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Lebenslast
Er hasste sie alle - diese verdammten Köter, die alles voll schissen und noch mehr den stupiden Pöbel, der die armen Geschöpfe ausführte, um sich an deren blinder Treue und Hilflosigkeit zu erfreuen. In ihren eigenen kleinen Wohnungen hielten die Menschen ihre Hunde, gegen die Natur und gegen jegliche Vernunft. Wie er sie alle verachtete.
"Vernünftige Menschen lassen ihren Hund hier nicht sch..." stand in scherzhafter Art und Weise auf dem Warnschild neben einem alten Gedenkstein für verstorbene Kriegshelden. Und ironischer Weise lagen gerade hier unzählige Haufen auf und neben dem Gehweg, der daran vorbeiführte. "Wieviel Respekt doch die Menschen haben," dachte der hagere Mann, "und Vernunft."
Er hastete energischen Schrittes weiter den Fußgängerweg entlang. Sein Blick war zu Boden gerichtet, seine Miene verbittert. Es war ein harter Tag gewesen. Obwohl er am Nachmittag frei nehmen wollte, hatte er unterm Strich trotzdem volle neun Stunden Angebote getippt, Anfragen zurückgewiesen und mit Kunden telefoniert. Er hatte die ganze Zeit geredet und Geschäftsbriefe geschrieben - endlos kommuniziert, ohne etwas wichtiges erfahren oder etwas bedeutendes mitgeteilt zu haben.
Doch wenigstens für heute war es genug mit oberflächlichem Gerede. Nichts und niemanden wollte er mehr sehen. Sein einziger Wunsch für den Moment war es, nicht in Kacke zu treten. Ein Lastwagen ratterte lautstark an ihm vorbei und blies eine stickige Wolke zu ihm hinüber. Wie er es hasste. Den Lärm der Stadt und den Gestank vorbeifahrender Autos. Alles war ihm zu wider. Alles mistiger Menschenabfall. Die giftigen Dämpfe und der Müll einer Rasse, die nicht einmal mehr wusste, wo sie einst her gekommen war und wohin sie eigentlich wollte.
Er dachte an die Mittagspause zurück, in der er sich wie immer auf den Weg in den Park gemacht hatte, um dort wenigstens eine ruhige halbe Stunde auf seiner Lieblingsbank zu sitzen und ein wenig Grün zu sehen. Ohne diese Pause fernab des täglichen Geschäfts würde er seine Arbeit gar nicht stämmen können. Heute war ihm das jedoch nicht vergönnt, denn sein Platz war besetzt. Ein Junge saß da und spielte gelangweilt auf seinem Handy herum. Es war ein schöner Nachmittag gewesen. Der Mann nahm schließlich einfach auf einer Bank gegenüber Platz und beobachtete den Jungen ein Weilchen. Dieser schenkte ihm keinerlei Beachtung und starrte weiterhin ausdruckslos auf das Display seines Handies. Die Sonne zauberte lustige Schattenspiele auf die Jacke des Jugendlichen. Schmetterlinge flogen an dem jungen Kerl vorbei, doch sah dieser sie nicht, weil er zu tief in seiner kleinen, digitalen Welt versunken war. Schließlich legte er das Gerät doch kurz zur Seite um einen halb aufgegessenen Kebap aus seinem Rucksack hervorzukramen. Er biss hinein und kaute gelangweilt darauf herum. Dann schluckte er den Bissen hinunter, packte den Rest des Döners wieder in die Alufolie, warf das ganze Stück in einen nahegelegenen Busch und lief gleichgültig davon. Der Mann rief ihm hinterher, was der Halbstarke sich denn einbilde. "Nimm deinen Müll mit, du kleines Arschoch." Doch tat der Junge, als würde er ihn nicht hören und schlenderte einfach weiter. Es war eine Szene, wie man sie täglich erlebte, doch widerte den Mann die Respektlosigkeit vieler Menschen jedes Mal aufs Neue an. Er sehnte sich nach einer Welt, in der sich jeder selbst versorgte und Parasiten, wie dieser Junge ausgemerzt wurden, weil jeder bekam, was er verdiente. Und dieser Junge verdiente nichts.
Der Himmel zog sich zu. Bald würde es regnen. Mit dem Wetter verschlechterte sich auch seine Stimmung zunehmend, wenngleich diese nicht mehr viel weiter sinken konnte. Er erinnerte sich noch einmal zornig an den abgestumpften Teenager aus dem Park zurück.
„Die Bürger von Städten, wie dieser...“, dachte er mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. „Keine Woche könnten sie überleben, wenn es die weiche, weiße Titte des Systems nicht gäbe, die sie nährt und die eisernen Ketten der Justiz, die verhindern, dass sie sich gegenseitig zerfleischen. Sie saugen und saugen, gierig und immer hungrig sind sie. Und wenn sie so fett werden, dass sie sich nicht mehr bewegen können, beschaffen sie sich die schnellsten Autos zum Fahren und die dicksten Matratzen, um warm und weich gebettet weiter saugen zu können. Das Euter ist stets prall gefüllt. Doch dass die Drüsen dieser wohlgefüllten Zitze ihre Wurzeln tief in die Adern dieser Welt gebohrt haben und auch diese Adern irgendwann trocken liegen werden, daran denken sie nicht. Naives, nimmersattes Menschenvolk. Sie denken nicht weiter, als bis zum Besuch des nächsten Burgerstands, der nächsten Fete oder der nächsten hirnzermürbenden Fernsehsendung.“
Er bog um die Ecke. Fast wäre er in einen Kackhaufen getreten. Er fluchte leise. Eine Schande war es. Nachfahren von einst stolzen Wölfen, auf höchstens 40 Zentimeter heruntergezüchtet und an Leinen zum Scheißen ausgeführt. Was für Rechte er sich heraus nahm, der Mensch. Wie er das Leben auf diesem Planeten versklavte und sich selbst. Der Mann hasste sie alle, sich selbst einbegriffen, weil er einer von ihnen war – gefangen zwar, doch stets wohlgenährt. Sein Herz würde lange schlagen.
Jeden Tag aufs Neue würde er erwachen, am Leben gehalten von dem großen, immervollen Tropf, an dem er und seine gesamte Spezies hing, wie an unsichtbaren Versorgungsleitungen.
Jeden Tag aufs Neue würde er erwachen und das blasse, kalte Licht der Zivilisation zu sich herein scheinen sehen.
Jeden Tag aufs Neue würde er erwachen und eine pulsierende Zelle des Tumors dieser Erde sein.
Er würde funktionieren, mit ihm wachsen und es stärken, das Geschwulst aus Menschenvolk - auf dass es weiter wuchern konnte im saftigen Fleisch dieses Planeten.
Es begann, zu regnen. Dicke, schwere Tropfen platschten auf seinen Mantel und sprenkelten ihn mit dunklen Flecken. Doch konnten sie den Schmutz nicht von ihm abwaschen, mit dem er sich bekleckert hatte im Laufe seines Lebens - Den Schmutz, der über die Jahre zu einer dicken Kruste geworden war, die seine Seele und sein gesamtes Dasein einhüllte, wie zähes, undurchdringbares Leder.
Neun Stunden dieses Tages hatte er sich einer Sache hingegeben, stets mit dieser stechenden Frage in seinem Kopf, warum er wem eigentlich diente und welchen Zweck sein Tun hatte. Dieses riesige Fragezeichen über allem warf einen dunklen Schatten auf sein Leben, der alles in ein ödes Grau tauchte, Schönes mittelmäßig und Normales hässlich erscheinen ließ.
Es machte ihn wahnsinnig, dass es regnete. Seine Nerven lagen blank und sein Stolz und Selbstwertgefühl am Boden. Schon lange hatte er aufgehört zu fühlen, um keine zu großen Schmerzen erleiden zu müssen. Um sein Leben zu erhalten, musste er gegen seine Natur handeln. Wie schnell würde schnipp schnapp die Leitung durchtrennt, an der er hing, wenn er es nicht tat. Es gab keine Alternative, als eine kleine Biene im großen Schwarm zu sein, eine Zelle des gigantischen Wesens der Menschheit, auch wenn man sich diesem Wesen in keinster Weise verbunden fühlte – auch wenn man es hasste – wenn man sich jede Minute seines Lebens selbst belügen musste. Es blieb keine Alternative, wenn man existieren wollte. Wie schnell war eine absterbende Zelle ersetzt. Auf den letzten hundert Metern beschleunigte er seinen Schritt, um nicht vollends durchnässt in seiner Wohnung anzukommen. Er musste bald ruhen, um am nächsten Morgen wieder funktionieren zu können.