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Kreuzung Bochumer Straße, Rot
Ausgerechnet jetzt. Die Ampel zeigt Rot, und ich halte. Kalt, eisernen Zeitlinien gleich, zerschneiden die Schienen der Straßenbahn den nassen Asphalt. Die letzte Bahn ist seit zwei Spätnachrichten weg. Mein Passat grummelt vor sich hin und weckt vielleicht Schlafende hinter diesem oder jenem dunklen Fenster in der Bochumer Straße. Kein Mensch ist zu sehen, kein anderer Wagen, im Rückspiegel keine Vergangenheit.
Immer noch leuchtet das halt gebietende Rot. Ich schaue zur Uhr – 2:44 glimmt die Anzeige, das einzige Grün. Die Ampel hätte längst umspringen müssen. Vielleicht sollte ich einfach fahren, die Straße ist leer, es sieht ja keiner. Aber wie ich mein Glück kenne, tauchen ausgerechnet dann die Bullen auf. Wahrscheinlich warten sie sogar hinter der Ecke, haben mir eine Falle gestellt. Höre ich eine Sirene? Nein.
Ich könnte rückwärts fahren, eine Seitenstraße nehmen. Nein. Im Rückspiegel nähert sich langsam ein anderer Wagen. Seine Scheinwerfer blenden. Ich kann den Fahrer nicht erkennen. Nur, wenn ich den Kopf senke. Nur ein Schemen vor der nass glänzenden Nacht, unbeweglich, geduldig. Im Radio läuft Everybody Hurts von R.E.M. - falsches Lied, falscher Zeitpunkt, der richtige wäre vorgestern gewesen.
Zeigen vielleicht alle Ampeln in der ganzen Stadt rot? Ein Computerproblem in der Verkehrsleitzentrale, sowas ähnliches wird morgen in der Zeitung stehen. Sollte ich die Bullerei anrufen? Nein, die halten mich für einen debilen Irren, wenn ich frage, ob alle Ampeln Rot zeigen. Warten Sie, wir sind gleich bei Ihnen. Guten Abend, Ihre Papiere bitte. Immerhin regnet es nicht mehr. Ich bin müde. Das monotone Trommeln der Tropfen würde mich vollends einschläfern. Ich kneife die Augen zu, bis bunte Blitze aufleuchten.
Der Rumsitzer hinter mir müsste sich auch inzwischen darüber wundern, dass diese verdammte Ampel nicht grün wird. Oder war sie zwischendurch grün, aber ich habe es nicht mitgekriegt, weil ich wieder sinnlos über nichts nachdenke? Nein, dann hätte mein Hintermann auf die Hupe gedrückt oder aufgeblendet. Ich mag es nicht, geblendet zu werden. Und die Menschen hintern den Fenstern wollen schlafen. Wann schauen wohl die ersten hinaus, nach den Idioten, die mitten in der Nacht mit laufendem Motor nerven?
Nur geradeaus schaut der hinter mir. Das sollte ich auch tun. Nicht zurück schauen. Es ist sowieso nichts mehr da, bis auf glühende Asche. Es ist 2:51 Uhr. Ich würde jetzt gerne schlafen. Ich freue mich auf mein Bett, obwohl es einsam ist, nur eine Leere enthält, die mich auch nicht weniger anlächelt als Vera es zuletzt getan hat.
Im Fenster über der Fleischerei sehe ich einen Kopf. Dahinter ist kein Licht, aber ich kann ihn deutlich sehen, er beobachtet mich. Verschwindet er wieder? Nein. Er wartet. Er wartet mit mir und meinem Hintermann darauf, dass die Ampel umspringt. Wir werden immer mehr.
Vielleicht habe ich Halluzinationen. Meint Doktor Kalruth. Dieser wandelnde Stromausfall. Verdammt, ich kann ein rotes Licht doch noch von einem grünen unterscheiden. Ich sollte jetzt vielleicht wirklich einfach fahren. Der hinter mir traut sich wahrscheinlich auch nicht, und indem ich es ihm vor mache, tue ich ihm vielleicht sogar einen Gefallen. Ich könnte aussteigen und ihn fragen, was er von der Sache hält. Aber er tut das ja auch nicht. Vermutlich will er einfach seine Ruhe haben, in Ruhe Radio hören oder sich einen runterholen. Haha! Klar, der holt sich bestimmt gerade einen runter.
Um 3 Uhr kommen Nachrichten. Die Sprecherin sitzt da einsam vor ihrem Mikro und quatscht irgendwas Politisches und niemand hört hin. Dann das Fußballergebnis, das jeder schon seit Stunden kennt. Und ein Haus brennt, in Erle. Egal, ich wohne nicht in Erle. Nicht mehr. Auf der A52 bauen sie wieder an der Ruhrtalbrücke, eine Umleitung ist ausgeschildert. Ich drehe leiser. Im Handschuhfach liegt noch Karstens Beretta 81. Ich habe sie nicht benutzt, weil Vera nicht aufgemacht hat. 700 Gramm, Kaliber 7,62. Für die Ampel wird es reichen. Die Leute sind hier sowieso schon wach und glotzen an den Fenstern, jetzt knallt's, lauter und echter als im Spätkrimi. Ich richte die Beretta auf die Ampel. So wird das nichts, erstens ist die Windschutzscheibe im Weg, zweitens kann ich den Arm nicht ausstrecken um zu zielen. Jetzt wäre ein Schiebedach gut, aber Vera meinte, wir brauchen keins. Nicht ihr einziger Irrtum.
Drüben, an der Fußgängerampel, steht jemand. Wie lange beobachtet er mich schon? Sein Gesicht liegt im Schatten, der Kerl will mich sehen, ohne dass ich ihn sehen kann. Er glaubt bestimmt, dass ich das Feuer gelegt habe. Dabei kennt er mich überhaupt nicht. Gar nichts weiß er. Aber er sieht mich so an, als wäre ich schuld. Schuld daran, dass seine Perle mit einem anderen vögelt. Schuld daran, dass er keinen Bock mehr auf seinen Boss hatte und geflogen ist. Schuld daran, dass er Schulden hat. Das Arschloch macht mich verantwortlich. Ich sollte ihm die Fresse polieren. Ein klein wenig nur, so dass er mich nicht mehr so ansieht, als hätte ich ihm die gelben Flecken in die Unterhose gepisst.
Der Motor verstummt, als ich den Schlüssel drehe. Ich ziehe ihn ab, man weiß ja nie. Tür auf, aussteigen. Der Mann ist nicht mehr da. Abgehaun, als ich ausgestiegen bin, diese feige Drecksau. Aber die Leute an den Fenstern sind noch da. Sie sollen ihre Show haben. Die ganze Straße sieht zu, wie ich auf die Ampel ziele. Rot. Ein rotes Auto hinter meinem. Rot, wie Veras Micra. Während ich mich ihm nähere, wird mir einiges klar. Sie konnte vor dem Feuer fliehen. Ein Benzinkanister war nicht genug. Dann ist sie mir gefolgt. Heimlich. Heimlich, wie immer. Aber ich habe sie erkannt. Ich sehe sie durch die Seitenscheibe und schieße ihr ins Gesicht.
Grün. Die Fußgängerampel zeigt grünes Licht. Ein kleines, fröhliches Männchen. Oder ein Mädchen, man kann es nicht erkennen. Den nassen Asphalt unter den Sohlen, überquere ich endlich die Straße. Auf der anderen Seite steht Sara, und sie lacht mich an. Ich nehme sie in die Arme. Mein Gott, wenn es nach Vera gegangen wäre, hätte ich die Kleine nie wieder gesehen. Aber jetzt hat sie nichts mehr zu sagen. Jetzt gibt es nur noch Sara und mich, und den Sonnenschein, und die bunte Wiese mit den vielen Schmetterlingen.