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Lebensgefahr
Lebensgefahr
Nun bin ich schon den elften Tag in Spanien unterwegs. Nein, es war keine Flucht, die mich dahin getrieben hat, obwohl es etwas mit Weggehen zu tun hat.
Nach dem Tod meines Vaters und dem langsamen Verlöschen meiner letzten Beziehung ist es Zeit meine Gedanken neu zu sortieren.
Auf und ab führt mich der Weg, immer wieder der Wechsel von bäuerlichen Gegenden in städtisches Gebiet.
Vor mir liegt nun ein riesiges Kieswerk, mit einer großen Baustelle.
Ich gehe langsam an der Baustelle vorbei.
Da fällt mir das Schild auf: Achtung Lebensgefahr.
Natürlich nicht auf deutsch und auch nicht Lebensgefahr, nein was da steht, ist übersetzt: Gefahr des Todes!
Das ist mir in romanischen Ländern schon öfter aufgefallen. Da steht nicht Lebensgefahr.
Und so sinne ich während der nächsten 20 km darüber nach, was uns dazu bringt, die Gefahr das Leben zu verlieren als Lebensgefahr zu betiteln, wobei der Wortsinn ja ganz ein anderer ist.
Erschöpft vom Wandern und Sinnieren komme ich an meiner Pension an. Müde lasse ich mich aufs Bett sinken. Nicht mal zum Abendessen mag ich mehr gehen, ich fühle mich seltsam ausgelaugt.
In der Nacht träume ich von grauen Wölfen, die reglos auf einer Waldlichtung stehen. Ein Schlitten zieht langsam vorüber. Im Schlitten sitzt, blicklos vor sich hinstarrend ein alter Mann. Wie ein Zoom im Film kommt das Gesicht des Mannes mir immer näher. Das bin ja ich. Auch die Wolfsgesichter kommen auf mich zu: Wieder ich. Jedes einzelne davon.
Vom Türeschlagen des Nachbarn wache ich auf. Ich gehe zur Toilette. In meinem Kopf hämmert es. Lebensgefahr – Todesgefahr. Lebensgefahr – Todesgefahr.
Am Morgen sitze ich beim Frühstück. Die Brötchen rieche ich nicht, ebenso wenig den Kaffee. Es scheint, als hätte nur mehr ein Gefühl und ein Gedanke in mir Platz: Lebensgefahr – Todesgefahr. Lebensgefahr – Todesgefahr.
Ich breche überstürzt auf.
Weiter wandere ich. Kein Blick für bizarre Felsformationen, für Wasserfälle, für moosige Steine und Bäume. Immer nur der Gedanke: Lebensgefahr – Todesgefahr. Lebensgefahr – Todesgefahr.
Ein Sonnenstrahl bricht sich Bahn und kitzelt mich an der Nase. Es ist, als möchte er mir zurufen: Achtung Todesgefahr, Du läufst Gefahr, dass Dein Denken und Fühlen abstirbt! Dass Du in der zwar gnädigen, aber doch eben matten Finsternis der Dumpfheit versinkst. Begib Dich doch in Lebensgefahr, in die Gefahr zu leben, zum Farbigsein, zum Anderssein, zum Gehirnjogging, zum Brainwalking – und wie die ganzen anderen neudeutschen Ausdrücke dafür heissen mögen.
Lerne Fühlen, Schmecken, Riechen, geh auch mal Zickzack oder rückwärts! Back salzige Plätzchen, zuckrige Käsestangen! Riech das würzige Harz der Bäume, steck Deinen Fuß ins kalte Flusswasser! Mal Bilder, auch wenn Du glaubst, nicht malen zu können! Schrei laut auf der Wiese! Fang an, hier im Wald!
Und ich brülle, was das Zeug hält, brülle mir die düsteren Gedanken aus dem Leib. Ich stampfe mir die Gedanken aus dem Fuß. Und freue mich auf die Lebensgefahr!