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Leben
Leben
Die kleine Sandra ist acht Jahre alt. Sie geht in die dritte Klasse. Spätestes in vier Jahren wird sie nicht mehr hier sein. Die Ärzte haben bei ihr eine sehr seltene Krankheit festgestellt. Sie wird von Tag zu Tag, langsam und allmählich ihr Gedächtnis verlieren und dann diese Welt verlassen, bevor sie irgendetwas festhalten konnte. Das wird also ihr Schicksal sein.
Sandra liebt ihr Leben, sie liebt diese Welt. Aber manchmal träumt sie, die Tür in einer seit Jahren vertrauten Gasse nicht mehr finden zu können. Sie weiß nicht, was das alles zu bedeuten hat. Aber sie weiß, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt.
Sie lernt malen und auch Klavier spielen. Bald möchte sie Tanzunterricht bekommen. Dann will sie auch ein wunderschönes, fremdes Land kennen lernen. Dort leben ganz andere Menschen, von denen sie nur so wenig weiß. Aber das fasziniert sie, sie muss ständig an ein anderes Leben denken.
In Folge ihrer Krankheit, bei welcher es zu einer Störung des Nervensystems kommt, wird der Tagesrhythmus nicht mehr richtig wahrgenommen. Daher kann sie oft bis in die späte Nacht nicht einschlafen. Aber wenn sie doch einmal irgendwann einschläft und am nächsten Tag wieder aufwacht, kann sie sich an fast nichts mehr erinnern. Es ist nicht so, dass die auf einmal vergisst, wer und wo sie ist. Aber viele Einzelheiten des Ganzen sind wie aus dem Gedächtnis gelöscht. Das betrifft auch manche Augenblicke, die sie vorgenommen hatte, für immer in ihrer Erinnerung aufzubewahren. Sie sucht und sucht mit ihrem wirren, unscharfen inneren Auge. Denn sie weiß, dass da doch etwas da gewesen sein musste. Aber die Räume waren leer und trotz der übrig gebliebenen Spuren konnte sie keine ersehnte Gewissheit mehr finden.
An einem sonnigen Tag fand sie zwischen den Seiten eines Buches zufälligerweise ein Foto. Es war ein fremdes, kleines Mädchen mit einen sehr ernstem Gesicht. In ihren Augen sah man die Leere, oder war das die tiefe Verzweifelung? Seitdem bewahrte sie dieses Foto sorgfältig in einem kleinen Kasten auf. Aber sie wusste noch nicht, was es heißt, nichts mehr behalten zu können.
Ein halbes Jahr später fand sie in einem Papierkasten ein Foto von einem kleinen Mädchen. Sie wunderte sich darüber, wie es denn hierher kam. Dann versuchte sie sich zu erinnern, aber es ging nicht. Sie konnte den gleichen Weg nicht mehr zurückfinden.
Eines Tages, als ich neu in diese Stadt kam, sah ich auf einem Friedhof ein Foto, das auf einem kleinen Grabstein eingemauert war. Es war ein Foto ohne das geringste Lächeln. Aus dem noch zarten Gesicht sprach eine schmerzhaft stumpfe Gleichgültigkeit, die uns jeglichen Zugang von Außen verwehrte. Das konnte doch nicht das Gesicht eines Kindes sein, sagte ich mir. Das Gesicht eines achtjährigen Kindes, das in seinem kurzen Leben keinen Menschen liebte und vom niemanden geliebt worden war.