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Lebensplanung
Ich bin jetzt alt. Ein Greis, schwerfällig, wie eingerostet. Schon lange habe ich
die weinberankten Klostermauern nicht mehr verlassen. Warum auch? Um mich von dem Treiben der Welt da draußen verärgern zu lassen, um Unbequemlichkeiten zu ertragen? Konfrontiert zu werden mit all der Habgier, dem Betrug, der Bosheit vieler Menschen? „Denn sie sind allzumal Sünder ...“
Heute Abend muss ich mich entscheiden: Welche Bitte kann dem jungen Pater Centrego gewährt werden, wenn er dafür auf einen unbestimmten Tag seines Lebens verzichtet? Oder hat sein Begehren den Preis von mehreren Lebenstagen? Seit es die neue Möglichkeit der Lebensplanung gibt, hat sich noch nie ein Bruder aus unseren Reihen mit der Bitte einer Wunscherfüllung an die Klosterleitung gewandt.
Viele der verehrten Padres hier im Kloster halten das Ansinnen von Centrego für Frevel. Doch wie können diese Menschen so urteilen? Handeln wir nicht immer derart - entscheiden wir nicht ständig, für welche Art von Tätigkeit wir einen Tag unserer kostbaren Lebenszeit verwenden? Dies geschieht außerdem oft gedankenlos, nicht verantwortungsvoll, als ob wir ewig existieren würden. Und was ist mit denjenigen, die den Tod vorzeitig suchen, ihn als Erlösung aus ihrer vergeblichen Sinnsuche begehren? Eine unbekannt große Zeitspanne ihres Lebens wollen diese Menschen aufgeben, ohne die Konsequenzen vollständig zu kennen. Noch nie konnte im Tod jemand genießen, was er zu erringen trachtete! Woher kommt diese Selbstaufgabe? Wer hat das Recht, eifrig Suchenden jegliches Ziel über den schwarzen, ewigen Feind hinaus zu nehmen, ohne Alternativen zu bieten? Methodische Skepsis, diese große Kraft des Geistes, führt oft zu Hoffnungslosigkeit. Sollte man deshalb nicht über die aus Forscherdrang geborenen Zweifel schweigen? Aber Wahrheit ist ein hohes Gut. Auch unbequeme Erkenntnisse müssen ausgesprochen werden. Wer kennt schon die Wahrheit?
Während ich einige neue Dateien öffne, Informationen validiere, kann ich nebenbei meine geliebten Kakteen gießen. Der Echinocereus coccineus bekommt am äußersten Rand des Zellenfensters das meiste Licht und belohnt mich mit einer reichen, rosigen Blütenpracht.
Begrenztheit von Lebenszeit - gut, es gibt natürlich die Liebe. Man hat mich informiert, sie kann sogar über den Tod hinausgehen. Wirklich? Wie soll ich das überprüfen, für mich gilt ‚res verae solae res verae sunt’. Dann existiert noch dieser immer wiederkehrende Funken beharrlicher Hoffnung, das altruistische Verhalten, trotz aller Schlechtigkeit der Menschen. Ist es nicht ein erstrebenswertes Gut, bedeutender als vordergründiger Erfolg?
Meine Gedanken verlieren ihr Ziel in verwirrenden Rinnsalen meiner begrenzten Erkenntnis.
Bei dem vorliegenden Problem habe ich mich jedoch entschieden: Der Weg zu einem Ziel muss beschritten werden, Abkürzungen sind ein Verlust. Kein Wunsch, den sich Pater Centrego für einen Tag seines Lebens erfüllen will, ist einen Tag s e i n e s Lebens wert. „Denn alles ist eitel und Haschen nach Wind ...“ Ich kann das auch für diesen Menschen ohne Sentimentalität beurteilen.
Schließlich bin ich strukturell ein vollkommen rationaler Roboter.