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Leben in Angst
„Ausländer raus! Ausländer raus!“, hallte das Gebrüll durch die Straßen und drang schmerzhaft in ihren Kopf.
Sie spürte Tränen in den Augen, als sie eilig in eine Nebenstraße wankte, ehe sie noch ins Visier der brüllenden Masse kam.
Das letzte Stück bis nach Hause rannte sie, wobei sie sich immer wieder umsah, ob ihr jemand folgte. Es war niemand hinter hier, also versuchte sie das altbekannte Gefühl der Panik, das sie so oft in den letzten Jahren überkam, zu verdrängen.
Endlich angekommen, schloss sie mit zitternden Fingern die Haustür auf und stürmte durch das menschenleere Treppenhaus in den 5. Stock. Noch ein letztes Mal schweratmend mit dem Schlüssel kämpfen, dann hatte sie es endlich geschafft.
Sie war sicher in ihrem Apartment verbarrikadiert.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Während sie sich schluchzend auf ihr Bett gleiten ließ, brach all die Angst und Verzweiflung aus ihr heraus.
Hass.
Überall war Hass.
Ihr ganzes Leben bestand aus Hass!
Hass aus Habgier.
Hass aus Macht.
Hass auf unschuldige Menschen.
Hass auf sie selbst.
Warum?
Sie sollte wohl wütend darüber sein. Doch sie empfand keine Wut. Sie fühlte sich nur wertlos.
Und schuldig.
Aus irgendeinem Grund durfte sie nicht glücklich sein.
Warum?
War es ihre Schuld, dass man ihre Heimat zerstört hatte?
War es ihre Schuld, dass sie hatte fliehen müssen, um leben zu können?
War es ihre Schuld, dass – selbst auf der Flucht – noch so viele Menschen hatten sterben müssen? Wie auch ihre Familie.
War es ihre Schuld, dass sie die Hilfe von Schleusern hatte annehmen müssen, um dem Krieg zu entkommen?
War es ihre Schuld, dass sie zum Dank für die Hilfe doch noch so viel Gewalt hatte einstecken müssen? Wo sie doch vor genau dieser Gewalt geflohen war!
War es ihre Schuld, dass sie trotz allem überlebt hatte, während so viele andere vor ihren Augen im Mittelmeer ertrunken waren?
War es ihre Schuld, dass die Menschen in diesem wunderschönen, reichen und vor allem friedlichen Land Angst vor ihr und den anderen Flüchtlingen haben, obwohl die einfach nur in Frieden leben wollen?
War es ihre Schuld, dass diese Menschen nicht diesen Unsinn darin verstehen, auf einen Flüchtling neidisch zu sein?
Sie hatte so viele schreckliche Dinge in den letzten Jahren sehen müssen. Diese Bilder würde sie nie wieder aus ihrem Kopf bekommen. Damit musste sie leben.
Das war ihre Strafe.
Für…
Ja, wofür? Dafür, dass sie nicht noch mehr schreckliche Bilder im Kopf haben wollte?
Dafür sollte sie ein Leben voller Angst und Anfeindungen leben?
Was machte sie zu einem so schlechten Menschen, dass sie keine Ruhe und keinen Frieden verdient hatte?
Sie wusste es nicht.
Niemand wusste es.
Sie musste wohl damit leben.