. »Kännchen Kaffee, der Herr, die Dame?« Sie krächzt mehr, als dass sie spricht.
»Gern«, antwortet Norbert und sieht Tamara fragend an, die nickt. »Dann zwei Kännchen Kaffee und für mich ein Stück von dieser Grillagetorte. Was magst du?« Er schaut wieder zu Tamara, die an den Enden der Tischdecke zupft. »Für mich nichts. Danke.«
Die Kellnerin tut professionell, notiert sich etwas auf ihrem Block, obwohl sie die einzigen beiden Gäste sind.
»Keinen Hunger?« Er wendet seine Blicke keine Minute von Tamara ab.
Er hat braune Augen wie ein Reh, denkt sie. »Ich steh nicht so auf Süßes.«
»Sie haben sicher auch etwas …«
»Nein, nein … das ist in Ordnung.« Die Aufregung blockiert den Hunger und ein flaues Gefühl bildet sich in ihrem Magen. Er ist hübsch, markant und das leicht unrasierte Kinn lässt ein Ergrauen erahnen.
»Und Hans-Jörg?«
»Was?« Tamara klimpert mit den Augenlidern.
»Der Dicke, wie lange arbeitest du schon für …«
»Oh, ja. Seit vier Jahren, ab und an. Ansonsten verdiene ich mir etwas als Modell dazu für Bodypainting oder …«
»Du machst Bodypainting?«
»Na ja, ich lasse mich anmalen.« Sie errötet noch mehr unter dem Make-Up, das sich anfühlt, als würde es ohnehin jeden Augenblick von ihrem Gesicht hinabfließen.
»Fühlt sich das nicht – nackt an?« Norberts Blick wirkt aufrichtig interessiert und in seiner Stimme ist kein bisschen von der Verachtung, die Tamara sonst angesichts des Nebenjobs begegnet.
»Nein. Das heißt, anfangs schon, ein wenig. Aber man gewöhnt sich dran.«
Er lehnt sich zurück und verschränkt die Arme. Betrachtet sie aufmerksam. Ob er sich nun vorstellt, wie sie entkleidet in einem Raum steht, ihre Nackheit unter gelben Sonnen und blauen Ozeanen verschwindet? Alleine der Gedanke lässt ihre Haut prickeln.
»Da hast du recht. Man gewöhnt sich an fast alles. Ich habe schon viel in meinem Leben gemacht«, fährt er fort. »Bodypainting noch nicht, aber …«
»Die Grillagetorte und zwei Kännchen Kaffee, die Dame, der Herr.« Die Kellnerin krächzt in das Gespräch. Beim Absetzen klirrt die Gabel auf dem Teller und das Tischchen wankt.
»Und was machst du so?« Tamara nimmt einen Schluck vom Kaffee. Er ist bitter und etwas schal, stoppt aber das Knurren ihres Magens.
»Malen.« Norbert lacht.
»Nichts anderes?« Tamara beobachtet, wie Norbert ein Stück der Torte in den Mund schiebt, Sahne an seinem Mundwinkel hängen bleibt. Er nimmt noch ein Stück der Kalorienbombe, bevor er sich über die Lippen leckt, auf denen ein feuchter Schimmer zurückbleibt. Dabei bewegt sich die Feuerflamme auf seiner Stirn, als würde sie brennen.
Er nimmt einen Schluck Kaffee. »Nichts von Bedeutung.« Er lehnt sich mit verschränkten Armen zurück, so als habe er sich gerade überlegt, doch nichts von seinen vielen Jobs zu erzählen.
»Ich habe einmal Kunstgeschichte studiert. Ist auch nicht von Bedeutung.« Es fällt ihr nach wie vor schwer, von ihrem gescheiterten Studium zu sprechen. Lange Zeit redete sie sich ein, sie könnte das meistern, studieren und arbeiten.
Norbert gleitet mit dem linken Zeigefinger über seine Lippen, schaut sie an, sagt nichts.
Tamara versucht seinem Blick standzuhalten, schafft es nicht, sucht Halt an der Kuchentheke mit den übergroßen Tortenstücken.
»Wartet jemand auf dich?« Seine Worte lassen sie zittern.
»Nein«, antwortet sie. »Auf mich wartet niemand.« Jedenfalls niemand von Bedeutung.
II.
»Ich gehe nach München. Hab da ein Ladenlokal mieten können. Eine gute Geschäftsidee.« Er klingt verschlafen.
Tamara wickelt sich die dünne Decke um den nackten Körper, bevor sie aufsteht und Richtung Fenster geht. Norbert lebt in einer Fünfunddreißigquadratmeterwohnung mit einem kleinen Balkon Richtung Vermieterinnengarten. Sie öffnet die Tür, atmet die frühlingshafte Luft ein. »Eine Galerie?«, fragt sie rhetorisch.
»Nein, eher eine Art – Studio.«
»Studio? Für was?« Tamara verstand längst, dass die Malerei für Norbert wie Asthma ist. Es kommt in Schüben, raubt ihn jede Luft zum Atmen, seine Gemälde sind Zuckungen im Überlebenskampf. Ist der Schub vorbei, ist er nicht länger Raffael Da Vinci oder je nach Belieben Leonardo Sanzio, sondern Chan Chao, der Telefonseelenheiler mit imitierten chinesischem Akzent oder im Moment eben Meister Krishna, der Yoni-Meister, der nach einem nächtlichen YouTube-Grundkurs und einer weiteren Nacht praktischer Übungen an Tamara, Reels mit seiner Smartphonekamera dreht.
Er hüstelt, während er sich aufrichtet. »Dieses Yoni-Ding. Das scheint gut zu laufen. Lauter frustrierte Hausfrauen, die das Haushaltsgeld anlegen wollen. Mit einem eigenen Studio könnte ich viel mehr verdienen, als nur durch diese Kurzvideos.«
»Und warum München?« Tamara steht mittlerweile auf dem Balkon.
»Warum nicht. Dort war ich noch nie und ein alter Kumpel konnte mir da was vermitteln.«
»Und was ist mit uns?« Sie blickt vom Balkon runter in den Garten. Das Gras überwuchert eine rostige Harke.
»Komm doch mit. Was hält dich hier noch? Hans-Jörg, etwa?« Seine rau-weiche Stimme hat etwas Zynisches. Tamara wusste, dass Hans-Jörg ihm für das eine verkaufte Bild keinen Anteil auszahlte, weil er mit der Vernissage mehr Kosten als Gewinn hatte. Norbert redet nicht darüber, aber Hans-Jörg.
Tamara dreht sich zu ihm um, stöhnt. »Ach, geh mir mit dem Fettsack weg.« Sie setzt einen angewiderten Blick auf. Denkt an Veit, der in der Kneipe ihres Bruders vermutlich noch immer Karten kloppt. Festgefroren an seinem Bier aus der Pulle.
»Der hat dich doch nur eingestellt, weil er etwas von dir will.« Mit einem Schwung steht Norbert auf. Die Haare auf seiner Brust werden langsam grau.
Tamara gibt ein glucksendes Geräusch von sich. »Vielleicht, aber gut bezahlen tut er mich. Eigentlich für nichts.«
Norbert kommt näher, legt seine Arme um ihren Hals, zieht sie an sich. »Wir könnten zusammen etwas starten. Etwas, das nur uns gehört. Ich meine, was hält uns hier?«
Tamara zuckt mit den Schultern, lässt sich einen Kuss auf die Stirn drücken. Sein Atem riecht nach einer Mischung aus Schlaf und Rotwein.
»Lass uns erst einmal frühstücken«, sagt sie sich aus seinem Griff lösend. Sie wirft die Decke zurück auf das Bett und wandelt zum Bad. München. München ist eine gute Stadt mit guten Schulen. Vielleicht sollte sie es dort versuchen, zusammen mit Norbert. Vielleicht hätten sie dort so etwas wie eine neue Zukunft. Vielleicht dürften sie es sich dort gemeinsam erlauben. Ihre Hand gleitet über ihren Bauch. Kurz vor dem Holzkettenvorhang, der das Bad vom kleinen Wohnraum trennt, bleibt sie stehen und dreht sich um. »In Ordnung. Lass uns nach München gehen.«
III.
»Muss das alles rosa werden?« Tamara steht in einer durchlöcherten Jeans mit mittlerweile nicht mehr ganz so weißen Turnschuhen zwischen zwei Eimern Farbe. Die drei Räume in einem Sechzigerjahreklotz in der Paul-Heyse-Straße sollen nunmehr ihre neue Existenzgrundlage sein. Norbert malt bereits seit Monaten nicht mehr. Stattdessen versucht er sich heute als Trockenmaurer, um eine Umkleidekabine zwischen dem Flur und dem »Behandlungsraum« zu kreieren. Auf dem Boden liegt zusammengeknüllt der Holzkettenvorhang aus seiner Frankfurter Wohnung, hinter welchem sich zukünftig die Kundinnen ihrer Kleider entledigen sollen.
Mit Hilfe eines Haarbandes türmt Tamara ihre dunklen Haare turbanartig auf. Norbert mag diese Frisur. Tamtam, meine kleine Inderin, sagt er gelegentlich. Dieses Mal ist er jedoch zu sehr mit der Wand beschäftigt. Tamara seufzt, hofft, die Farbe wieder aus den Haaren auswaschen zu können. Sie fühlt sich mittlerweile wie ein rosé Alien. Müde von der vielen Arbeit und dem Umzug betrachtet sie mit dem Pinsel in der Hand das alsbaldige Yoni-Studio. Der Blick aus einem fast blinden Fenster lässt sie aufstöhnen. Die Bahnhofsgegend in München unterscheidet sich zu Tamaras Enttäuschung kaum von der Frankfurts. Alles wirkt zu laut, zu voll und zu abgewrackt. Vom Glanz der bayerischen Hauptstadt, den sie aus Filmen und Büchern kennt, ist hier jedenfalls nichts zu sehen. München leuchtet nicht, denkt Tamara, ganz und gar nicht, und taucht die Rolle wieder in die Farbe. Es tropft auf das Zeitungspapier am Boden. Sie hätte alles gelb gestrichen. Hell und freundlich. Aber Norbert war für rosa. Das hätte etwas Intimes und würde in den bayerischen Hausfrauen Kindheitsträume wecken. Sie wären dann wieder Prinzessinnen. Angeblich. Tamara kann sich nicht daran erinnern, dass sie sich jemals als Prinzessin gefühlt hätte. Ihre Kindheit in Griesheim war hart und sie lernte schnell, die Fäuste einzusetzen, wenn es nötig war. Zudem gefällt ihr der Gedanke nicht, dass Norbert nun seine YouTube-Trockenübungen an diesen Frauen einsetzen will. Ist es wirklich das, was sie sich vom Vater ihrer Kinder wünscht? Aber er wird damit aufhören, wie er mit allem aufhört, wenn es ihn langweilt. Das ist nur eine Malblockade, denkt Tamara. Irgendwann wird es genügend alte, weiße, reiche Herren geben, die seine Bilder kaufen. Irgendwann wäre er der erfolgreiche Künstler und sie seine Muse, Agentin und die Mutter …
»Wir brauchen noch etwas um die Fenster abzukleben, damit die Nachbarn nicht rüberschauen können.« Norbert kommt aus dem kleinen Raum, der eine kleine Pantry-Küche enthält und zukünftig das Büro werden soll. »Du wirst sehen, es wird dir hier gefallen. Wir könnten auch einmal zum Bergsteigen gehen. In der Schweiz war ich …«
Tamara beginnt die Wand abzurollen, an der der Empfang entstehen soll. »Bergsteigen? Ist das nicht gefährlich?«
»Ach …« Norbert winkt ab. »Eine Muschel wäre toll. Eine Muschel mit Perle. Die male ich dort hin, wo du jetzt stehst.« Norbert stellt sich hinter sie und greift nach ihren Hüften. »Es wird alles ganz toll, Tamtam.«
Tamara lächelt ihn an. Jedenfalls will er wieder irgendetwas malen.
IV.
Es ist ein warmer Tag. Tamara fährt alleine mit ihrem Fahrrad an der Würm entlang, vorbei an einigen Lokalen, einem Dornröschen-Schloss, Bänken, deren auf Schildchen aufgedruckte QR-Codes unnützes Wissen über Pflanzen verschütten.
Norbert ist wieder irgendwo in den Bergen unterwegs, im Chiemgau oder wo auch immer. Nach ihrer ersten und letzten Bergtour ist die ohnehin von Norbert eingeredete Vorfreude auf eine neue Sportart stark gebremst. Der ganze Tag war ein Fiasko, zuerst fuhren sie mit dem Auto fast eine fahrradfahrende Kundin um, dann standen sie ewig im Stau und die Gletschertour entpuppte sich als völlig ungeeignet für eine Anfängerin wie sie es war. Und wenn sie ehrlich zu sich ist, zeigte sich an diesem Tag eine Seite von Norbert, die nicht in ihr Weltbild passt. Jedenfalls scheint sie mehr an ihrem Leben zu hängen als er. Immerhin waren waghalsige Bergtouren nicht das einzige verwirrende Hobby, wie Tamara feststellen musste. Seine Ambitionen Bayerisch zu lernen, um den Kundinnen ein heimeliges Gefühl zu geben, sind dabei eher die harmlose Macke. Wenn ihm danach ist und sich eine kostengünstige Gelegenheit bietet, ist Norbert sich weder für einen Fallschirmsprung noch Apnoetauchen zu schade. Es ist geradezu so, als würde ihm das irgendetwas geben, was das Leben ihm nicht geben konnte, das Balancieren am Rande des Todes. Und vielleicht ist das nicht einmal das Problem, sondern, dass er wie selbstverständlich davon ausgeht, dass es ihr ähnlich geht. Aber Tamara will weder aus einem Flugzeug springen noch Hausfrauen im perfekten bayerisch begrüßen.
Ein leichter Wind weht durch Tamaras geöffneten Haare. Gleich würde sie in Pasing sein. Vielleicht sollte sie noch irgendwo etwas trinken gehen. Knapp vor der Eisenbahnbrücke biegt sie ab, vorbei an einem großen Spielplatz und Fahrradständern Richtung Pasinger Fabrik. Auf der Terrasse sitzen an diesem Nachmittag nur wenige Menschen. Hier würde es sich erst am Feierabend füllen. Tamara sucht sich einen der kleineren Bistrotische vor der Fabrik aus und bestellt eine Apfelschorle. Die Gerüche aus der Küche ziehen in ihre Nase. Sie unterdrückt den aufkommenden Hunger und drückt ihre Hand vor den knurrenden Bauch. Sie lehnt sich zurück. Ihr Blick wandert von Tisch zu Tisch. Eine Frau mittleren Alters, die sich eine Zigarette schnorrt, eine alte Dame im Dirndl und eine junge Mutter mit einem Baby auf dem linken Arm, die gekonnt mit der rechten Hand einen dunkelgrünen Smoothie über den weißen Anzug zum Mund balanciert.
Tamaras Augen werden feucht. Als sie mit Norbert nach München zog, hoffte sie, dass sie bald eine kleine Familie gründen könnten. Stattdessen sitzt sie nun in seinem Perlengruß fest, zwischen rosa Wänden und unattraktiven Hausfrauen, die allesamt unsterblich in Norbert verknallt sind. Die er befingert. Tamara ist nicht verklemmt, aber mittlerweile gehen ihr die Ullas, Resis, Heikes und Janinas auf die Nerven. Und wenn sie nicht mit all diesen Damen telefoniert, sie in die »Behandlungsräume« führt oder versucht, ihnen neue Termine aufzuschwatzen, dann putzt sie oder kämpft sich durch die Schreiben der Behörden, die Norbert links liegen lässt, wie alles, das wirklich Arbeit macht.
Die Frau wippt das Baby auf ihrem Arm. Es gibt gurgelnde Geräusche von sich. In ihrem weißen Hosenanzug sieht die Dame aus, als sei sie Immobilienmaklerin oder Managerin, als habe sie gerade das Kind vom Kindermädchen abgeholt und gönne sich nun eine kleine Quality-Time mit dem Nachwuchs. Tamara bemerkt, dass nicht nur sie die Frau beobachtet, sondern auch die Dame mit der Zigarette schaut unentwegt zur frischen Mama herüber. Vermutlich ist sie nicht die einzige Frau mit einem unerfüllten Kinderwunsch. Für einen Augenblick sieht Tamara sich wieder in der Abtreibungsklinik. Sie wischt sich eine Träne aus den Augen. Aber was hätte sie tun sollen? Als sechzehnjähriges Mädchen, das jeden Abend in einer Kneipe jobbte, um sich das Studium zusammenzusparen? Warum bloß verläuft ihr Leben so ungeplant? Als sie damals nach der Realschule auf das Gymnasium wechselte, ihr Bruder sie auslachte, da war sie noch voller Tatendrang. Sie biss sich durch, träumte von einer eigenen Galerie und einer Familie. Sie wollte niemals reich sein, aber sie will, dass es ihr gut geht. Ihr und einer Familie. Warum kommt sie nicht aus Frankfurt-Griesheim raus? Warum liegt noch immer dieser Schatten auf ihrem Leben? Warum ist nicht sie diese Frau in dem weißen Hosenanzug?
V.
Die Nachbarin hat ihr Kind verloren. Der Ehemann geht jeden Tag ins Krankenhaus mit Rosen und Pralinen. Einmal hatte er eine Rose in einer Schnapsflasche. Was auch immer das bedeuten sollte. In Tamara wächst die Angst, was wäre, wenn ihr das auch passieren würde. Vielleicht mehrfach. Wieviel Zeit hat sie eigentlich noch? Für Kinder? Mit Norbert?
Tamara schließt die Wohnungstür auf. In München können sie sich nur noch eine Schuhschachtel von Wohnung leisten. Vielleicht war es doch ein Fehler hierher zukommen. Vielleicht mache ich alles falsch im Leben, denkt Tamara und schaltet das Licht an. Es ist mittlerweile schon spät. Norbert ist immer noch nicht von seiner Bergtour zurück. Hoffentlich ist er nicht abgestürzt. Aber würde das noch etwas ändern? Eine Träne läuft Tamaras Wange hinab. Sie lässt sich auf die Matratze fallen, die derzeit ihr Bett ist. Warum nur verliebe ich mich immer in solche Männer? In Künstler?
Die Antwort kennt sie schon längst: Die Kunst ist ihr großer Kindheitstraum. Tamara wühlt in der Schachtel neben der Matratze, die zurzeit ein Nachschränkchen ersetzt. Sie holt die kleine Tüte heraus, in der sie ihren größten Schatz bewahrt. Alte Postkarten, die die Mutter sammelte. Allesamt mehr schlechte als rechte Kunstdrucke. In ihrer Kindheit spielte Tamara stundenlang mit diesen Karten. Monets Seerosengarten, die dahinfließenden Uhren Dalis, die Karibik Gauguins und selbst das verhaltene Lächeln La Giocondas führen sie bis heute in eine bunte, heile und fantastische Welt. Und sie wollte Teil dieser Welt sein, sie leben.
Nur, dass in ihrem Träumen sie eine erfolgreiche Galeristin ist und ihr Ehemann ein nachgefragter Künstler. Die Realität ist eine Einzimmerwohnung und ein Yoni-Studio, das mehr Probleme bereitet als Einnahmen bringt. Probleme, die Norbert gekonnt ignoriert. Ihm ist nicht klar oder einfach auch nur egal, dass alle ihre Investitionen dahin wären, wenn das Gewerbeamt den Laden schließen würde.
Brauchte sie eigentlich jemanden wie Norbert? Tamara starrt verbittert zur Zimmerdecke. Ihr wird klar: Liebe alleine reicht nicht immer.
Aber was tun, wenn Norbert nicht der Mann ist? Wenn es diesen Mann, diesen Künstler gar nicht gibt, den sie sich immer erträumte? Tamara setzt sich mit dem Laptop auf den Schoß auf den Boden. Beim Öffnen des Browsers erscheint die rosa Webseite des Perlengrußes. Sie gibt in die Suchzeile »Kind ohne Mann« ein. Zu ihrem Erstaunen gibt es zahlreiche Ergebnisse. Sie stößt zunächst auf die Anzeigen von mehr oder weniger seriösen Samenbanken, auf ausländische Kliniken, die hoch professionell deutsche Frauen ansprechen und schließlich auf eine Familienseite mit einem Artikel über Frauen, die sich für ein Kind entschieden haben. Da ist Melinda (Name von der Redaktion geändert), Mitte 30, die in einer niederländischen Klinik war. Fünf Anläufe brauchte sie, zunächst über eine Samenspende, dann mit einer Invitrobefruchtung hat es geklappt und sie ist nun Mutter von fünfjährigen Zwillingen.
Amber und Antonia (Namen wieder von der Redaktion geändert) erfüllen sich in Dänemark den Wunsch ihrer kleinen Regenbogenfamilie. Und Viktoria fand über eine Webseite einen passenden Vater? Passender Vater? Tamara liest weiter. Viktoria ist zweimal geschieden. Aus der ersten Ehe hat sie Finn (10) Jahre, der Wunsch nach einem zweiten Kind war groß, doch die zweite Ehe zerbrach schon nach einem Jahr. Viktoria ist 39. Für eine neue Beziehung hat sie weder die Zeit noch die Ambitionen. Sie verdient als selbstständige Architektin gut, für die Kinderbetreuung ist gesorgt. Dann verabredet sie sich über »Einsundeinsmachtdrei« mit Rene (Name ebenfalls von der Redaktion geändert). Rene ist 36, als erfolgreicher Chirurg eingespannt, Beziehungen hielten nie lange, aber der Kinderwunsch bleibt stark. Viktoria und Rene treffen sich, stellen fest, dass sie ähnliche Wertvorstellungen haben, eine Beziehung kommt nicht in Betracht, aber eine gemeinsame Elternschaft erscheint den beiden immer realistischer. Seit sechs Monaten ist Max, Name wieder geändert, da. Er lebt bei Viktoria. Rene besucht seinen Sohn so oft es geht. Natürlich läuft nicht alles rund und es bestehen Uneinigkeiten über den richtigen Kindergartenplatz. Aber am Ende wird ein guter Kompromiss stehen. Seit drei Monaten hat Rene auch eine neue Partnerin. Diese kommt gut klar mit der Situation. Weitere Kinder sind für Rene nicht ausgeschlossen, aber an seiner Liebe zu Max wird das nichts ändern. Da ist er sich sicher. Im nächsten Urlaub wird der Kleine bei ihm für drei Wochen sein. Viktoria ist dann in Dubai auf einer Baustelle.
Mit feuchten Händen lehnt Tamara sich zurück. Daran dachte sie bislang nie. Die Möglichkeit, Mutter ohne Vater zu werden. Sie schließt die Augen, versucht sich vorzustellen, wie sie mit einem Kind allein auf einem Spielplatz steht, in den Urlaub fährt und durch ein Museum schlendert. Niemand auf sie wartet. Sie denkt zurück an die Super-Mami mit dem grünen Smoothie in der Pasinger Fabrik. Wer sagt, dass diese Frau einen Mann hat? Wer sagt, dass sie das nich ganz alleine durchzog? Warum bildete sich Tamara ein Lebtag ein, dass Kinder nur mit einer »echten Familie« möglich wären? Ist es nicht ganz alleine ihre Entscheidung, ob sie ein Kind will oder nicht?
Tamara gibt einsundeinsmachtdrei in den Browser ein. Es erscheint eine hellgelbe Seite mit Fotos von Familien auf einem Spielplatz. »Sie möchten ein Kind, aber keine Partnerschaft? Oder sie haben eine Partnerschaft, können aber keine Kinder bekommen? Sie sind zu alt für eine Adoption oder wollen nicht so lange warten? Dann ist vielleicht Co-Parenting das Richtige für Sie. Registrieren Sie sich noch heute und informieren Sie sich über unsere einsundeinsmachtdrei-Erfolgsgeschichten«, liest Tamara sich selbst vor.
Draußen wird es dunkel. Tamara knipst die Schreibtischlampe neben sich an und faltet ihre Beine zu einem Schneidersitz. Sie klickt auf den Button »Konto anlegen«. Und gibt ein: Tamara Liermann.
VI.
»Norbert, wir müssen reden.« Tamara stolpert fast über den Sari, als sie hinter der Theke im Empfang des Perlengrußes hervorkommt. Sie hasst dieses Ding, aber Norbert findet, dass sie darin, wie eine echte Inderin aussähe. Sie findet ihn einfach unpraktisch.
Tamara findet Norbert bastelnd am absplitternden Türrahmen zur Büro-Pantry-Küche vor. Sie seufzt, nimmt schließlich ihren Mut zusammen, ihm zu sagen, was er nicht hören will: »Das Gewerbeamt hat wieder ge…«
»Die haben doch keine Ahnung.« Norbert dreht sich hektisch zu ihr um. Seine noch ausgestreckte Hand kollidiert fast mit ihrer Wange. Sie weicht aus. Spürt noch die Fingernägel auf ihrer Haut.
»Das könnte aber …« Tamara reibt sich über die brennende Stelle.
Norbert wirkt gestresst. Zu gestresst, um sich bei ihr zu entschuldigen. Manchmal ist es so, als würde er zwar mit ihr reden, sie aber nicht wirklich sehen. Sein Kopf ist so rot, dass die Henna-Flamme seines Drachens kaum sichtbar ist. Vielleicht bleicht auch einfach wieder nur die Farbe aus. An Norbert ist irgendwie fast alles ein Fake. Seine Stimme ist kratzig von einer Erkältung oder zu viel Rotwein. »Ach! Wo bleibt eigentlich die Huber?«
»Was interessiert mich die Huber?« Tamara geht in den Behandlungsraum und reißt das Fenster auf. Die letzte Kundin hat einen eigenartigen Geruch zwischen Intimschweiß und Drogerieparfum hinterlassen. Vielleicht auch Schnaps.
»Sie ist eine gut zahlende Kundin.« Norbert steht im Türrahmen. In seinem bemusterten Bademantel sieht er mehr lächerlich als gut aus. »Wir brauchen Frauen wie …«
»Wenn das Gewerbeamt unseren Laden dicht macht, hilft die Huber uns auch nicht mehr weiter.« Tamara dreht sich zu ihm um. »Sie sagen, dass das, was du hier machst Sexualdienstleistungen sind und du …«
»Sexualdienstleistungen! Was haben die für eine Ahnung! Ich bin doch keine Prostituierte.« Norbert wird noch röter. »Sollen sich erst einmal mit Yoni beschäftigten, diese Behördenheinis.«
»Ach«, sagt Tamara schnippisch, »sollen die sich etwa auch ein paar YouTube-Videos ansehen?«
Norberts Gesicht glüht. Seine Bademantelschlaufe löst sich, sodass der Blick auf seinen Penis frei wird. »Mit dir kann man nicht reden. Rufe jetzt endlich die Huber an!« Norbert löst sich vom Türrahmen und geht Richtung Bad. Verliert dabei fast den gesamten Bademantel.
»Die Huber, die Huber. Als ob er auf das Weib stehen würde«, flüstert Tamara. »Diese rollende Tonne.« Tamara zieht ihr Handy aus der Jeanshose, die sie unter dem Sari trägt und ruft »einsundeinsmachtdrei« auf. Sie scrollt durch die Anzeigen. »Kenne ich bereits, kenne ich, der wohnt in Frankfurt, na super, alte Heimat, und – München!« Aufgeregt klickt Tamara auf die Anzeige »Niklas, 35, München«. Sie setzt sich auf die Fensterbank. Von unten erschallt der Lärm der Paul-Heyse-Straße.
Tamara liest sich selbst vor: »Hi, ich bin Niklas. 35 und schreibe an meiner Habilitationsschrift in Geologie. Für die Liebe blieb mir bislang wenig Zeit. Aufgrund meines Berufs bin ich viel unterwegs. Den meisten Partnerinnen war das leider zu viel. Ich bin mir aber sicher, dass ich bereit für ein Kind bin. Denn mir fehlt jemand, mit dem ich nach der Arbeit Sandmännchen schauen und in Herbst Drachen basteln kann. Wenn Du wie ich einen Kinderwunsch hast, nicht nach der großen Liebe suchst, sondern eine gute Freundschaft, dann melde dich unter 0171…«. Tamara kopiert sich die Nummer heraus und speichert sie ab. Niklas ist bei WhatsApp. »Hallo Niklas, ich bin Tam und würde Dich gerne kennenlernen.« Tamara atmet tief durch und löscht die Nachricht wieder. Auf ihrer Unterlippe kauend fängt sie neu an: „Hallo Niklas. Ich habe Deine Anzeige bei 1+1=3 gelesen. Ich würde Dich gerne kennenlernen. Komme aus München und würde auch gerne Drachenbauen. LG Tamara.« Tamara liest sich die Nachricht noch einmal durch und löscht das »ara», sodass dort nur noch Tam steht. Sie drückt auf den Sende-Pfeil und lässt das Handy wieder verschwinden.
»Tamtam, bist du verrückt?« Es ist Norberts Stimme, die sie aus den Gedanken weckt. Er stürmt auf sie zu und zieht sie von der Fensterbank. »Du könntest rausfallen.«
Irritiert schaut Tamara sich um und nimmt erst jetzt wahr, dass sie am geöffneten Fenster sitzt.
»Und du sagst, dir wird schwindelig in den Bergen.« Norbert nimmt ihr Gesicht zwischen die Hände und drückt ihr einen Kuss auf die Lippen. »Komm jetzt. Wir müssen die Huber anrufen. Tamara nickt und folgt Norbert zum Empfang. Sie greift nach dem Telefonhörer und wählt mit zittrigen Fingern die Nummer der Huber an, die neben weiteren Namen und Nummern auf einem Notizblock steht. Niemand geht ran. Tamara versucht es noch einmal. Dann ertönt die Mailbox. Unpersönlich, nur eine Computerstimme, die die Nummer ansagt. Es piept. »Hallo, Fräulein Tamara hier, ich wollte Sie erinnern an Ihren Termin heute. Ist etwas dazwischen gekommen? Vielleicht können Sie uns eine kleine Nachricht hinterlassen.«
Tamara legt den Hörer neben das Telefon und streicht den Namen der Huber auf ihrem Notizbuch durch. Die würde sich wahrscheinlich nicht mehr melden.
»Hast du sie erreicht, Schatz?« Norbert stellt sich hinter ihr und drückt ihr einen Kuss auf den Nacken. Ein Lächeln geht über Tamaras Gesicht, als sie spürt, wie das Handy in ihrer Hosentasche vibriert.
VII.
Gegen Abend steht Tamara alleine im Perlengruß. Norbert ist verschwunden. Während er die Welt verändert, steht sie mit Putzeimer und Schrubber im Behandlungsraum. Wenigstens aus hygienischen Gründen soll ihnen das Gewerbeamt den Laden nicht dicht machen.
Niklas und sie schrieben im Laufe des Tages einige Male hin und her. Er wollte sich mit ihr treffen und seine letzte Nachricht hörte sich wie eine Einladung zu einem Telefonat an. Tamara schaut auf die Armbanduhr. Sie nimmt das Handy aus ihrer Hosentasche und ruft die Nummer auf. Das Freizeichen ertönt dreimal, dann nimmt jemand ab. »Wagner?« Die Stimme klingt freundlich. Nicht zu hoch, nicht zu tief.
Tamara atmet durch. »Ähm, hallo. Hier ist Tam. Wir haben heute geschrieben. Tamara Liermann.«
Zuerst ist es kurz still, dann antwortet Niklas mit noch freundlicherer Stimme: »Ja, Tam. Wie schön, dass du anrufst.«
»Ähm, ja.« Tamara setzt sich auf die Fensterbank. Dieses Mal vor das geschlossene Fenster und zieht eine ihrer Haarsträhnen aus der turbanartigen Frisur. Dreht sie um den rechten Zeigefinger. »Ich – du hast vorgeschlagen, dass wir uns treffen.«
»Ja, sehr gerne. Wann hättest du denn Zeit?«
»Am besten wäre abends irgendwann, so gegen 19:00 Uhr.«
»Okay, das passt bei mir auch gut. Wie wäre es mit kommenden Mittwoch?«
»Mittwoch. Klingt gut. Bis dann!« Tamara steckt das Smartphone wieder zurück in die Hosentasche. Das wäre geschafft.
Am besagten Mittwoch sitzt Tamara in einem Bistro im Westpark und wartet gespannt auf Niklas. Sie hat ein rotes T-Shirt mit gelben Blumen als Erkennungszeichen angezogen und nippt an einem Grünen Tee. Ein wenig fühlt sie die Sache wie ein Tinder-Date an.Tamara hofft, dass Niklas das Projekt ehrlich meint und das ganze nicht eine versteckte Anmache wird. Aus welchen Gründen auch immer, ist da der nicht tot zu kriegende Gedanke, dass es vielleicht auch mit dem Kind, einem Niklas und Norbert funktionieren könnte.
Ein junger Mann betritt den Raum. Er hat eine gut durchtrainierte Figur und dunkle Haare. Er dreht sein Gesicht in Tamaras Richtung, die enttäuscht feststellt, dass er eindeutig zu jung ist, um Niklas zu sein. Der Mann streift ihren Tisch, lächelt sie kurz an und setzt sich dann zu einer jungen Frau mit blonden Locken.
Tamara beobachtet die beiden, wie sie sich umarmen und ein verstohlenes Küsschen geben. Mit Norbert ist es irgendwie anders. So wie mit der Malerei. Seine Zuneigung kommt in Schüben. Dann jedoch mit voller Leidenschaft.
»Tamara?« Tamara zuckt zusammen, dreht sich wieder nach vorne und sieht erst einmal nur die Hand, die sich ihr entgegenstreckt. Sie ist groß und kräftig.
Tamara schüttelt sie kurz und schaut nun in das Gesicht des Herren. Es ist rund, umrandet von rötlichen, eher orangenen Haaren und von Sommersprossen übersät. »Niklas?«, fragt Tamara. Ihre Stimmung ist leicht gedämpft. Rote Haare. Niklas nickt und setzt sich. Er hat eine eher füllige Figur, nicht ganz so schlimm wie Hans-Jörg, aber schlank ist anders. Tamara lehnt sich zurück, hält sich an der Teetasse fest.
»Ja, genau«, sagt Niklas, schiebt noch einmal den Stuhl zurecht. »Ich freue mich, dass es geklappt hat.«
Tamara nickt verlegen und nimmt einen Schluck Tee.
»Grüner Tee? Den trinke ich auch gerne. Am liebsten Chinese Gunpowder.«
Leicht verblüfft nickt Tamara. »Den trinke ich auch am liebsten. Dies ist aber leider ein Beuteltee. Nicht so schmackhaft.«
»Ah, dann versuche ich vielleicht die Kräutermischung.« Niklas zieht das Tellerchen mit Tamaras Teebeutel näher. »Teekanne haben sie hier.«
»Du trinkst also gerne Tee?«, fragt Tamara.
»Ja, Kaffee ist nicht so meins.« Niklas lächelt. Dabei wandern seine Sommersprossen die Wangen hinauf. Jedenfalls sieht es so aus.
»Manchmal trinke ich ganz gerne Kaffee. Aber nicht zu viel«, sagt Tamara. »Suchst du schon lange auf einsundeinsmachtdrei?«
»Och«, fängt Niklas an und winkt die Kellnerin herbei. »eine Kräutermischung bitte. Ich habe das vorher anders versucht. Das mit dem Internet ist eigentlich nicht so mein Ding. Anfangs dachte ich auch, dass zum Vaterwerden eine echte Familie mit Ehefrau, Schwiegermutter und so gehört. Aber das hat sich irgendwie nicht ergeben und dann hat eine Freundin von mir gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, der Vater ihres Kindes zu werden. Zuerst war ich geschockt. Aber dann hat sie mir das erklärt. Allerdings muss ich gestehen, bin ich mit der Partnerin von ihr nicht klar gekommen. Sie hatte ganz andere Vorstellungen von der Sache. Also eigentlich sollte ich nur Samenspender sein und mich dann raushalten. Das wollte ich nicht. Die Idee ist aber geblieben und ich habe mich dann bei einsundeinsmachtdrei angemeldet.«
»Hört sich spannend an. Für mich ist das ganz neu. Ich bin bei einer Internetrecherche, die ich eher aus Frust gestartet habe, auf das Portal gestoßen und so langsam gefällt mir die Idee.«
»Das heißt, du hast derzeit auch keine Beziehung?«
Tamara wird leicht rot. «Doch, ehrlich gesagt, es gibt da jemanden. Aber ich bin unschlüssig, ob das Zukunft hat und ob wir die gleichen Ziele verfolgen. Kinder sind kein Thema für ihn, und ich will ihn auch nicht in eine Vaterschaft zwingen. Ich möchte allerdings auch nicht auf Kinder verzichten.« Tamara betrachtet Niklas verunsichert. So stellte sie sich den Vaters ihres Kindes ganz und gar nicht vor.
»Und was sagt er dazu, dass du nach einem Vater suchst?«
»Ehrlich gesagt, weiß er noch nichts davon.« Ihre Hände werden feucht. »Ich sag‘s ihm natürlich. Wenn es ernst wird, also ernster.«
Die Kellnerin schiebt Niklas ein Glas dampfendes Wasser hin und wirft achtlos einen verpackten Teebeutel auf den Tisch. Niklas packt ihn aus und tunkt ihn ins Wasser. »Und wenn er nicht einverstanden ist?«
Tamara zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung, vielleicht war‘s das dann mit uns.«
»Oh, aber …«
Tamara zieht mit der Hand einen Strich in die Luft, als könne sie das Thema so aus der Welt schaffen. »Verstehe mich nicht falsch. Norbert und ich, da ist etwas zwischen uns. Manchmal sogar etwas viel. Es ist – wie ein Rausch und dann wieder … wie soll ich es ausdrücken? Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns gegenseitig gut tun. Vor allem, ob er mir gut tut.«
»Das klingt kompliziert.«
Tamara nickt. »Ja, das ist es.«
»Und du bist dir sicher, dass du bereit …«
»… bereit für ein Kind bin?« Tamara nimmt den letzten Schluck Grüntee aus ihrer Tasse. Zeigt der Kellnerin mit einem Wink an, dass sie noch eine Tasse möchte. »Ich bin mir sicher. Ich möchte nicht länger warten. Es ist wie du sagst. Es ist nicht immer der richtige Partner da, um eine Familie zu gründen. Ich muss es jetzt selbst in die Hand nehmen.«
»Die Bedienung hier ist ja heute nicht gerade die Charmanteste«, sagt Niklas trocken und winkt der Kellnerin nochmals zu, die Tamara offensichtlich übersehen wollte. Mit trippelnden Schritten kommt sie auf die beiden zu. »Zahlen?«
»Nein, bitte noch einen Grüntee für die Dame.« Niklas sieht die Frau an, die in das smartphoneähnliche Gerät tippt. Sich dann ohne ein Wort umdreht.
»Hui, die hat schlechte Laune.« Niklas schüttelt die rechte Hand, als hätte er sie sich verbrannt. Tamara lächelt. »Wer weiß, vielleicht hat sie auch Probleme mit ihrem Partner.«
Niklas nimmt einen Schluck von seiner Kräutermischung. »Meinst du, dass ihr euch trennen werdet?«
Tamara zuckt mit den Schultern. »Ich, ich fürchte, es wird darauf hinauslaufen. Es ist nicht so, dass ich ihn nicht liebe, ihn nicht behalten will, aber ich so langsam habe ich das Gefühl, dass wir zu verschieden sind für eine gemeinsame Familie und ich will nicht länger warten. Ich weiß, dass ich noch Zeit habe, aber nach der Abtrei…« Tamara streicht sich mit zittrigen Fingern eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Niklas Augen werden groß und er auf einmal ganz ruhig. Tamara merkt, dass sie ihm nach dem angefangenen Satz eine Erklärung schuldet. Sie atmet tief durch. »Ich war schon einmal schwanger, mit Sechzehn.« Fragend schaut sie ihn an, als könnte er jeden Moment aufstehen und wegrennen, doch er bleibt sitzen.
»Ich bin damals gegen den Willen meines Vaters auf das Gymnasium gewechselt«, fährt Tamara fort. Ich wollte unbedingt Kunstgeschichte studieren. Und, ich musste mir Schule und Studium selbst finanzieren. Jobben, teils bis spät in die Nacht. Ein Kind …«
»Ich verstehe.« Niklas nickt. »Das war sicherlich eine harte Entscheidung.«
Tamara beißt sich auf die Lippen. Denkt zurück an den Tag in der Klinik. Den weiß gestrichenen Raum und an die hektische Anästhesistin, die ihr erzählte, dass sie bereits die fünfte von fünfzehn an diesem Tag wäre. »Eigentlich«, sagt Tamara, »dachte ich, dass ich es schaffen würde. Dass das nicht so ein Ding sei. Aber als ich in diesem Stuhl saß und …« Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.
Niklas berührt sie am Arm. Sichtlich berührt. »Du musst nicht …«
»Ist schon gut.« Tamara blickt auf das Tischtuch. Atmet nochmals tief durch. »Ich habe noch nie jemanden davon erzählt. Außer natürlich dem Vater. Der wollte aber nichts von dem Kind wissen und von mir eigentlich auch nicht. Wir hatten damals keine Chance. Und trotzdem fühle ich mich irgendwie schlecht.«
»Das heißt, du willst es wieder gut machen?«
Kurz muss Tamara überlegen, dann schüttelt sie entschlossen den Kopf. »Nein. Da gibt es nichts gutzumachen. Damals war es die einzige vernünftige Entscheidung. Auch, wenn es eine harte Entscheidung war. Jetzt möchte ich endlich einmal etwas für mich tun. Nicht zurückstecken. Weißt du, das Studium damals. Ich habe es abgebrochen. Ich habe mir immer eingeredet, dass ich zu viel arbeiten müsste. Aber die Wahrheit ist, dass mein damaliger Freund so lange rumgenörgelt hat, bis ich einen zweiten Job angenommen habe. In einer Galerie. In Frankfurt. Als Hostess quasi. Also, nicht so eine …«
Niklas lächelt sie an. »Ich verstehe schon. Neureichen Herren schöne Augen machen, damit sie das Scheckheft zücken.«
Jetzt muss auch Tamara lachen. Das Eis ist gebrochen und sie fühlt sich befreit. »Ja, so sah es aus. Und dort lernte ich auch Norbert kennen …«
VIII.
»Du kannst ja die Kundin übernehmen. Ausnahmsweise.« Tamara starrt auf das Display ihres Handys. Seit Tagen lässt Norbert sich nicht im Perlengruß blicken. Die Frist für die Stellungnahme beim Gewerbeamt läuft bald aus. Sie vertröstet die Kundinnen, vergibt neue Termine und nun schreibt er ihr, sie solle die Kundin übernehmen!? Als ob sie Lust hätte, eine Mitsechzigerin … Tamara unterdrückt den Würgereiz. Das geht nun wirklich zu weit. Sie zieht sich den Sari über den Kopf und löst ihre schwarzen Haare aus der Hochsteckfrisur.
Für einen Moment steht sie einfach da zwischen den rosa Wänden und ihr wird einmal mehr klar, dass das nicht ihre Welt ist. Das Yoni, diese dreckigen Bahnhofsgegenden und vielleicht nicht einmal Norbert. Manchmal gibt es Beziehungen, die man unbedingt will, die richtig sein sollen, aber dennoch falsch sind.
Tamara schaut auf die Uhr. Niklas kommt in zwei Stunden aus Nizza zurück und er wartet auf eine Antwort. Sie könnte es noch schaffen, wenn sie gleich in die S-Bahn am Hauptbahnhof springen würde. Was auch immer Norbert gerade macht, sie müsste ihre eigenen Entscheidungen treffen. Niklas ist alles andere als ihr Traummann. Aber in den letzten Tagen realisierte sie immer mehr, dass es auch gar nicht darum geht, sondern darum, ob sie sich verstehen und sich vorstellen können zusammen ein Kind großzuziehen. Und da ist der Geologe mit einem Faible für Tee sicherlich die bessere Wahl als der gescheiterte Künstler mit einem YouTube-Yoni-Kurs.
Tamara zieht sich ihre Jacke an, bleibt am Türrahmen noch kurz stehen, wirft einen letzten Blick in die rosa Räume des Perlengrußes und zieht die Tür hinter sich zu. Und irgendwie fühlt es sich so an, als würde sie den Perlengruß nicht mehr wiedersehen.
Am Flughafen angekommen, steht Tamara vor dem Ausgang des Sicherheitsbereichs. Ein Pulk von Menschen kommt ihr entgegen. Kein Niklas. Eine kleine Pause entsteht. Als die Tür sich wieder öffnet, kommt eine Frau mit blonden Locken heraus, die von einer anderen, ihr aus dem Gesicht geschnittenen jüngeren Dame, und einem kleinen quirligen Mädchen begrüßt wird.
»Mama, Mama!«, ruft das Kind. Die Frau daneben lacht. »Na, du machst Sachen, Isa. Was machst du denn so plötzlich in Nizza?« Tamara lächelt. Dies ist der erste Schritt, dass eines Tages sie die Frau wäre, die aus der Tür tritt, und die von einem kleinen Mädchen begrüßt wird. Oder Jungen. Ihr Lächeln wird zu einem Grinsen, auch wenn ihre Hände noch ganz schön feucht sind. Vielleicht hat Niklas es sich ja anders überlegt?
Die Tür öffnet sich ein weiteres Mal und die füllige Gestalt von Niklas erscheint. Er schaut auf seine Smartwatch, sieht ein wenig hektisch aus im braunen Trenchcoat. Auf einmal wird Tamara bewusst: Es ist doch völlig egal, ob er rote Haare hat und Sommersprossen. Und auch, dass er nicht sportlich ist, gerne Süßigkeiten isst und ein paar Pfunde zu viel hat. Die Pfunde, die er zu viel hat, hat sie eindeutig zu wenig. Vielleicht sollte sie das auch ändern. Sie muss sich nicht ständig kontrollieren, um anderen zu gefallen. Ihr Kind wird sie lieben, wie sie ist. Da ist Tamara sich sicher. Sie wischt sich wieder eine Träne aus dem Gesicht. Niklas ist nicht Veit. Ganz und gar nicht. Und glücklicherweise auch nicht Norbert.
»Tam?!« Niklas kommt auf sie zu. Er wirkt überrascht, aber auch freudig. Es wird ernst.
IX.
Tamara ist alleine zu Hause. Norbert verliert zusehends das Interesse am Perlengruß. Ihm fällt nicht einmal auf, dass Tamara seit einer Woche nicht mehr dort war. Der Briefkasten wird überlaufen, aber es gibt nun so viel Neues in ihrem Leben, das zu regeln ist. Niklas und sie durchforsten Prospekte von Kinderwunschkliniken in Dänemark und den Niederlanden. Die rechtliche Lage in Deutschland für nicht verheiratete Paare ist schwierig. Erst recht für nicht-verheiratete Nicht-Paare. Zudem müssten sie sich noch über die Finanzierung einig werden. Niklas verdient ganz gut, aber Tamara will nicht, dass alles an ihm hängen bleibt. Sie würde sich einen Job suchen müssen, denn im Perlengruß verdient sie nichts außer den Unterhalt. Und zurzeit nicht einmal den, nachdem Norbert sich darauf verlässt, dass sie alles schon schmeißen würde, was sie eben gerade nicht tut.
Das Smartphone vibriert in Tamaras Tasche. Hans-Jörg? Tamara starrt verwundert auf den eingehenden Anruf, bevor sie abnimmt.
»Ja? Liermann.«
»Hans-Jörg hier. Wie geht es dir? Ich dachte, ich melde mich einmal.« Ein Hüsteln am anderen Ende signalisiert Tamara, dass es in Frankfurt wieder feucht und kalt ist.
Sie versucht, eine freundliche Stimme aufzusetzen. »Oh, das ist nett. Mir geht es ganz gut …« Doch so ganz gelingt es ihr nicht. Tamara atmet tief durch. Auf einmal ist sie sich nicht so sicher, ob sie Hans-Jörg nicht Unrecht getan hat mit ihren Vorurteilen aus Vaters und Bruders Kneipe.
»Aber?«, fragt Hans-Jörg, der offenbar aufmerksamer ist, als sie ihn all die Jahre einschätzte.
Tamara strauchelt, ob sie über das »Aber« hinweggehen soll oder … dann löst sich der Knoten. »Mit Norbert. Das ist – komplizierter als ich dachte.«
»Oh, das tut mir leid.« Hans-Jörg hört sich wirklich betroffen an. »Du kannst jeder Zeit nach Frankfurt zurückkommen. Deine Stelle ist quasi frei.«
»Wir haben unterschiedliche Vorstellungen von unserem Leben«, sprudelt es nun aus Tamara heraus.
»Das wundert mich ehrlich gesagt nicht. Du bist doch so zielstrebig und Norbert ist ein Tagträumer.«
Zielstrebig. So hätte Tamara sich nicht beschrieben. Aber vielleicht hat Hans-Jörg nicht so Unrecht. Vielleicht kannte er sie die ganze Zeit besser, als sie sich selbst. »Eine Zeit lang habe ich an seine Träume geglaubt, aber es funktioniert so nicht mehr.«
Hans-Jörg gibt ein verständnisvolles Geräusch ab, hustet wieder.
Dann fasst Tamara all ihren Mut zusammen. »Ich will eine Familie gründen.«
Zunächst ist es still. Dann fragt Hans-Jörg: »Hast du jemanden kennengelernt?«
»Nein. Das heißt, irgendwie ja, aber nicht so. Hast du schon einmal vom Co-Parenting gehört?«
»Du willst ein Kind von einem Fremden?«
»Na, ja. So fremd sind wir uns nicht mehr. Ich glaube, das könnte ernsthaft funktionieren. Freunde als Eltern. Ganz ohne diesen ganzen Liebesballast, den ich gerade mit Norbert habe.«
»Und was sagt Norbert dazu?«
Tamara schluckt. »Der weiß es noch nicht; und ehrlich gesagt, ich weiß auch nicht, ob unsere Beziehung das überlebt. Allerdings weiß ich auch nicht, ob unsere Beziehung den Perlengruß überlebt oder was auch immer er jetzt gerade wieder anfängt.«
»Ah, der Perlengruß. Dieses Tantra-Studio.«
»Schlimmer. Yoni-Studio. Er führt irgendwelche Intimmassagen bei Frauen durch und nun meint das Gewerbeamt, dass es sich um Sexualdienstleistungen handelt und er muss ein Haufen an Auflagen erfüllen, die er nicht erfüllen kann, vor allem nicht will. Seitdem das Thema auf dem Tisch ist, kommt er kaum noch ins Studio und fängt irgendetwas Neues an. Er sagt mir nicht was, aber manchmal redet er von einem Atelier. Vielleicht ist er gerade wieder Künstler. Wer weiß.«
»Ach, Tamara. Ich arbeite seit Jahrzehnten mit Künstlern zusammen und sie alle sind manchmal Künstler und manchmal irgendetwas anderes. Es sind spannende, aber auch anstrengende Menschen und man muss aufpassen, dass man sich nicht in ihren Träumen selbst verliert.«
Tamara atmet tief durch. Sie fragte sich nie, wie Hans-Jörg zur Kunst gekommen ist, wie er der behäbige Galerist wurde, den sie kannte. Aber vielleicht steckt auch bei ihm eine unerfüllte Liebe dahinter. Irgendetwas bleibt immer hängen. »Ich will das nicht mehr. Ich suche mir einen Job und dann bekomme ich dieses Kind. Das Kind, das ich immer wollte.«
»Wenn das dein Wunsch ist, dann zieh es durch. Aber ich habe da gar keinen Zweifel, dass du es durchziehen wirst«, sagt Hans-Jörg.
»Na, ja. Das ist nicht ganz billig, weil wir das nicht in Deutschland machen können und keine Unterstützung von den Krankenkassen kriegen.«
»Hast du schon einmal überlegt, dass Norbert dich auszahlen muss.«
»Auszahlen?« Tamara weiß nicht, was Hans-Jörg meint.
»Dein Anteil vom Perlengruß. Ihr habt doch schon ein paar Monate zusammen gewirtschaftet.«
»Das ist doch sein Geld, das im Perlengruß steckt.«
»Aber du arbeitest doch dort. Bezahlt er dich?«
»Nein, er bezahlt die Miete und den Lebensunterhalt …«
»Dennoch. Ihr habt eine GbR, weil ihr gemeinsam wirtschaftet. Du hast genauso Anteile am Perlengruß wie er.«
»Und du meinst wirklich, dass ich da einen Anspruch habe?« Tamara wird nachdenklich.
»Da bin ich mir sogar sicher. Ich schicke dir gleich einmal eine Nummer von einer Anwältin in München, mit der ich befreundet bin.«
»Danke. Aber ich glaube nicht …«
»Mache dir einmal keine Sorgen über das Geld. Das regle ich mit ihr«
»Aber, das kann ich …«
»Doch, doch. Das kannst du annehmen. Weißt du, ich bin froh, wenn ich helfen kann. Und irgendwie. Du hast mich immer an meine Tochter erinnert. Ich dachte manchmal, sie könnte sein, wie du, wenn…«
»Du hast eine Tochter?« Tamara merkt, dass sie so gut wie nichts über Hans-Jörg weiß.
Seine Stimme wird leise. »Sie ist mit zwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben. Bei Glatteis von der Fahrbahn abgekommen, direkt vor einen Baum …«
»Das, das wusste ich nicht. Das tut mir leid.« Tamara fühlt sich auf einmal schlecht. Das ist wohl das schlimmste, was passieren kann. Sein Kind zu verlieren. Und sie dachte immer, dass Hans-Jörg hinter ihr her sei. Sie wird puterrot.
»Ist schon in Ordnung. Das konntest du nicht wissen. Jedenfalls, ich helfe dir gerne, Und vielleicht kommt ihr mich dann einmal besuchen, du das Kind und dieser Niklas wenn er möchte.«
Tamara atmet durch. »Ich werde ihn fragen. Das Kind und ich kommen sicher zu Besuch,.«
X.
»Wer ist dieser Niklas?« Norberts Gesicht gleicht einer Tomate. Einer sehr reifen. Er wischt sich den Schweiß von der Stirn. »Und wo warst du die letzten Tage?«
»Das ist kompliziert.« Tamara lehnt sich an eine der kahlen Wände der kleinen Wohnung, spielt mit ihren Haaren. Fragt sich, woher er von Niklas weiß. Hatte er ihre Telefonate belauscht? Die Nachrichten mitgelesen? Kannte er eigentlich ihren PIN?
»Was heißt, das ist kompliziert? Offensichtlich hast du dich einen Scheißdreck um den Perlengruß gekümmert. Was hast du dir dabei gedacht? Willst du mich verlassen?« Norberts Blick ist fragend und wütend zugleich. Aber was sollte sie ihm erklären? Dass der Perlengruß sie nichts mehr angeht und er derjenige war, der sich einen Scheißdreck um das Geschäft kümmert?
Tamara nimmt ihren ganzen Mut zusammen. »Nein, ich will dich nicht verlassen, aber Niklas wird der Vater meines Kindes.«
Für einen Moment ist es still. Sehr still. »Wie soll ich das verstehen?«, fragt Norbert. Er wirkt gefasst, doch in seiner weich-rauen Stimme ist ein Unterton, ein Grummeln wie vor einem Gewitter.
»So, wie ich es gesagt habe.« Tamara löst sich von der Wand, bindet ihre Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen.
»Du bist schwanger? Von diesem Typen?« Da ist so etwas wie Verachtung in Norberts Augen. Ein Ausdruck, den sie nicht von ihm kannte.
»Nein, noch nicht. Aber ich habe ihn über eine Co-Parenting-Plattform kennengelernt. Das hat nichts mit uns zu tun. Es wird alles im Labor gemacht. Künstliche Befruchtung …«
»Spinnst du? Was …« Die Stimmung wird richtig schlecht. Greifbar schlecht. Die Gewitterwolken drohen jeden Augenblick zu platzen.
Tamara versucht es trotzdem. Ruhig und vernünftig.
»Nein. Ich wünsche mir ein Kind …«
»Seit wann das denn?«
»Schon immer. Seitdem ich mit Sechzehn in dieser Abtreibungsklinik saß.«
»Welche Abtreibungsklinik?« Jetzt hört sich Norbert fast betroffen an. «Davon hast du mir nie erzählt.« Er fuchtelt mit den Händen in der Luft herum, als wüsste er nicht wohin damit.
Tamara steigen die Tränen in die Augen. »Ich habe abgetrieben, weil ich kein Geld für ein Kind hatte. Weil ich zuerst etwas aus meinem Leben machen wollte. Aber ich habe mir dieses Kind gewünscht. Ich habe mir ein Kind gewünscht. Nichts von dem, was ich mir im Leben erträumt habe, ist jemals eingetroffen. Ich war immer die aus Frankfurt-Griesheim. Die mit dem Alkoholiker als Vater und dem Gelegenheitszuhälter als Bruder. Die, deren Mutter sich kurz nach ihrer Geburt vor einem Regionalzug nach Wiesbaden geschmissen hat. Ich möchte mir wenigstens diesen einen Wunsch erfüllen. Einmal im Leben etwas wirklich Gutes schaffen.«
»Davon hast du nie etwas gesagt.« Norbert setzt sich auf den einzigen Stuhl in der Wohnung. Seinem Drachen fehlt die Feuerflamme. Nur vereinzelte Henna-Flecken deuten an, wo sie war. Wie lange haben sie sich eigentlich nicht gesehen? Wo war er die ganze Zeit? Was machte er?
»Ich bin … Was hast du gedacht? Dass ich nie Kinder will?« Tamaras klingt erstickt.
»Tamara, ich …«
»Ich weiß, dass du nicht der Vater meiner Kinder wirst. ich will das auch gar nicht. Du kriegst nicht einmal dein eigenes Leben hin. Jetzt bist du wieder Maler? Weil dir das Yoni-Ding über den Kopf wächst? Wer weiß, was als Nächstes kommt.«
»Und wie stellst du dir das vor? Du kriegst ein Kind von diesem Niklas und das wird bei uns groß? Das mache ich nicht mit.«
Tamara setzt sich zu Norbert, auf dem Boden. Sie legt ihren Kopf auf sein Knie. »Das musst du auch nicht mitmachen. Wenn du es versuchen willst, dann würde ich mich freuen, weil ich dich liebe. Wenn du es nicht kannst, dann verstehe ich das, auch wenn es mir weh tut.«
Tamara streicht mit ihrer Hand über das andere Knie. Atmet noch einmal seinen Duft, die Mischung aus Bergamotte und Moschus ein.
Er springt so unerwartet auf, dass sie ihr Gleichgewicht verliert und nach hinten wegkippt, während sein Knie schmerzhaft vor ihr Kinn schnellt. Sie reibt sich über die geschundene Haut, starrt ihn erschrocken an.
Norbert verfärbt sich dunkelrot. Seine Stimme ist nur noch rau, ohne Weichheit. »Vergiss es. Wenn du mich lieben würdest, würdest du nicht diesen Zirkus veranstalten.«
Tamara steht auf und geht auf Norbert zu. Ihre Gesichtszüge verhärten sich.»Es gibt da noch etwas. Ich will meinen Anteil.«
»Welchen Anteil?«
»Aus dem Perlengruß. Ich habe zwar kein Geld reingesteckt, aber Arbeit und Hans-Jörg sagt, das wäre auch etwas wert.«
»Hans-Jörg? Du hast noch Kontakt zu Hans-Jörg?«
Tamara nickt. »Er hat mir angeboten, mir zu helfen.«
Tamaras letzten Worte gehen unter dem Knall der Haustür unter. Sie steht alleine in der Wohnung und sie ist sich jetzt sicher, Hans-Jörgs Angebot anzunehmen. Zu dieser Anwältin zu gehen und erst einmal in ein Hotel zu ziehen. Sie würde Hans-Jörg alles zurückzahlen, sobald sie ihr Leben wieder im Griff hätte. Nur im Gegensatz zu Norbert, würde sie es schaffen.
XI.
Die Münchner Winter sind kälter als die in Frankfurt. Durch den Schneematsch sind die Gehsteige, an deren Seiten sich kleine vereiste mit Steinchen und Kies bespickte Hügel türmen, rutschig. Tamara zieht den Mantel enger um ihren Körper. Ihre Hände sind trotz der Kälte schwitzig. Ob Norbert kommen würde? Seit Wochen meldete er sich nicht mehr bei ihr. Nach dem letzten Streit überhäufte er sie anfangs mit Entschuldigungsnachrichten, die sie ignorierte.
Als sie nach einer Zeit versuchte, wieder Kontakt zu ihm aufzunehmen, um die finanziellen Aspekte ihrer Trennung zu regeln, ging er nicht mehr an das Telefon.
Ihre Hoffnung, dass sie sich diesen Tag ersparen könnten, eine Einigung fänden, schwand schließlich.
Mit dem neuen Job in einer der Galerien in der Nähe des Münchner Künstlerviertels verdiente sie jetzt zwar wieder eigenes Geld, aber ihren Anteil aus dem zwischenzeitig zwangsgeschlossenen Perlengruß könnte sie trotzdem gut gebrauchen. Immerhin benötigt sie bald eine neue Mietwohnung. Und sie will nicht alles von Hans-Jörg oder Niklas bezahlt bekommen. Mittlerweile weiß sie, dass Norbert mehr aus dem Perlengruß weglegte, als er anfangs zugab und er ein Atelier in Solln von dem Geld kaufte. Er könnte eine Kredit aufnehmen oder es wieder verkaufen. Lange würde seine Künstlerphase ohnehin nicht andauern.
Tamara passiert den Stachus und sieht schon auf der anderen Straßenseite das alte Gebäude, in dem sich das Landgericht befindet. Dort angekommen wartet am Eingang bereits ihre Anwältin, eine Dame mittleren Alters mit leicht ergrautem braunen Haar und einem dunkelroten Hosenanzug.
Tamara schüttelt der Anwältin die Hand, die sie nach drinnen führt. Tamara stellt sich in die Schlange an der Sicherheit. Ganz vorne steht Norbert. Er packt seine Jacke in eine der Plastikboxen. Als er sich wendet, um durch den Metalldetektor zu gehen, streifen sich kurz ihre Blicke. Da ist etwas Unverwandtes an ihm, etwas, das ganz weit weg ist. Tamara atmet tief durch. Ihr Smartphone vibriert. Auf dem Bildschirm erscheint eine Nachricht: »Alles Gute, ich drücke dir die Daumen! Du schaffst das. GLG Niklas.«
XII.
Vertikal fließen blaue Linien von der rechten oberen Ecke nach unten, träufeln auf den unteren Rand. In der Mitte strahlt ein gelber Fleck gleich einer zerfledderten Sonne, während hellblaue Tropfen in der Corona explodieren.
Die Farben sind grell, beißend und erinnern Tamara an ihre Zeit in Frankfurt, an damals, als sie einen Künstler namens Da Vinci kennenlernte.
»Mama, das Bild ist hässlich.« Der kleine, sommerbesprosste Junge an ihrer Hand verzieht das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Tamara lacht. »Ja, das ist es.« Manchmal dauert es etwas, bis man klar sieht, denkt Tamara, bis man seine Berufung findet, und sagt schließlich: »Lass uns ein Eis essen gehen.«
»Ja, Eis!«, grölt der Knirps und hüpft an ihrer Hand auf und ab.
»Psst!« Tamara legt ihren rechten Zeigefinger vor die Lippen. »In einer Ausstellung muss man leise sein, Patrick.«
»Auch in einer doofen?«
Tamara nickt. Sie atmet noch einmal den Duft von Ölfarben ein, der sich mit den Reinigungsmitteln der Galerie vermengt, wirft einen letzten Blick auf die zerfledderte Sonne. Früher dachte sie, die Kunst würde sie retten. Tatsächlich ist es kein Da Vinci, sondern Patrick, der ihr mit seiner kleinen Hand Halt gibt. Ohne ihn hätte sie nie mit Norberts Geld einen kleinen Online-Handel mit Babykleidern eröffnet. Solchen, die nicht dem rosa-blau-Klischee entsprechen. Von rosa hatte sie wahrlich genug im Leben.
»Wann kommt Papa?«, fragt der Junge.
»Der holt dich heute Abend ab und dann fahrt ihr zu Oma und Opa.«
»Au, ja! Papa kocht immer so toll!« Patrick grinst über beide Wangen, rennt los und zieht sie hinter sich her.