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Leben als Tod
Es war ein schwüler Sommertag. Der Himmel war klar und die Flüsse und Seen luden zum Baden ein. Doch niemand war auf der Strasse. Weder lachende Kinder noch Spaziergänger, die den Tag genießen wollten.
Im ganzen Land herrschte Krieg. Viele Dorfbewohner waren schon vor Wochen geflohen, doch ebenso viele glaubten, dass ihr Dorf unwichtig für den Feind sei und man sie in Ruhe ließe.
Aber die vorrückenden Truppen machten auch vor diesem Dorf keinen Halt. Man konnte den Feind hören, noch bevor er in Sichtweite kam. Die Dörfler wollten sich ergeben, da sie wussten wie unterlegen sie waren. Doch der Feind ließ nie jemanden am Leben.
Das Abschlachten dauerte bis tief in die Abendstunden. Sie vergewaltigten und brandschatzten. Als auch das letzte Haus lichterloh brannte, zogen sie weiter.
Eine Frau kroch aus den Überresten eines Hauses, eine Blutspur hinter sich herziehend. Langsam kroch sie aus den Trümmern, bis sie erschöpft auf der Straße liegen blieb und sich nicht mehr rührte. Doch sie war nicht tot. Ihre Verletzungen waren schwer, aber wenn rechtzeitig Hilfe kommen würde, könnte sie überleben.
Doch sie wollte nicht mehr leben. Sie wollte dort liegen und sterben.
Als sie so da lag und auf den Tod wartete, kam er tatsächlich zu ihr.
„Ich grüße dich, Tod“, sagte sie leise, ohne Angst zu zeigen, „ich habe schon auf dich gewartet.“
Als er dies vernahm, fragte der Tod: „Warum fürchtest du dich nicht? Den Menschen, denen ich sonst erscheine, zittern vor Angst und bitten um Gnade. Doch du scheinst dich fast zu freuen.“
„Ja, das tue ich wahrlich“, antwortete sie. „Mein Leben hat keinen Sinn mehr. Ich verlor meinen Mann und mein Kind. Sie zwangen mich, mitahnzusehen wie mein Kind in seinem eigenen Blut ertrank. Mein Mann zwangen sie zuzusehen, wie sie mich schändeten und dann im Glauben ich wäre tot liegen ließen. Nun habe ich nichts mehr. Ich will nicht mehr weiterleben.“
„Du solltest glücklich sein“, antwortete der Tod. „Ich hatte nie das Glück, eine Familie besitzen zu dürfen. Was gäbe ich darum, ein Kind aufwachsen zu sehen. Mein Kind aufwachsen zu sehen. Ich habe keine Gefühle. Selbst Trauer ist mir fremd.“
„Du Glücklicher. Du kannst nicht so leiden wie ich. Und es gibt nichts, was man dir nehmen könnte. Dein Leben wird nie von Trauer erfüllt sein wie meins. Was würde ich darum geben an deiner Stelle zu sein.“
„Das nennst du Leben? Ich bin der Tod. Ich habe kein Leben. Nicht einmal sterben kann ich. Denn ich bin der Tod. Wie kann der Tod sterben? Diese Existenz würdest du nicht wollen.“
„Wenn du wüsstest wie es ist zu leiden, würdest du es anders sehen“, beharrte die Frau auf ihrer Meinung. Sie würge einen Klumpen Blut hervor.
„Warum willst du ein Mensch sein? Du würdest sterben. Jeder Mensch stirbt.“
„Es ist mit dem Tod nicht zu Ende. Betrachte den Tod wie eine Geburt. Ein neues Leben erwartet einen danach. Und dieses will ich auch erleben.“
„Ich bin nicht gläubig.“
„Nun, wenn du dir so sehr wünschst an meiner Stelle zu sein, dann tauschen wir doch.“
„Das ist möglich? Mit dem Tod tauschen? Ewiges Leben und keine Gefühle? Dan lass es uns tun“
Und sie taten es. Der Tod trat an die Stelle der Sterbenden und sie an seine. Er spürte alle Gefühle, die sie bis gerade empfand. Auch die Schmerzen und das sich nähernde Ende. All diese Eindrücke sog er in sich auf. Und er genoss es.
„Es ist unglaublich. Dieses … Gefühl. Nun werde ich erleben, wie es ist ein Mensch zu sein.“
„Du wirst nur nichts davon haben. Du stirbst“, antwortete die Frau die nun der Tod war.
Doch sie irrte. Eine Gruppe von Helfern, die nach Überlebenden suchten, war bereits auf dem Weg.
„Bald werden deine Gefühle erkalten, bis du nichts mehr empfindest“, erklärte er ihr, „Vielleicht sehen wir uns wieder. Wenn ein Sterbender dir denselben Handel vorschlägt, wie du mir. Du wirst bald merken, dass es ein Fehler war.“
Sie spürte weder Trauer noch Angst. Nur ein schwaches Gefühl der Erwartung, was noch kommen würde.
Ungläubig starte sie ihn an. Dann hörten sie die Menschen nahen.
„Du musst nun gehen. Ich hoffe du wirst in deiner neuen Existenz glücklich. Lebe wohl“
Ohne ein weiters Wort des Abschiedes, trennten sich ihre Wege.
Der ehemalige Tod erlebte noch Jahre des Glücks, aber auch Zeiten der Trauer. Als er, im hohen Alter starb, hatte er 3 Kinder und 5 Enkel.
Aber bereits vor dieser Zeit, nach wenigen Jahren, in der ihre Gefühle fast vollständig verschwunden waren begriff sie, dass der Tod Recht hatte. Schon nach 18 Jahren erinnerte sie ein Sterbender an ihre eigene Situation, als sie Sterben wollte.
„Du fürchtest dich nicht vor dem Tod?“, begann sie das Gespräch ähnlich, wie es der Tod damals tat.
„Nein“, erwiderte er tatsächlich ohne Furcht, „ Meine Zeit ist gekommen. Ich habe in meinem Leben viele Fehler gemacht und kann damit nicht mehr leben. Nur der Tod kann mir noch Frieden bringen.“
Er röchelte. Ein Messer durchschnitt seine Lunge und das Atmen viel ihm schwer. Vermutlich hatte er es sich selbst in die Brust gerammt.
„Waren deine Taten so schrecklich, dass du den Tot verdienst?“
„Ich habe viele Fehler gemacht. Im Krieg tötete ich Frauen und Kinder. Dafür wurde ich als Held gefeiert. Jetzt nach dem Krieg werde ich dafür verurteilt. Meine Familie und meine Freunde haben mich verlassen. Ich habe nichts mehr. Mein Leben hat keinen Sinn.“
Diese Worte brachten in ihr hoch, was sie für ausgelöscht hielt. Trauer und Mitgefühl. Ihre Gefühle waren noch nicht vollkommen ausgelöscht, dafür würde es noch viele Jahrhunderte dauern.
So an sich selbst erinnert, spürte sie auf einmal den Wunsch ihren Handel rückgängig machen zu können. Die Trauer und das Mitgefühl erinnerte sie an alles, was früher so wichtig für sie war. Gerechtigkeit, Liebe und Mitgefühl.
Während sie noch in Gedanken war, redete der Mann sich seinen Kummer von der Seele.
Sie musste sich konzentrieren um wieder zuzuhören.
„… meine Familie. Ich beneide dich, Tod. Dein Leben ist viel einfacher wie meins.“
Ihre Gedanken wichen wieder ab. Sollte dies ihre Chance sein, wieder ein Mensch zu werden?
Ihr Leben hatte sie gelebt, aber ein letztes Mal wollte sie das Gefühl erleben, ein Mensch zu sein.
Und sie erinnerte sich an die Worte des ehemaligen Todes. `Betrachte den Tod wie eine Geburt. Ein neues Leben erwartet einen danach.´
Diese Erinnerung besiegelte ihre Entscheidung.
„Wenn du glaubt das Leben als Tod wäre einfacher dann lass uns tauschen.“
„Wir können einfach tauschen? Warum willst du dieses Leben aufgeben?“
„Ich ertrage es nicht ohne Gefühle. Die Existenz als Tod ist ein Fluch, kein Segen“
Sie erkannte in seinen Augen dass er ihr nicht glaubte, wie auch sie dem Tod nicht glaubte.
"Bald werden deine Gefühle erkalten, bis du nichts mehr empfindest. So wie ich wirst auch du bald merken, dass dies keine gute Entscheidung war.“
Er blieb stur.
„Nun gut. Wie du wüschst.“
Und auch sie tauschen die Rollen.
Sie konnte die Schmerzen spüren, die die Verletzung mit sich brachte und eine Welle von Gefühlen stürmte auf sie ein. Am klarsten fühlte sie trotz des Sterbens, in dem sie nun wieder lag, Freude aus dem Gefühlschaos heraus.
Sie schaute sich den nun zum Tod gewordenen Mann an und wiederholte die Worte die sich in ihr Gehirn gebrannt hatten.
„Vielleicht sehen wir uns wieder. Wenn ein Sterbender dir denselben Handel vorschlägt, wie du mir. Du wirst bald merken, dass es ein Fehler war.“
Wie auch sie damals glaubte er nicht an ihre Worte und nun spürte sie ein neues Gefühl. Schuldbewusstsein. Sie wusste was sie, ihm angetan hat. Ihre Sinne schwanden
Das letzte, was sie empfand war Mitleid für den Tod, der dieses schreckliche Schicksal ertragen musste, den Glauben, dass dies ein immer weiterführender Teufelskreis war und die leise Hoffung das man ihr ihre Verzweiflungstat vergeben würde.