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Larva Pik
Scheiße – tut das weh. Mein Kopf fühlt sich an, als hätte ich eine Flasche Tequila auf ex getrunken. Farben zeichnen vor meinen Augen Wirbel. Das muss etwas Stärkeres als Alkohol sein. Wobei? Wann gab es zum letzten Mal …?
Wach auf! Ich versuche, die Augen zu öffnen, doch es klappt nicht. Mir wird heiß und kalt zugleich. Da klebt etwas auf meinen Augen. Ich will danach greifen. Die Arme bewegen sich keinen Millimeter. Nicht einmal den Kopf kriege ich angehoben und dann begreife ich: Jemand hat mich fixiert.
Etwas Kühles berührt die Stirn, tastet den Kopf ab, ich will schreien, bekomme jedoch keinen Ton heraus. Erst jetzt merke ich, dass etwas in meinem Mund steckt, die Zunge nach hinten schiebt. Ein unerträglicher Schmerz bohrt sich durch den Hinterkopf direkt in das Gehirn. Ich kreische innerlich, so laut ich kann.
Pik hat es geschafft. Zu guter Letzt bin ich seine Gefangene.
Die Wiesen waren saftig grün. Meine kleine Schwester rannte mit ihrer Puppe im Arm auf mich zu. »Vroni!«, rief sie laut lachend. Ihre blonden Locken wippten im Wind wie Luftschlangen auf einer Gartenparty. Sie war ein Wildfang. Das hatte sie von unserem Vater.
Kritisch beäugte ich den Himmel, der sich langsam verdunkelte. Aus der Ferne hörte ich ein Grummeln. »Laura, wir müssen heim«, rief ich. »Es wird bald gewittern. Laura!«
Meine Schwester rannte demonstrativ in die entgegengesetzte Richtung. Sie wusste genau, wie sie mich provozieren konnte. Dann drehte sie sich zu mir um und streckte mir die Zunge raus. »Regnet noch gar nicht! Spielverderberin«, quäkte sie über das Feld. Sie war erst fünf, jedoch stur wie ein alter Esel. Ich versuchte, mich zusammenzureißen, aber es fiel mir schwer. Unserer Großmutter hatte ich versprochen, immer auf Laura aufzupassen. »Schwestern müssen zusammenhalten!«
»Laura! Wenn es anfängt zu regnen, ist es zu spät. Du holst dir wieder einen Schnupfen.« Und Schnupfen war bei ihrer Immunschwäche stark untertrieben.
Es knallte. Ohrenbetäubend. Laura erstarrte, ließ die Stoffpuppe fallen und blickte zum Himmel. Ich bebte. Einen solchen Donner hatte ich noch nie gehört. Es klang, als würden Hunderte von Tieffliegern die Schallmauer durchbrechen. Der Mund meiner Schwester verzog sich. Sie rannte los. Als sie in meinen Armen ankam, war ihr kleines Gesicht tränenüberströmt. Ich drückte sie an mich und strich ihr durch die blonden Locken.
»Schnell, wir müssen heim«, sagte ich leise.
»Schau«, sagte meine Schwester, »die Fliegen da oben.« Die kleinen Augen leuchteten wieder, während letzte Tränchen noch die Wangen herunterliefen. »So viele Fliegen!«
»Welche …?« Mein Blick ging zum Himmel. Weit über den Wolken färbte er sich schwarz. Unzählige schwarze Punkte schwirrten auf uns zu. Mein Atem wurde schneller. »Lauf!«, rief ich, packte Laura am Arm und rannte los.
»Vroni, Vroni! Du tust mir weh.« Laura versuchte, sich zu befreien. Schließlich schnappte ich sie mir und warf sie über die Schulter. Die trommelnden Fäustchen und das Geplärre ignorierte ich einfach.
Schmerz. Noch nie im Leben habe ich einen solchen Schmerz gespürt. Es fühlt sich an, als würde jeder einzelne Nerv in meinem Körper seziert werden. Warum nur wache ich immer wieder auf? Ich möchte sterben. Es soll endlich enden. Pik, ich hasse dich!
»Aua, aua, du tust mir weh! Ich will die Fliegen sehen!« Lauras Händchen zogen an meinem Haar, während sie die Hände ballte und auf meinem Rücken einschlug.
»Das sind keine Fliegen!« Ich war bereits völlig außer Atem, als endlich unser Bauernhof hinter dem Hügel mit dem Wäldchen auftauchte. Es war nicht mehr weit, ich müsste durchhalten, dieser Apokalypse entkommen.
Atemlos erreichte ich mit Laura unsere Haustür. Meine Mutter stürmte heraus und nahm Laura in den Arm, die immer noch schrie. Ihr Köpfchen war mittlerweile hochrot.
»Rein ins Haus, schnell!« Meine Mutter wirkte hektisch, war kreidebleich.
»Mama, was ist das?«, fragte ich.
Mittlerweile flogen die Dreiecke so tief, dass man ihre Konstruktion genau erkennen konnte. Mir schwirrten Szenen aus Science-Fiction Filmen im Kopf umher. Autos, die sich in Roboter verwandelten, Mauern, die ganze Städte in Bezirke unterteilten, glibberige Gebilde, die sich auf Gesichtern festsaugten …
»Bis vorhin ging das Radio noch«, sagte meine Mutter. Schweißperlen tropften von ihrer Stirn, während sie Laura beruhigend durch das Haar strich. »Wir sollten die Häuser nicht verlassen. Dann rauschte es nur noch. Der Strom ist seitdem weg.«
»Wo ist Papa? Ist er noch …«
»Ich weiß es nicht.« Meine Mutter spielte nervös mit Lauras Haaren. »Ich kann ihn nicht erreichen. Das Handynetz ist ausgefallen.«
Meine Schwester schluchzte, schreckte im Arm meiner Mutter auf. »Nelly, wo ist Nelly?«
Lauras Lieblingspuppe. Sie musste noch auf dem Feld liegen.
»Wir finden Nelly. Wir müssen jetzt aber im Haus bleiben.« Meine Mutter setzte Laura ab.
»Nein, Nelly ist allein!« Erneut liefen meiner Schwester Tränen über die Wangen. Nelly, das letzte Geschenk unserer Großmutter.
»Sei …« Mutter schnappte nach Luft. Das war alles zu viel für sie. »Wir holen Nelly später!«
Das Gesicht meiner Schwester verzog sich noch mehr.
»Ich hole sie«, sagte ich.
»Nein, Vroni …«
Bevor meine Mutter mich aufhalten konnte, stürmte ich zur Tür. Ich wusste selbst nicht, warum. Aber irgendetwas zog mich nach draußen. Sagte mir, ich müsste Nelly holen.
Es ist warm um mich herum. Ich recke meine Glieder, taste mit meinen Händen – etwas Weiches. Schrecke aus meinem Traum auf. Das Licht um mich herum ist dämmrig und ich befinde mich auf einer weißen Liege, zugedeckt mit einem seidigen Tuch. Irritiert blicke ich mich um, greife nach meinen Handgelenken. Ich bin frei und alleine in dem Raum. Er ist rechteckig, vielleicht fünfmal drei Meter, ganz weiß und mit Luftschlitzen versehen. Ich setze mich auf die Kante des Bettes. Mir ist schwindelig und dann höre ich es zum ersten Mal, das Flüstern in meinem Kopf. „Vroni – Veronika.“
Mit Nelly unter dem Arm geklemmt rannte ich durch das Wäldchen auf dem Hügel. Einige der Dreiecke waren zwischenzeitig gelandet. Es lag ein seltsames Vibrieren in der Luft. Ein hoher Ton bohrte sich in die Gehörgänge. Ich musste zurück zu Mutter und Laura. Hoffte, mein Vater hätte es auch nach Hause geschafft. Es würde alles gut gehen, redete ich mir ein. Irgendwer würde etwas tun. Die UNO, NATO, Marines oder russische Elitetruppen, wie immer die auch hießen.
Ich drückte die Stoffpuppe eng an mich. »Deine Schwester ist ein Sonnenschein, der es verdient, immer zu strahlen«, hatte Großmutter gesagt. Ohne Nelly, die ihr bei jeder Krankheit beistand, war Laura nur die Hälfte. Ich spürte die Beine kaum noch, mein Puls raste und dann – kurz vor dem Waldrand – stolperte ich. Flog mit einem Satz in eine schlammige Pfütze, während Nelly in einem Strauch landete. Ich rappelte mich auf und erstarrte. Ich blickte den kleinen Hügel hinunter ins Tal auf unseren Bauernhof. Weiß gekleidete Gestalten mit Masken, an denen Atemgeräte hingen, standen dort herum. Sie waren vermutlich bewaffnet, ich wusste es nicht, mit etwas Langem, das ich nicht kannte. Sie fuchtelten damit herum, während zwei Weitere mit Mutter aus dem Haus kamen. Sie wehrte sich nicht, ihr Kopf hing seltsam zur Seite geknickt, ihr Körper zuckte und dann erschien eine dritte Gestalt – mit Laura auf dem Arm. Wie gelähmt sah ich mit an, wie meine Familie abgeführt und in eines der dreieckigen Dinger verbracht wurde.
Misstrauisch beäuge ich die Larva-Frau. Ich hätte sie mir anders vorgestellt. Ohne den Schutzanzug sieht sie uns Menschen gar nicht unähnlich. Sie ist größer, schlanker, die dunkelgrünen Haare wirken wie eine Faschingsperücke, doch sie hat zwei Arme, Beine, ein schmales Gesicht mit tiefschwarzen Augen.
Die Frau lächelt, stellte mir den beigen Brei hin, den ich mehrmals täglich bekomme. Er schmeckt süßlich. Ich weiß nicht, warum ich ihn überhaupt esse. Hör damit auf, denke ich mir, zu essen, zu trinken. Stirb einfach … aber dann flüstert sie mir zu, die Stimme in meinem Kopf: »Esse ihn, trinke, lebe!«
Nicht viele Menschen aus unserem Heimatort hatten es geschafft, den Larvas zu entkommen. Nachdem die Nachrichten dazu aufgerufen hatten, in den Häusern zu bleiben, haben die Larvas ihre Opfer einfach nur dort abholen müssen. Selten stießen Fremde zu uns, die uns von anderen Regionen erzählten. Der Widerstand war angeblich im Keim erstickt worden. Die technisch überladenen Flugzeuge der Armeen hätten erst gar nicht starten können. Vielleicht gab es irgendwo einige Regierungschefs in Luxusbunkern, während wir Überlebenden um ein Lagerfeuer saßen. Aus dem Rucksack neben mir schaute Nelly heraus. Nelly, die ich retten konnte …
»Hier ist die Zentrale der Larvas!« Gabriel, den ich zuvor als den schlanken Kellner aus der Eisdiele gekannt hatte, zeichnete mit einem Stock einen Lageplan in den Sand.
Müde folgte ich seinen Worten. Es war ein täglicher Kampf ums Überleben. Seit fünf Jahren zogen wir gemeinsam durch das Land. Alte Supermärkte ausrauben, sichere Schlafplätze finden und die Zentralen der Larvas angreifen. Das war der Job unserer zehnköpfigen Gruppe.
Im Gegensatz zu anderen Widerstandsgruppen waren wir effektiv. Wir hatten Benno, einen Feuerwehrmann, der neben Gabriel stand und uns auffordernd ansah. »Wir haben alles, um in den nächsten Wochen Sprengladungen zu bauen. Das wird für Pik ein herber Rückschlag sein.«
Wut stieg in mir auf. Pik, das war der Anführer der Larvas hier in der Region. Jedenfalls vermuteten wir das. Auf seiner Maske war ein schwarzes Zeichen, das einem Pik ähnelte und er tauchte gefühlt überall auf. Vielleicht gab es aber auch mehrere Piks. Wie die Larvas organisiert waren, wie sie miteinander kommunizierten, war uns unbekannt. Genauso wenig wussten wir, wie sie aussahen.
Gabriel zeigte mit dem Stock auf das in den Sand gezeichnete Gebäude. »Wir brauchen einen Freiwilligen, der auf das Dach klettert und die Sprengsätze dort anbringt«, sagte er und schaute dabei Sebastian und Markus an.
»Ich mach’s«, hörte ich meine eigene Stimme sagen. Für etwas musste sich das Kletter- und Bouldertraining der letzten Jahre ausgezahlt haben.
»Vroni …« Gabriel sah mich mitleidig an. Ich wollte aber sein Mitgefühl nicht.
»Ich mache es!« Dieses Mal sagte ich es so, dass kein Widerspruch möglich war. Gabriel biss sich auf die Lippen, dann nickte er.
Ein Messer, endlich halte ich ein Messer in den Händen. Das, was sie mir heute servierten, ist anders. Weich, fast fleischig. Ich blicke den scharfen Gegenstand in meiner Hand an, führe ihn auf die Halsschlagader zu. Sterben, ich will sterben, diese Stimmen in meinem Kopf loswerden.
Die Tür wird aufgerissen. Drei Larvas stürmen in den Raum, schnappen mich, das Messer fällt zu Boden. Ich werde zur Liege gerissen, gefesselt und in meinen Kopf halt es laut, Vroni, du musst leben.
Ich war geübt im Klettern, aber die Zentrale der Larvas war nicht leicht zu erklimmen. Die Außenwand war glatt, ich fand kaum halt mit den Füßen. Es war aber nicht mehr weit bis zur Dachkante, das Gewicht des Rucksacks wog schwer. Dann wurde es laut um mich herum. Scheiße, sie hatten mich entdeckt. Meine Blicke suchten das Versteck von Gabriel und Benno, die den Auslöser für die Sprengsätze hatten. Doch ich konnte aus der Höhe nichts erkennen.
Eine Truppe von Airriders kam auf mich zu. Sie hatten mich umzingelt. Mit zusammengekniffenen Augen erkannte ich auf einen der Helme ein Zeichen: Pik.
Mir blieb nichts anderes übrig. Ich dachte an Nelly im Rucksack und mit ihr an … Laura. Ich löste meinen Griff von der Dachkante und ließ mich fallen.
Die Stimme in mir wird lauter und lauter. Ich liege immer noch fixiert auf der Liege und dann höre ich eine Stimme ganz genau. Und auf einmal habe ich ein Bild von ihm im Kopf. Das Bild eines schlanken Larva-Mannes mit dunkelgrünem Haar. Du weißt, wo sie sind. Der Widerstand. Mir wird heiß und kalt und ich versuche, nicht an Gabriel, Benno, Markus und die anderen zu denken, doch es gelingt mir nicht. Ich sehe Lagerfeuer, das Muster der Routen, die wir wählen, die Supermärkte, in denen wir noch Nahrung erwarten. Ich sehe alles. Auch unser aktuelles Versteck. In mir spüre ich ein zufriedenes Grinsen. Meine Fesseln lösen sich. Ich kann mich nicht länger dagegen wehren, lasse ihre Gefühle in meinem Kopf zu und bin – glücklich.
Die Luft rauschte an den Ohren. Das Fallen war nicht so schlimm, wie ich dachte. Ich fühlte mich mit einem Male befreit. Wie ein Vogel. Vor meinem inneren Auge sah ich meine Eltern, Großmutter und Laura, wie wir an einem sonnigen Tag auf der Terrasse grillten, lachten und einfach glücklich waren.
Dann schnappte jemand nach meinem Arm. Ein Airrider hatte mich eingeholt. Ich wurde mit einem harten Schlag auf das Fluggerät gezogen.
Obwohl ich zuvor entschlossen war, eher mein Leben aufzugeben, als in ihre Gefangenschaft zu geraten, verspürte ich eine ungewollte Angst bei dem Trip durch die Luft. Panisch klammerte ich mich an irgendwelchen Haltungen fest, während die Welt unter mir immer kleiner wurde. Sie brachten mich fort aus der Stadt zu einer anderen Zentrale. Der maskierte Larva zog mich in das Innere. Wir bestiegen einen gläsernen Fahrstuhl. Auf seiner Maske erkannte ich das Pik.
Ein Fenster. Ich habe ewig kein Fenster mehr gesehen. Mein Blick geht über die Felder zum Sternenhimmel und ich wünsche mir dort oben zu sein, weit weg von der Erde, um andere Planeten zu erobern. Ich schlüpfe in die Weltraumausrüstung, die für mich bereit liegt. Auf einem Tisch weiter hinten im Raum liegen irgendwelche Sachen, ein Rucksack, ein paar Seile und eine Puppe. Ich drehe mich um und gehe zu dem gläsernen Fahrstuhl. Zuvor setze ich mir den Helm auf. Auf seiner Seite steht, für alle sichtbar, ein Pik.