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Laufen
Oben in der Zimmerecke sitzt die Spinne mit den sieben Beinen. Eines hat er ihr ausgerissen, aus Versehen. Als er sie einfangen und aussetzen wollte und dann brachte er es nicht mehr übers Herz.
Sonst sieht er kaum jemanden. Den Job in der Fabrik hat er gekündigt. Zu viel für zu wenig und der Kopf fast geplatzt. Keinen Kontakt zur Familie und auch Freunde hat er keine, und um sich davon abzulenken, davon und von den schrumpfenden Rücklagen, vor allem wohl, um bei Sinnen zu bleiben, hat er mit dem Laufen angefangen, auch wenn das Knie streikt. Er bemerkt ja selbst, dass das nicht gut klingt: Vor Problemen weglaufen. Und trotzdem.
Früher hat er mal Antidepressiva genommen. Und dazu gekifft. Oder andersrum, in erster Linie hat er gekifft und das Kiffen mit Antidepressiva kombiniert, jedenfalls fällt es deshalb schwer zu sagen, was davon wofür verantwortlich war, was für die Hochstimmungen und was für die Paranoia. Und ob das jetzt Nachwirkungen sind, diese ständige Angst vor dem Sterben und die Zeitgleichgültigkeit gegenüber dem Tod. Ein bisschen läuft er jetzt also wohl auch vor den Fragen davon. Rennt davor weg, je nachdem.
Seine Runden sind Begegnungen. Mit sich selbst. Mit der Natur, auch mit anderen. Heute mit dem zottelig-lockigen Hund, der ein Stück weit mitlief und mit seinem Frauchen, die ihn dann wieder zurückrief. Auch mit der Zeit. Mit der Zeit auf seiner Smartwatch, die ihm anzeigt, ob er es gut macht, zwei Schritte Vorsprung, ha, aber vor allem mit der Zeit an sich, auch mit den Jahreszeiten, fällt ihm auf.
Als er ein Kind war, machte seine Familie an Ostern Urlaub auf dem Bauernhof auf dem M.-Berg. Der Vater fuhr das Auto, den Renault, war noch am Leben und noch Teil der Familie. Die Streitereien mit der Mutter noch nicht so häufig, noch nicht Normalität. Die erhobene Faust gegen ihn selbst, Jahre später, als er da stand, in der Wohnung in der J.M.-Straße, an die raue Struktur der wachsgelben Wand gepresst und geblendet von der Lampe an der Decke, der hölzernen, in Form eines Flugzeugs, das schwere Schnaufen seines Vaters und das Zittern und das Wissen um seine Mutter, die im Wohnzimmer auf dem grauen Sofa saß, stumm, die Knie an die Brust gezogen und darüber die Decke, die olivgrüne mit den Seehunden drauf und den Bällen, die sie auf der spitzen Schnauze balancierten, der Wunsch, dass die Faust endlich sein Gesicht traf, seine Nase zertrümmerte, das Jochbein, der endgültige Beweis für den Hass, der Schlusspunkt, der Wendepunkt, der es dann auch war, wenn auch anders, all das war noch Zukunft, konnte noch warten.
Denn jetzt war es Ostern. Jetzt standen schöne Zeiten bevor. Morgens die Decke wegstrampeln, wenn draußen der Hahn krähte. Die frisch aufgebackenen, dampfenden Brötchen mit glühenden Fingerspitzen aufschneiden, den Teigkloß aus der Mitte zupfen und unzerkaut herunterschlucken. Keine Zeit, die schmelzende Butter zu verstreichen, Salami drauf, Klappe auf, zu und dann weg. Raus in die Welt.
Im Wald hinter der Kuhweide gibt es Blindschleichen, echte Schlangen. Wenn die Schafe rufen, klingt es wie gefangene Menschen. Der Wind macht das Gesicht rot und lässt die Rotze laufen, egal, Zungenspitze schleck-weg-weiter, die Pferde treten aus und die Schweine grunzen und der Esel hat einen Pimmel, der fast bis zum Boden reicht. Jonas hat auch einen Pimmel und ich auch und wir pissen gegen den Wind und der Bauer fährt auf dem Traktor vorbei und hupt und wir schämen uns, liegen später mit Fernglashänden auf dem Bauch und beobachten, wie er mit den Eltern spricht und wie sie lachen. Dann ist wohl alles gut. Dann also weiter. Verschwitzt durch den April und über Pfützen und durch die Wolken bricht die Sonne, jetzt ist es goldgrau bis weißgelb und als wir vom M.-Berg zurückkommen ist alles grün, bemerkt meine Mutter. Guckt mal, wie grün es jetzt ist. Vor zwei Wochen war doch noch alles kahl. Aber der Vater will nichts wissen, ihm tut das Knie weh, von der Fahrt, vom langen Sitzen. Setzt bloß den Blinker, biegt in die Siedlung, sieht zum Kamin der Fabrik.
Und jetzt ist es genau andersrum. Letzten Monat, als ich anfing zu laufen, war noch alles grün. Wurde dann nach und nach gelb. Wurde dann gelbrot bis braungelb, wurde ocker bis matschbraun. Die Wege wurden nass und rutschig und ich sprang über Pfützen. Das erste Mal seit ewig. Und überall Nacktschnecken, überall Krähen, die ihre Schnäbel in das weiche Fleisch bohren und harte Nüsse, die aus Schnäbeln fallen und über den Asphalt rollen. Und ich würde ja gerne helfen: Lass mich deine Nuss knacken mit meinen gedämpften, matschbesprenkelten Laufschuhen, lass mich für dich da sein, geh nicht weg wie mein zottelig-lockiger Kumpel, aber Krähe und Nuss sind schon auf und davon.
Vor einem Monat konnte ich einen Kilometer laufen und hatte dann Schmerzen. Weniger, als erwartet. Vor einem Monat dachte ich, meine Knie würden wieder streiken, wie früher, mit vierzehn, als ich aus dem Bus aussteigen musste. Weil ich Panik bekam. Weil ich schwitzte. Oder schwitzte ich, weil ich Panik bekam, ich weiß es nicht, aber ich musste raus, ich drückte auf den roten Knopf und spürte die Blicke der anderen Menschen und muss hier raus aber der Bus bleibt stehen, irgendwas stimmt nicht, vielleicht nur eine rote Ampel. Aber irgendwas stimmt nicht, mein Herz schlägt zu schnell oder zu langsam und ich schwitze zu viel und mein Kopf ist zu leicht und zu schwer und ich platze gleich, wenn der Bus nicht gleich losfährt, wenn der Mann mit den haarigen Ohren mir noch näher kommt, wenn jetzt nichts passiert und auch wenn doch, ich platze, egal wie, ich kann nicht, krieg keine Luft mehr, fahr weiter, lass mich raus, von mir aus gleich hier auf einer Brücke von der ich springe ganz egal ich will tot sein und endlich lässt der Bus Luft ab. Zischt und senkt sich. Und ich laufe. Will nur nach Hause. Was viel zu weit ist. Und was erwartet mich schon zuhause, jetzt sind die Eltern ja geschieden, jetzt hat der Opa ja auch Demenz und jetzt ist der Onkel ja in der Klinik, ich werde schneller, das Knie blockiert, ich fühl mich falsch und allein.
Aber jetzt nicht mehr. Jetzt kann ich laufen, jetzt laufe ich zum ersten Mal fünf Kilometer und hänge noch einen dran und gestern hätte mein Vater Geburtstag gehabt. Ich schrieb ein Gedicht, das erste seit langem, und da fiel es mir auf. Ich schrieb […] zumindest saufen / tu ich nicht / hab einen Blick / für das Schöne / für die Krähe mit der Nuss / und hab noch Lust und gerade heute / gerade jetzt fällt mir auf / hätte mein Vater Geburtstag / also dann Prost / alles Gute, und ich gespannt, was mich erwartet, auf jeder Runde, vielleicht ein Drachen, das würde reichen. Das wäre Material für den Tag, würde mich ablenken von vielem und noch einigem sonst. Vielleicht sagt jemand hallo. Ein Mann mit Hund. Guten Morgen, eine Frau am Rollator. Jemand, von dem ich es nicht erwarte, denn oft sieht man den Menschen an, ob sie reden wollen oder nicht.
Mein Opa wollte nicht reden. Er war schüchtern auf seine Art, sprach mit Augen und Worten zu den Möbeln statt zu den Menschen. Besonders am Ende, als er die Worte nicht mehr fand, aber auch schon davor.
Und auch ich will oft nicht reden. Ich habe nichts zu erzählen, sage ich mir dann, und gehe dem Leben mit Absicht aus dem Weg. Komme außer Form. Die Zunge liegt da wie erwürgt.
Und ich sollte nie wieder schreiben, denn wen interessiert dieses Kreisen um mich selbst in der hundertundsiebten Variation, wen das Kaleidoskop meiner vertrackten, zerdachten Innenwelt.
Mich interessiert die Spinne mit den sieben Beinen und ob sie von dem fehlenden Bein weiß. Mich interessiert die Nachbarin drei Häuser weiter, sie ist alt, sie läuft im rechten Winkel, der Oberkörper steht vom Rumpf waagrecht ab und deshalb habe ich ihr Gesicht noch nie gesehen, sie schaut auf den Boden und wenn man sie umstößt liegt sie da wie ein L. Dann lege ich mich daneben und schaue ihr endlich ins Gesicht, ich I. Dann sind wir LI. Und wir warten, was noch kommt.
Bei meinem Opa kam nichts mehr nach dem Wasser in der Lunge und bei seinem Sohn nach der Depression und den Tabletten und dem Rest. Bei meinem Vater nach den Metastasen in fast sämtlichen Organen und schon deshalb laufe ich weg vor den Fragen, auf die ich die Antwort schon weiß.
Doch ich möchte nicht nur laufen, sondern auch schreiben, aber was soll man schreiben ohne Gedanken und deshalb denke ich noch mal zurück an den Bauernhof auf dem M.-Berg und an Jonas, an das Turnier auf der Weide, an die Erwachsenen und die Kinder und an meinen Vater, der in vollem Tempo rannte, auf der furchigen Wiese, direkt auf das Tor zu mit dem Ball und wie alle jubelten und kreischten und schauten auf den Stier, breites Kreuz, kaputtes Knie und wie er trotzdem so rannte, als hänge etwas Großes davon ab, etwas, das er selbst nicht verstand, aber spürte und er wusste, jetzt, genau jetzt, muss ich rennen, denn guck doch, wie sie schauen und wie sie kreischen und wie sie jubeln und irgendetwas tief in mir treibt mich an und gibt mir Kraft, vielleicht mein Sohn und meine Frau, mit der ich streite, ganz bestimmt, in der Zukunft, viel zu heftig, und worüber, aber jetzt, jetzt muss ich rennen denn zuhause ist wieder Arbeit in der Fabrik und mein Knie ist jetzt egal und dass ich tot bin in fünfzehn Jahren, davon weiß ich ja jetzt nichts und da im Tor steht ein Kind, gerade mal zehn und alles vor sich und hier renne ich und dort laufe ich, Jahre später, als mein Vater schon lange tot ist und sehe vor mir, wie er rennt, mit breitem Kreuz und der Glatze und dem Knie und ich weiß nicht, ob er traf oder nicht, aber ich weiß noch, wie er lief, immer weiter und wie er sprang über den Zaun von der Weide, auf dem wahrscheinlich noch Strom war, für die Kühe, und er sprang und in meinen Gedanken springt er hoch wie ein Baum und schlägt dann Saltos und Schrauben und rollt sich ab auf dem braungrünen Gras und läuft dann weiter, immer weiter, dass man die Tränen nicht sieht.
Wie man meine nicht sah, als er starb. Weil es keine gab. Weil ich nicht glaubte, dass er damals rannte, weil da eine göttliche Kraft war, mein Vater war kein Heiliger, er rannte weg vor Problemen und ich bin der Sohn meines Vaters und bin ich selbst, woran ich denke, während ich laufe, wovon ich schreibe, immer im Kreis, Schritt für Schritt, Satz für Satz, so lange ich kann.

Aber gut, umso wichtiger, seine Sachen zu teilen und so zu erfahren, wie Wahrnehmungen sich da unterscheiden können.
