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Lärm
Seit ich denken kann, ist mein Kopf erfüllt von Lärm.
Versuche ich zum Beispiel, einen klaren Gedanken zu fassen, kreischt oft unwillkürlich eine Kreissäge in meinem Schädel auf und zerhackt meine Bemühungen in kleine, nicht zusammenzusetzende Fragmente. Einen Text wie diesen zu schreiben, funktioniert nur in vielen Etappen, da ich mich durch den Krach in meinem Kopf zumeist keine fünf Minuten am Stück konzentrieren kann.
Oft liege ich nachts wach und starre an die putzbröckelnde Decke, weil sich eine Trash–Metal-Band den Innenraum zwischen meinen Ohren als Probekeller ausgesucht hat. Ich lebe in einem Stadium permanenter Überreizung gepaart mit einer Müdigkeit, der ich mich nicht hingeben kann.
Manchmal muss ich mich übergeben, teilweise ganz plötzlich, ohne Vorwarnung.
Der Lärm in meinem Kopf ist nicht immer der Gleiche. Sowohl die Art des Kraches als auch die Lautstärke variieren je nach Situation und Gefühlslage. Manchmal startet ein Flugzeug in meinem Schädel, ertönt eine Schiffshupe oder bellen tollwütige Hunde. Das Spektrum ist ebenso weit gefasst wie grauenvoll.
Von Zeit zu Zeit versuche ich, an meine Vergangenheit zu denken, sehe jedoch nur einzelne Bilder, die mit den verschiedensten Geräuschen und Klangfarben unterlegt sind, bevor der Lärm sie wieder in die Versenkung reißt. Ein musikalisches Bilderbuch.
Ich sehe dann meinen Vater, den vorzeitig gealterten Schmerbauch. Und ich sehe, wie er meine Mutter in unserer mit billigstem PVC ausgelegten Küche windelweich prügelt, während ich heulend und rotznasig in der Küchentür stehe und mir ein Schnellzug durch den Kopf fährt. Und ich sehe meine Mutter, recht hübsch, aber so unglücklich in der Wahl ihrer Männer. Wenn ich ihr Gesicht vor mir sehe – immer nur für Bruchteile von Sekunden, bevor der Krach es sich zurückholt und nur Schwärze und Schmerz zurücklässt – verringert sich die Lautstärke, so als hätte jemand einen Lautstärkeregler in meinem Kopf gedreht. Auch die Art des Lärms wird erträglicher. Statt einem Schmiedehammer, der unablässig einen Amboss bearbeitet, höre ich kurzzeitig das Lachen aus vielen kleinen Kinderkehlen.
Ich sehe auch oft wie mich die Schlipsträger abholten, um mich in ein Kinderheim zu bringen. Meine Mutter war nicht stark genug, sich von dem prügelnden Versager zu trennen, und so sah ich sie das letzte Mal durch die Heckscheibe des Wagens vom Jugendamt. Sie stand vor der Tür unseres Wohnblocks, ihr Gesicht aufgequollen vom scheinbar nie versiegenden Strom ihrer Tränen, und ihre Hände hielt sie verkrampft in der schmutzigen Kittelschürze. Langsam sank sie auf die Knie, das Gesicht eine Maske des Schmerzes. Meinen Vater sah ich nicht vor der Tür stehen um mich zu verabschieden. Er lag besoffen auf der billigen Couch vorm Fernseher und zappte durchs Fernsehprogramm. Untermalt wird dieses Bild vor meinen Augen von Metallsägen, die nicht existent sind, und trotzdem das Innere meines Schädels zu pulverisieren drohen.
Im Heim erweiterte sich mein inneres Klangspektrum in sämtliche Richtungen, eine vollendete Klangpartitur des Grauens. Meine schulischen Leistungen waren katastrophal. Ich konnte mich einfach nicht auf den Unterricht konzentrieren mit einer Abrissbirne zwischen den Ohren.
Andere Kinder lachten mich aus, nannten mich „Freak“ und „Blödmann“, zeigten lachend mit Fingern auf mich, und ein Rauschen wie das eines tosenden Meeres füllte mich aus und versuchte mich wegzuschwemmen.
Dann lernte ich Nicole kennen. Sie verstand mich. Was genau sie durchgemacht hatte, habe ich nie herausgefunden, aber sie hatte überall blaue und grüne Flecken als ich sie das erste Mal sah. Wir kamen uns näher, und die Geräusche in mir wurden leiser. Auch hörte ich keine infernalischen Motorsägen oder ähnliches sondern Geigen und Pauken und Saxophone. Auf einmal konnte ich kluge Sachen sagen, konnte Gedanken zu einem sinnvollen Ganzen fügen ohne vorher unterbrochen zu werden.
Waren wir nicht zusammen, kehrte der Krach zurück und forderte mit einer Vehemenz den Platz in meinem Kopf ein, die mich zuweilen glauben machte, den Punkt, meinen Verstand zu verlieren, schon längst hinter mir gelassen zu haben. Eines Tages kam ich zu unserem Treffpunkt, dem unkrautüberwucherten Parkplatz des geschlossenen Autokinos, freute mich auf ein paar Stunden ruhigerer Geräusche in meinem Kopf und auf das Zusammensein mit Nicole generell. Ich habe nie erfahren, ob sie mich vorsätzlich verletzen wollte oder sie einfach vergessen hatte, dass wir uns an jenem Ort treffen wollten, doch ich sah sie mit ihrer Zunge im Hals von Mark. Als Gegenleistung hatte er seine Hand unter ihrem Pullover und fuchtelte wild und ungestüm an ihr herum. Die Wut explodierte gleichzeitig mit dem kreischenden Metall eines Autounfalls in meinem Kopf.
An diesem Tag fand ich jedoch auch heraus, wie ich die Geräusche in meinem Kopf verstummen lassen konnte.
Ich löse mich aus dem Schatten der Hecke und durchquere den rückwärtigen Garten des Einfamilienhauses. Das Rascheln meines Ganzkörperanzuges aus Plastik dringt nicht zu mir durch, vielmehr vollführt ein ICE eine Trommelfell zerreißende Vollbremsung und malträtiert mich. Die Hintertür ist nicht verschlossen. Manche lernen es nie. Ich schlüpfe in die Küche und schließe die Tür leise hinter mir.
In jedem Zimmer des Erdgeschosses brennt Licht, aber ich weiß, dass die Dame des Hauses alleine ist. Mühevolle wochenlange Vorbereitung. Beobachten, Notizen machen, verfolgen, noch mehr Notizen machen. Ich weiß auch, wo sie ist. Von oben höre ich das sanfte Rauschen der Dusche. Sie duscht immer nach dem Joggen. Macht sich schick für ihren perfekten Mann, der allerdings erst in drei Stunden nach Hause kommen wird. Begleitet von stakkatoartigen Gitarrenattacken steige ich Stufe für Stufe ins Obergeschoss, freundlich angelächelt von Fremden auf Bildern. Schwach höre ich die Joggerin summen, ein harscher Kontrast zum ausbrechenden Vulkan in meinen Gehörgängen.
Die Glastür, die ins Badezimmer führt, ist dampfbeschlagen. Gut. So kann sie mich nicht sehen, als ich den Flur entlanggehe, an einer Pinnwand mit Postkarten aus aller Welt vorbei. Leise öffne ich die Badtür und sofort sind das Summen sowie das Rauschen der Dusche lauter, gegen den hektischen Breakbeat in mir jedoch ohne größere Chance. Dampf schlägt mir entgegen, und kleine Tropfen perlen an meinem Plastikanzug, aus dem nur ein Teil meines Gesichts herausschaut. Die Dusche befindet sich hinter einem Vorhang und ich bewege mich langsam darauf zu.
Eine Presslufthammerattacke übermannt mich, und ich muss mich so darauf konzentrieren, diese in den Hintergrund zu verschieben, dass ich einen Augenblick nicht weiß, wo ich bin und was ich zu tun habe. Es wirkt alles fremd. Ich schüttele den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen. Langsam kehrt die Erinnerung zurück.
Das Summen aus der Dusche verstummt. Das Knirschen meines Anzugs, für mich kaum wahrnehmbar, musste die Gehörgänge der Joggerin erreicht haben.
Der Lärm in meinem Kopf nimmt zu, so stark, dass mir übel wird. Ich fühle mich, als würde ich auf einer Klippe stehen und der Lärm würde mich immer näher an den Abgrund drücken bis ich den Halt verlöre und fiele … Nein ich muss mich zusammenreißen.
Nicht mehr lange.
„Hallo?“ Obwohl ängstlich, ist ihre Stimme wie flüssige Schokolade, die sich in meine Gehörgänge einmassiert, dort in die vom Lärm eingerissenen Wunden schmiegt und den Schmerz lindert.
Ich stehe vor dem Vorhang. Vorfreude droht mich zu überwältigen. Der Krach in mir wird stärker, ein Crescendo von Metall auf Metall.
Dann ziehe ich den Vorhang zur Seite.
Die Läuferin steht vor mir, natürlich nackt, und ihre Augen weiten sich vor Panik. Ein gefangenes Tier. Ihr spitzer Schrei sticht mir in die Ohren und jetzt ist sämtliche Schokolade aus ihrer Stimme heraus geflossen.
Mit einem Chor aus schreienden Stimmen in mir lege ich meine Hände um ihren schlanken Hals und ziehe sie auf den Boden des Badezimmers. Bernadette liegt unter mir, schlägt um sich, aber ihre Hände finden keinen Halt und rutschen wirkungslos an meinem Anzug ab. Ihr Schrei bricht ab, und die Lücke die er bei mir hinterlässt, wird sofort von noch mehr Stimmen vom Chor der Wahnsinnigen gefüllt.
Ich drücke fester. Gleich würde es soweit sein.
Bernadettes Tritte und Schläge werden schwächer, zum Schreien hat sie schon lange keine Luft mehr.
Gleich. Gleich. Gleich.
Dann werden ihre Augen glasig und starren an mir vorbei an die Decke.
Gleichzeitig fallen sämtliche Geräusche in meinem Kopf wie ein Kartenhaus zusammen, verschwinden und hinterlassen ein Vakuum. Ich lasse von meinem Opfer ab und lehne mich zurück, schließe die Augen und lausche der fast vollkommenen Stille. Ich höre die Dusche jetzt klar und nicht durch einen Vorhang aus Krach, und das Prasseln der Wasserstrahlen auf die Porzellanwanne hört sich wunderschön an.
Wie das schönste Geräusch auf der Welt.
Es wird nicht lange dauern, und die ersten Störgeräusche werden sich wieder in meinen Kopf einschleichen, und nach und nach werde ich wieder das ursprüngliche Stadium erreicht haben.
Aber jetzt noch nicht.
Noch nicht.
Jetzt genieße ich erst mal die Ruhe.