Kurze Unterbrechung
Er wurde am 17. September 1957 als letztes Kind einer fünfköpfigen griechischen Familie geboren. Bei der Geburt sagte der Vater:
„Er hat dünne Arme, aber sein Kopf ist groß.“ Dabei nahm er einen Schluck aus der Weinflasche.
Die Mutter, aus einer einfachen Fischerfamilie stammend, stöhnte bei der Geburt leise und versagte ihrem Kind die Brust. Sie starb noch am Nachmittag.
Costas, so sollte er heißen, konnte sein restliches Leben keine Milch mehr vertragen. Sie löste bei ihm Sodbrennen und Kopfschmerzen aus. Auch den heimischen Schafs- und Ziegenkäse verschmähte er seitdem.
Als er mit zwölf mit seinem Vater, den Großeltern und zwei seiner Schwestern in den Sommerurlaub nach Platamos fuhr, erlebte er beim Sandburgenbauen zum ersten Mal in seinem Leben, was es bedeutete eine Erektion zu haben. Neben seiner Sandburg lag eine füllige deutsche Touristin mit knappen Badeanzug. Seine Badehose spannte sich und Costas hielt den Sandkübel über die unerwartete Schwellung. Seit diesem Tag verbrachte er vor dem Abendessen immer eine halbe Stunde im Badezimmer.
Als sein Vater zehn Jahre später, am 13. Januar 1974 bei einem Autounfall in einem einsamen Bergdorf ums Leben kam, konnte er sich mit dem Nachlass endlich ein eigenes Auto kaufen. Es war blau. Er glaubte, dass Frauen auf blaue Autos stehen würden. Costas pflegte und hegte es jeden zweiten Sonntag im Monat. An diesen Tagen durfte ihn keiner stören. Ein Nachbar meinte:
„Der wird noch sein blaues Wunder erleben.“
Zwei Jahre freudloser Versuche und Costas schaffte es endlich, als kleiner Angestellter bei einer Konservenfabrik eine Stelle zu finden. Der Lohn reichte gerade mal aus, um einmal im Jahr für eine Woche an den beliebten Familienstrand nach Platamos zu fahren. Er pflegte auf der ganzen Wegstrecke ganze 80 Kilometer pro Stunde zu fahren. Das Auto sollte, wie er meinte, so lange wie möglich halten.
Im Sommer 1984 passierte am vorletzten Tag seines Urlaubs das, was er schon immer befürchtet hatte. Ein rostiger Milchlaster nahm ihm die Vorfahrt. Mit Mühe befreite er sich aus den Überresten seines Wagens, hatte schon tief Luft geholt, um einen Schwall von Perversitäten von sich zu geben, als er ins Stocken geriet. Eine Frau in einem Blaumann kletterte aus dem Führerhäuschen. Sie sagte:
„Jetzt ist es wohl hin, das blaue Wunder!“
Noch für den gleichen Abend lud er sie in die Taverna Paradiso im Ort, an der Ecke beim Postamt ein. Er bewunderte beim Kerzenlicht ihre kräftigen Arme.
Am 17. Februar 1985 heirateten sie in einer kleinen Kirche bei Litohoro, am Fuße des Olymp. Er bestand darauf, ein blaues Hochzeitsauto zu fahren. Gleich im Anschluss an die Feierlichkeiten bei Onkel Urous fuhren sie in die Flitterwochen. Beide stritten sich täglich.
„Du bist so kleinlich!“, schrie sie.
„Du bist dickköpfig!“, antwortete er.
Nach einer Woche reisten sie ab.
In den nächsten fünf Jahren arbeitete er sich in die dritte Lohnklasse. Seine Kleinlichkeit schätzten alle sehr, vor allem der Betriebsleiter, ein großer bärtiger Mann, der in der Früh schon eine Fahne hatte.
Mit Mühe zeugten sie zwei Kinder. Er war abends oft in der Taverne, so sagte er. Seine Frau nahm es hin. Bald war er nicht nur in der Taverne, sondern er besuchte regelmäßig ein kleines gepflegtes Anwesen nahe dem Bahnhof. Erst in den frühen Morgenstunden kehrte er heim. Seine Tochter schluchzte in ihr Kissen, immer wenn sie den Schlüssel ihres Vaters hörte. Vornehm war die Dame, die er regelmäßig besuchte. Auf dem Frühstückstisch verlangte er nach handgenähten Stoffservietten. Sein Ei sollte in einem reich verzierten chinesischen Porzellaneierbecher seinen Platz finden. Sie ahnte etwas, sagte nichts.
Am 7. August 1995 war er wieder spät abends unterwegs. Ein leichter Rausch ließ ihn stolpern und sein Kopf schlug am Randstein auf. Vor seinem Auge lief der kurze Film seines Lebens ab und riss in der Mitte. „Kurze Unterbrechung“ prangte auf der Lebensleinwand. Es wurde dunkel.
Sie begruben ihn. Alle Arbeitskollegen aus der Konservenfabrik durften sich eine Stunde frei nehmen. Mehr Zeit hatte er ihnen zu seinen Lebzeiten für Beerdigungen nicht frei gegeben.