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Lampenfieber
Kurz vor meinem Auftritt. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich vor einer größeren Ansammlung von Leuten eine Rede halten.
Ich bin die Ruhe selbst. Atme tief ein und aus, das Lampenfieber kribbelt förmlich in meiner Wirbelsäule, aber es ist unter Kontrolle. Genau so wie es sein sollte.
Bemüht, meine Anspannung zu überspielen, lächle ich in Herberts Richtung.
Herbert runzelt die Stirn. „Du hast doch die Rede dabei, oder?“
„Klar.“
„Okay. Ich meine nur, weil du so nervös bist.“ Herberts Blick bleibt argwöhnisch an mir hängen. „Das ist nicht so gut, wenn du vor das Publikum trittst.“
„Wie meinst du das? Ich dachte, ein bisschen Lampenfieber müsste sogar sein, damit es was wird.“
„Wo hast du denn den Scheiß gelesen? Wenn du Lampenfieber kriegst, bist du doch voll in den Arsch gekniffen.“
Erwin, der an der Bar zugehört hat, lässt einen zustimmenden Rülpser ab. „Darauf kannste einen lassen, Junge. Ich hab’ da schon Sachen erlebt, das vergisst du dein Lebtag nicht. Ich war mal auf so 'ner Bürgerversammlung, da kam der Typ für die Eröffnungsrede nach vorne, und kaum, dass er am Pult stand, hat er Glubschaugen gekriegt wie ein Frosch und ist lila angelaufen.“ Er hebt beide Hände zum Kopf und fängt an zu kichern. „Und wie der sich einen abgestammelt hat, oh Mann, das war so erbärmlich, ich sag’ dir, wir haben alle nur verlegen dagesessen und auf den Boden geguckt. Ehrlich, wir hätten den am liebsten mit faulen Tomaten abgeworfen und in die Mülltonne gesteckt!“ Er bricht in wieherndes Gelächter aus und klopft sich auf die Schenkel.
Als er von Neuem ansetzt, macht Herbert eine herrische Geste. „Es reicht, Erwin. Ich denke, er hat’s kapiert.“
Nun bin ich ein wenig verunsichert. „Aber ein Freund von mir hat gesagt, dass es manchmal wirklich ein bisschen hilft. Er hat gesagt, wenn du kein Lampenfieber hast, bist du nicht angespannt genug…“
„Mann, hör’ auf, dich verarschen zu lassen. Dein Puls muss ganz normal gehen, sonst gibt es eine Katastrophe.“
Er packt mich an den Schultern. „Sieh mal, wenn du da auf die Rednertribüne gehst, sitzt unten ein Haufen Leute, die auf jede deiner Bewegungen achten. Eine falsche Muskelzuckung, ein Gesichtsverzieher im falschen Moment, und alles ist im Eimer. Dann ist die Wirkung dahin, und du kannst dich nur noch zum Idioten machen.“
Sein Griff wird noch etwas fester, als er mit eindringlichem Blick hinzufügt: „Also lass es bitte nicht an dich heran, hörst du? Es ist einfach zu wichtig.“
Mein Puls fängt an zu rasen. Auf meiner Stirn bilden sich erste Schweißperlen. „Herbert, ich…“
„Verdammt, Matti, jetzt reiß’ dich zusammen.“ Er fängt an, mich zu schütteln. „Es geht um deinen Posten als Vorsitzender. Ich hab’ dich mit viel Mühe aufgebaut, du kannst nicht einfach im entscheidenden Moment den Schwanz einziehen. Und noch weniger kannst du dir Panik erlauben. Dann verlierst du alles und bist auf ewig zum Versager gestempelt. Willst du das?“
Ich umfasse meinerseits seine Oberarme. Dunkle Schweißflecken breiten sich darauf aus, und eine kalte Woge droht in mir überzuschwappen.
Ich will etwas sagen, aber meine Stimme versagt ihren Dienst.
Rolf lugt aus der Tür zum Konferenzraum und räuspert sich verlegen. „Seid ihr hier bald fertig? Wir wollten nämlich anfangen, die Leute werden langsam ungeduldig…“
„Schnauze, Versager!“ Er zeigt mit einem bohrenden Finger auf Rolf und sieht mich durchdringend an.
„Schau ihn dir genau an. Er hat vor zehn Jahren eine Rede verpatzt, und seitdem ist er bei uns der letzte Fußabtreter! Willst du das?“
„Also, so schlimm war das doch auch wieder nicht.“ Rolf setzt wieder seine wehleidig-eingeschnappte Miene auf. Seit acht Jahren kenne ich ihn gar nicht anders.
„Nicht schlimm?“ Herberts Stimme überschlägt sich in Sarkasmus. „Dann denk mal nach, seit wann sie dich alle wie Scheiße behandeln und immer die letzte Drecksarbeit auf dich abschieben.“
„Stimmt doch gar nicht“, mault Rolf. „Ich miste gern die Ställe aus…“
„Klar, und Putzen und Bedienen machst du auch gern, was?
Nee, Matti, nimm dir bloß kein Beispiel an diesem Waschlappen, sonst bist du echt fürs Leben gezeichnet.“
Er dreht sich zur Bar um, und aus größer werdender Entfernung höre ich ihn sagen: „So, jetzt nimmst du dir erst mal einen Schluck, und dann… Hey, wo willst du hin? Du kannst doch jetzt nicht einfach abhauen! Scheiße, Matti, das hat doch so keinen Sinn…“
Dann bin ich raus aus dem Clubhaus und auf schnellstem Weg zum Wagen.
Morgen trete ich aus dem Kaninchenzüchterverein aus. Sollen die doch mal sehen, wie sie mit fünf Leuten klarkommen.