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Krone der Schöpfung
Gesättigt sehne ich mich nach einem Schläfchen in der Sonne und lege mich auf die warme Wiese. Eine fette, grünglänzende Fliege umschwirrt meinen Kopf, nimmt dann aber auf einer verblühten Distel Platz und reibt die Vorderbeinchen aufgeregt aneinander. Brausend fegt eine Fahrzeugkolonne vorbei, ich habe die graue Autobahn im Blick. Ebenso die windschiefe, reetgedeckte Kate. Bauer Karl glaubt, als Krone der Schöpfung Herrscher der Welt zu sein und ich lasse ihm seinen einfältigen Glauben. Ich weiß alles, auch wenn er mich für blöde hält und nur im Befehlston mit mir spricht. Ich weiß, wie unflätig er seine nette Frau beschimpft, weil sie sich vegetarisch und vollwertig ernährt. Alte Kuh hat er sie genannt, nachdem sie wegen eines geschlachteten Kaninchens in Tränen ausgebrochen und kaum zu trösten war.
Karl ist ein gemeiner Mensch, der andere benutzt und nach Kräften ausbeutet. Kein schlechtes Gewissen plagt ihn jemals, aber des Lebens ungemischte Freude wurde ihm auch nicht zuteil. Dem vermeintlichen Glück in Form von Geld und Macht jagt er griesgrämig hinterher und erhascht es doch nie. Die Erde könnte anders aussehen, wenn alle, die sind wie ich, es wollten, denn wir sind nicht dumm, sondern stark. Aber ich will mich den Gegebenheiten des Daseins anpassen. Allerdings nicht der Fliege, die ihre Distel gelangweilt verlassen und mein rechtes Ohr dreist zum Landeplatz erkoren hat. Unwillig schüttle ich den Kopf und vertreibe sie.
Jetzt kommt Karl in dunkelgrünen, mistverdreckten Gummistiefeln aus dem Stall und eilt mit mürrischer Miene auf mich zu. Den Blick kenne ich. Ich weiß genau, was er heute mit mir vorhat, schließlich bin ich nicht die Erste. Oft musste ich in den letzten zwei Jahren die Schreie seiner willfährigen Opfer hören. Vielleicht ergötzt er sich daran.
Karl redet beruhigend auf mich ein, tätschelt mich und zieht mich in den Keller unter der Kate. Hier bin ich noch niemals vorher gewesen. Wehren? Warum?
In meinem Leben habe ich weder Hunger noch Schmerzen erfahren müssen und ich habe leichten Herzens ein gutes Gewissen. Ich könnte mich einfach losreißen und den kleinwüchsigen Karl zu Fall bringen. Aber schicksalsergeben gehe ich mit ihm. Mein Leben habe ich immer so akzeptiert, wie es war und nur deshalb bin ich zufrieden. Niemand kann mir etwas anhaben oder meine Freiheit nehmen.
Der Kellerraum strahlt weiß gekachelte Kälte aus. Sattes Grün hätte mir eher gefallen. Der Boden ist furchtbar glatt. Karl zerrt an mir und ich stolpere, kann jedoch einen Sturz abfangen. Er nimmt ein Tau, fesselt mich damit an einen graulackierten, quadratischen Metallpfosten. Wiederkäuend hoffe ich inständig, dass die Krone der Schöpfung mit ihrem Bolzenschussgerät umzugehen weiß.