Lebenswert
„Hallo, lang nicht mehr gesehen.“ Ich spürte eine Hand auf meinem Rücken und drehte mich um. Ben stand dort und lächelte mich an. Ich lächelte schwach zurück und bot ihm mit einer Handbewegung den Stuhl neben mir an.
„Danke.“
Ich beobachtete ihn als er sich setzte und und schaute ihn immer noch an als er längst saß. Er hatte sich verändert seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten. Erwachsener und erfahrener. Auch er sah mich an. Ich konnte erkennen, dass ihm genau die selben Gedanken durch den Kopf gingen.
„Ja, es ist wirklich schon lange her, dass wir uns gesehen haben“ meinte ich.
„Damals waren die Umstände noch etwas fröhlicher...“ Ich nickte abwesend, ließ seine Aussage unbeantwortet im verbalen Raum zwischen uns stehen.
Ich schaute weg. Mann, er sieht ihr so verdammt ähnlich. In dem großen Raum in dem wir saßen, waren viele Menschen. Ja, sie hatte viele Freunde und Bekannte gehabt. Alle waren in dunklen Farben gekleidet. Es herrschte eine merkwürdige Atmosphäre, ich konnte es kaum aushalten. Die Leute standen oder saßen in kleinen Gruppen zusammen und redeten leise. Sie redeten über sie. Was sie für ein Mensch gewesen war. Zählten ihre positiven Eigenschaften auf. Negative gibt es sowieso nicht, dachte ich zynisch.
Es war, als wäre ein grauer Schleier über den ganzen Raum gehängt, der langsam nach unten sank. Alles schien verlangsamt zu sein. Es war nicht leise. Es war auch nicht laut. Es war eine furchtbare Geräuschkulisse. Dieses Geflüster der Leute! Nicht zum Aushalten!
Alle wollten sich von ihr verabschieden. Ich aber wollte doch nur mit ihr alleine sein. Mit ihr reden können so wie immer – so wie früher. Ihr habt doch alle keine Ahnung! Ihr kennt sie überhaupt nicht! Nur ich habe das Recht mich in Ruhe von ihr zu verabschieden!
Es war die Beerdigung meiner besten Freundin.
„Ich muss hier raus!“ Ich sprang auf und lief Richtung Ausgang. Ich musste jetzt ganz einfach alleine sein. Endlich hier raus! Die kühle Novemberluft tat gut. Ich holte tief Luft und schon liefen die Tränen wieder über mein Gesicht. Ich vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Die Tränen hörten in den nächsten fünf Minuten sowieso nicht mehr auf. Wieder legte jemand seine Hand auf meinen Rücken. Und wieder war es Ben. Ich drehte mich um und ließ mich heulend in seine geöffneten Arme fallen. Er hielt mich fest. Keinesfalls unsicher. Weil er mich verstand. Weil er es verstand. Seine Cousine, meine beste Freundin, war bei einem Autounfall ums Leben gekommen.
Ich schluchzte: „Es ist so gemein! Warum sie? Sie war doch noch so jung! Sie hatte ihr ganzes Leben noch vor sich! Wir hatten so viele Pläne, die wir jetzt nie mehr umsetzen können!“
„Ich weiß“ sagte er nur. Er versuchte mich nicht mit irgendwelchen Floskeln zu trösten. Ben war immer ehrlich gewesen. Aber in diesem Moment wollte ich keine hohlen Phrasen hören. Ich wollte einfach nur festgehalten werden und Halt bekommen nach all den Tagen des Bangens, des Unverständnisses, der Wut und der Trauer.
Natürlich hatten meine Freunde und meine Familie versucht mich zu trösten. Aber sie schafften es nicht. Vielleicht wollte ich es auch nicht zulassen. Sie hatten sie nun mal nicht so gekannt wie ich. Also konnte sie mich auch nicht verstehen, dachte ich widerspenstig!
Ben hingegen hatte seiner Cousine auch sehr nah gestanden. Von allen ihren Verwandten war ihr Ben immer am liebsten gewesen. Sie hatten das gleiche Alter, waren praktisch Haus an Haus aufgewachsen und wirklich gute Freunde gewesen. Einen kurzen Moment überlegte ich, warum ich ihn früher nicht häufiger gesehen hatte, aber er wohnte ziemlich weit weg. Während sie zum Studieren in die große, weite Welt, die so geliebt hatte, gezogen war, blieb er in ihrer Heimatstadt und begann eine Ausbildung.
Ich löste mich wieder aus seiner Umarmung und streichte mir meine Tränen vom Gesicht.
„Geht's wieder?“ fragte er ruhig.
Ich schluckte und brachte nur ein gehauchtes „Ja.“ zustande. „Ich...“
„Liebes, geht es einigermaßen?“ Elisabeth, die Mutter meiner Freundin, war rausgekommen um nach mir zu sehen. Sie blieb aber in der Tür stehen. Scheinbar war es ihr dann doch zu kalt um rauszukommen. Ich hielt mich wieder fester an Ben fest. Er verstand es.
„Ja, Tante Elisabeth! Ich bring' sie jetzt Hause!“ rief Ben rüber.
„In Ordnung. Danke, Ben!“ Und schon war sie wieder im Restaurant verschwunden.
Ben brachte mich zu seinem Auto. Ich konnte kaum klar denken. Ließ mich einfach nur auf den Beifahrersitz fallen.
„Hattest du eine Jacke mit?“ fragte er leise.
Ich nickte: „Und 'ne Tasche.“
„Ich hol' sie.“ Er schloss die Autotür und lief zurück ins Restaurant. Ich weiß nicht mehr, wie lange er weg war. Irgendwann kam er zurück, legte mir meine Sachen auf den Schoß und startete den Wagen. Er sagte nichts. Und ich war ihm dankbar dafür. Mir war einmal mehr nicht zum Reden zumute. Er fuhr zu mir nach Hause. Scheinbar wusste er wo das war. Es kümmerte mich nicht woher oder warum er das wusste. Ich wollte einfach nach Hause. Diese fürchterliche Beerdigung vergessen. Alleine sein. Nein, ich wollte, dass jemand bei mir war. Meine beste Freundin! Sie hätte mich jetzt trösten können. Und zwar nur sie! Aber das ging nicht mehr. Wieder fing ich plötzlich an zu heulen. Ben sagte immer noch nichts, sondern legte einfach nur seine Hand beruhigend auf mein Bein. Ich schaute ihn, zum ersten Mal seit wir im Auto saßen, an. Auch er hatte Tränen in den Augen. Wegen des Todes oder weil ich ihm Leid tat?
Einige Minuten später hielt er vor dem Haus in dem ich wohnte. Wir sahen uns an. Sein Blick konnte nur eines bedeuten: Kommst du klar? Ich schüttelte den Kopf.
„Okay.“ Er parkte und wir stiegen aus. Ich war so wackelig auf den Beinen, dass er um das Auto herum lief und meinen Arm und meine Sachen nahm und ich mich zum Haus brachte. Er suchte den Schlüssel und öffnete die Tür.
„Leg' dich ins Bett. Ich mach dir zuerst mal einen Tee.“ Ich konnte wieder nur nicken und schlich ins Schlafzimmer. Dort ließ ich mich auf mein großes Bett fallen. Die Gardinen waren seit Tagen zugezogen und es sollte für immer so bleiben.
Irgendwann kam Ben in mein Zimmer. Mit beiden Händen trug er vorsichtig ein Tablett mit einer großen Kanne Tee, zwei Tassen und einem Teller mit Schokoladenkeksen. Als ich die sah, lächelte ich. Oh ja, die wollte ich jetzt gerne essen. Als Ben mich lächeln sah, wurde auch sein trauriges Gesicht ein bisschen entspannter. Er stellte das Tablett neben mir auf das Bett. Ich richtete mich auf und lehnte mich an die Wand hinter mir. Er setzte sich auf die Bettkante. Mit ruhigen Händen goss er den dampfenden Tee ein und gab mir eine Tasse. Nach dem ersten Schluck griff ich nach den Schokokeksen. Im selben Moment wollte sie mir Ben geben. Meine Hand stieß gegen den Teller und fast wären die Kekse heruntergefallen. Aber bis auf ein paar Krümel blieb alles liegen. Ben schaute mich beinahe entsetzt an. Er hatte Angst, dass ich wieder anfange zu weinen, aber im Gegenteil - ich musste lächeln.
„Danke, dass du mich nach Hause gebracht hast.“
„Versteht sich von selbst.“
Wir blieben noch einige Zeit so sitzen. Sprachen über diesen wundervollen Menschen, der nun für immer gegangen war. Für immer. Sie kommt nie wieder. Nie. Wir konnten es beide nicht verstehen.
Als ich meinen Tee getrunken und immerhin zwei Kekse gegessen hatte, wollte ich... Mir fiel auf, dass ich gar nicht wusste, was ich jetzt machen wollte. Sonst hatte ich immer alleine sein und schlafen wollen, aber in dem Moment wusste ich es wirklich nicht. Ben wusste es wieder mal und sagte: „Iss' noch einen Keks. Bestimmt hast du seit Tagen nichts mehr gegessen.“ Und er hatte Recht. „Danach versuchst du zu schlafen.“ Er sprach mir sprichwörtlich aus der Seele und ich war froh, dass mir jemand sagte, was ich wollte. Ich nahm einen Keks vom Teller und Ben ging mit dem Tablett in die Küche. Ich hörte wie er das Geschirr in die Spülmaschine stellte. Ich legte mich hin und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Ben kam zurück. Diesmal wusste ich was ich wollte, ohne dass er es mir sagen musste.
„Bleibst du noch hier?“
„Ja.“ Ich hob die Decke und er schlüpfte darunter. Er lächelte mich an und sagte: „Solange du willst.“ Dann nahm er mich in seine Arme und küsste mich auf die Stirn.
Es war das erste Mal seit ich die schrecklichen Nachricht empfangen hatte, dass ich Nähe von jemandem zu ließ. Vielleicht war es, weil er ihr so sehr ähnelte. Dann war er tatsächlich der Einzige, der mich trösten konnte.
Ich atmete tief ein und aus. Langsam fielen meine Augen zu. Auf einmal merkte ich, wie müde ich wirklich war.