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Lehrstunden
Lehrstunde
Mitleidigkeit führt eigentlich dazu, dass man für die Qual eines Anderen auch Tränen verspürt. Atze hatte keine Tränen für sie übrig. Für niemanden von denen, über die hier berichtet wird. Die Traurigkeit die in ihm steckte, hatte er gar nicht mehr verspürt. Kopfschmerzen verspürte er und er ließ sich lieber einen Kaffee einschenken. Heute Morgen anstelle eines Bieres. So viel Vernunft besaß selbst Atze.
Gestern Abend hatte er seine Tränen weggespült. Aber nicht hier. Er knackte, so sagt er es, bei Henry, dem alten Penner, der seit langem durch diese Stadt streifte, der aber die Wohnung besaß, wenn die auch sehr schmutzig und nur mit spärlichem Mobiliar ausgestattet war. Ein Kasten Bier hatte Henry immer da und sie hatten gewaltig zugelangt, gestern abend. Atze pennte sich seit dem Rausschmiß öfter mal bei ihm auf dem Sofa aus wenn er nichts anderes gefunden hatte und meistens wurde er davon besoffen. – Er saß höchstens zwei Minuten am Tresen als sie zu ihm kam. Sie trat aus dem schmalen Vorhang vor dem Eingang zur Treppe in den Schankraum heraus und bevor sie sich zu ihm setzte ging sie geschmeidig hinter dem Tresen entlang und schüttete sich von der Plörre in den Becher, der neben der verschmutzten Kaffeemaschine stand. „Na du!“, begrüßte sie ihn müde. Es hatte ihm immerhin ein Lächeln abverlangt. Wozu Mitleid? Die hat doch ein Dach über dem Kopf und Kohle hat sie auch. Die geht doch anschaffen. Wenn Mama es auch sagte, dass die hier nicht zu beneiden sind und Schnucki schlägt auch manchmal zu, wenn die Hasen das mal wieder brauchen. Genau so wie der Alte. Mama lässt er ja meistens zufrieden aber Atze hatte furchtbar von ihm auf die Schnauze bekommen, bevor er verschwand. Mitleid ist etwas für die Weichen, hatte er verstanden. – Den Weg hierher hatte er ihm gerne abgenommen, wenn er sich auch geschworen hatte, ihm keine Gefälligkeiten mehr zu erweisen. Bondy hatte er erst zwei, drei Mal gesehen, in der Kneipe und er fand sie gleich recht süß. „Saufe nicht so viel!“, meinte sie fürsorglich.. „Sonnst kommst du unter die Räder.“ – Dass er sie sehr hübsch fände, gestand er ihr. Und dass er sie wiedersehen wollte.
„Wir brauchen das Geld. Unbedingt, hast du verstanden?“, sagte ihm Mama neulich am Telefon. Und sie würden ihm auch eine Wohnung besorgen, wenn es so weitergeht. Er könne jederzeit wieder nach Hause kommen, log sie. Er solle sich nicht um das Päckchen kümmern, das er vorhin Schnucki über den Tresen reichte. Schnucki wisse bescheid und überhaupt wäre es besser für Atze, wenn er niemals mit irgend jemanden darüber spräche, dass er für den Alten diese Dinge besorgt. Atze ahnte nur, worum es sich handelte und er schwieg sich aus. Doch, er wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen und vielleicht ergäbe sich etwas, wenn er mit ihr spräche. Vielleicht wisse sie etwas. Auch über den Alten. Und wie man mit ihm fertig würde. Der Alte hatte es geregelt. Zur Belohnung dürfe er mit hoch. „Kommst du mit?“, hatte sie ihn gefragt. Sie nahm bestenfalls den Jungen mit hinauf, der noch so viel lernen müsse.
Beide gingen die Holztreppe hoch und oben, auf dem schmalen Gang an den beiden verschlossenen Türen vorbei in ihr kleines Zimmer hinein, in dem sie die Fenster immer zugezogen hat, damit man sie nicht beobachten kann. Er solle sich wohlfühlen und seine Angst verlieren. Damit er sich von dem Terz mit dem Alten erholen konnte. Die anderen hatten doch auch keine Chance gegen so einen. Und wenn sie sich seiner annehmen würde, außerdem es ihm zeigen würde, wie es ginge, dann hätten doch beide etwas davon.
Mit Atze wolle sie es nicht so eiskalt. So zielgerichtet nur auf das Eine, auf das Geld hinaus. Sie hatte es ihm gesagt, dass er keine Hemmungen zeigen muss. Er sollte sich sexuell befreien, so wie sie sich alle befreien. Es ist doch viel besser, wenn sie nicht mehr darauf losprügeln, wenn sie es brauchen. Sicherlich wird er sich bald eine andere nehmen. Eine Gleichaltrige müsse er sich nehmen, eine, die seinem Alter entspricht. Und der könnte er es dann weitersagen. Wie sie es möchte, solle sie ihm dann sagen.
Atze wünschte es sich sehr, überall auf sich ihren Mund zu spüren. Auf seiner Brust ihre Lippen. An seinem Hals, seiner Stirn, seinen Schenkeln sollte sie daran hinab und wieder empor gleiten. Ohne dass etwas schmerzte, also ohne dass es wehtat wenn sie wolllüstig und seinen ganzen Körper küsste.
Er lehnte sich unter ihren Berührungen mächtig ins Kreuz, stützte seine Hände in seine Hüften und warf seinen Kopf geschlossener Augen in den Nacken. Atze ergriff plötzlich ihren Schopf, massierte ihn dabei und verlangte mehr von ihr. Er sagte es ihr streng. Dass er ihre saftige Gier genießend über sich ergehen lassen will. Dass er sie gleich nehmen will. Vor dem Fenster, vor dem Spiegel neben der Tür. Auf dem Boden, engumschlungen, sich sehnsuchtsvoll windend und leidenschaftlich selbstvergessen, innig küssend. In ihrem Bett. Gelandet. Geworfen, geschmissen und hineingezogen. Ihre beiden nach einen Höhepunkt lechzenden Körper übereinander festverschlungen. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass das Bett unter ihren wilden Bewegungen quietsch. Ohne darauf Rücksicht zu nehmen, dass es jeder hören kann, wenn er sich nur nahe genug zu ihnen begibt und ihnen vielleicht zusehen mag, wie toll er es kann. Wild und frei von allen Tabus wünschte Atze sich Sex mit ihr.
Atze war sechszehn, gerade in diesem Moment. Sie spürte es an der Zartheit seines Atems um ihre Ohren herum. An dem leisen, nicht gequälten Stöhnen seiner noch unreifen Stimme. Seine Arme plötzlich über sie ausstreckend erhob er sich mit dem Oberkörper kraftvoll aus der durchbeulten Matratze. Seine Lenden bewegte er zunehmend heftiger, fordernder, als er Erfüllung suchend damit begonnen hatte, sich dem Höhepunkt entgegenzusteigern. Während er es ihr unverkrampft und leicht ins Gesicht säuselte. Perlen von Schweiß auf seiner Stirn zerrannen und liefen ihm am Haaransatz seines Gesichtes hinab, wenn er es nur hauchte, dass er gleich kommen wird.
Es geht doch viel schneller und unverkrampfter mit einem so jungen Mann. In dem Augenblick der restlosen Zurücknahme des ihn Anführens und Leitens – den Momenten ihrer Hingabe – verspürte sie noch etwas Zartheit hinter seiner so früh eingefleischten Rauheit. Er war so rau. Tatsächlich war er viel zu schüchtern dazu, sie unterzubuttern. Ausgerechnet sie, die schon lange alles davon wusste. Sie wünschte sich für einen Augenblick mehr von ihm. Sie erwartete viel mehr von ihm als von manch anderem der Freier. Männer, die sie heimsuchen und manches Mal so brutal vereinnahmen.
Es wäre ihm jetzt egal gewesen, als er erschöpft über ihr zusammenbrach, kurz und laut aufgestöhnt hatte, bevor er tief versunken plötzlich nur noch auf ihr ruhte. Als er verschnaufte und langsam wieder zu sich kam. Er blinzelte ihr frech ins Gesicht und seine Zähne, die karieszerfressen unappetitlich waren, so dass er sie normaler Weise niemanden zeigen mochte, waren ihm jetzt ganz egal. Bereits so frühzeitig litt seine Gesundheit. Er war so frühreif mit ihr umgegangen. Es war ihm egal, sagte er ihr. Er wolle alles wissen, sagte er ihr.
Befreit schmiss er sich zur Seite und drehte sich zu dem Nachtschrank, der neben dem Bett stand und angelte sich aus der Zigarettenschachtel, die er vorhin dort hingelegt hatte, eine Zigarette. Er steckte sie sich in den Mund .
„... auch eine?“,
fragte Atze.
„Ich kann eine gebrauchen.“,
sagte sie ihm und griff zu den Zigaretten, die er ihr aus der Schachtel reichte. Es zogen Falten über seine Stirn und seine Nase rümpfte sich, als er sich seine Zigarette an dem Streichholz entzündete. Er reichte ihr das Streichholz, während sich die Glut an seiner Zigarette nach einem kräftigem Zug herunter zu fressen begann.
„Wann kommst du wieder?“,
wollte sie von ihm wissen.
„Weiß nicht.“,
antwortete Atze. Dann schwieg er, schloss seine Augen, verschränkte den einen Arm hinter den Kopf und hing seinen Träumen und Wünschen nach.
„Schlaf nicht ein.“,
sagte Meggy zu ihm.
Sie warf die Bettdecke zurück und stieg ins Zimmer. Sie begab sich zu dem Kleiderhaken über dem Sessel. Sie griff nach dem Morgenrock, der dort hing.
„Ich glaube, ich will duschen.“,
sagte sie zu Atze und öffnete die Badezimmertür, in der sie verschwand.
„Du musst gleich los.“,
sagte sie.
„Heute kommt noch jemand.“,
rief sie aus dem Bad. Atze drehte sich aus dem Bett und griff nach seinen Klamotten, die Meggy ihm zuvor aufs Bett geschmissen hatte. Er ordnete sie und schlüpfte in seine Kleidung. In die frische Unterhose, die er sich extra angezogen hatte, obwohl es ihm obdachlos so schwer fiel, saubere Wäsche anzuziehen aber manchmal gelingt es ihm und er findet jemanden, der seine Sachen mit nach Hause nimmt und sie ihm wäscht. Er brauchte heute kein Unterhemd, so warm war es an jenem Tage. Und er brauchte auch keine Strümpfe an. Nur seine Jeans, sein kurzärmiliges Hemd und die Latschen, in denen er zu sommers meistens unterwegs ist, hatte er wirklich gebraucht.
„Ohne ...“,
rief sie aus der Badezimmertür, jetzt unter der Brause stehend, zu ihm ins Zimmer hinein.
„Das nächste Mal geht es aber auch nicht ohne, hast du gehört? Viel zu gefährlich und du bist nicht mehr unerfahren. Pass schön auf dich auf. Du weist worum es geht. Und nächstes Mal bringst du etwas mehr Geld mit, hast du gehört. Siehe zu, wo du es herbekommst, hörst du?"
Atze sah sich kurz nach ihr um, als er im Flur stand und er bemerkte, dass sie ihn nicht sehen konnte. Er gab ihr keine Antwort. Er verschwand den Gang entlang. Tippelte die Treppe hinunter und verschwand durch die leere Gaststube. „Tschüß!“, sagte er zu Schnucky, der hinter dem Tresen auf einem Hocker saß und ihm hinterher sah, als Atze das Haus verlies.
Seine Augen wiesen auf die Hauptstraße hinter den Häusern und er achtete auf den Lärm, den er von dort vernahm. Er bekam Angst davor, man würde ihn verfolgen. Der Lärm der Stadt, der den Sündenfall in der Anonymität in den Gassen wie nicht gewesen davon blies. Ausweichend begegnete er der Scheinheiligkeit der Passanten, die in den Straßen ihren Dingen nachgingen. Denen er sich hinzu gesellte und befreit von allen Zweifeln, dass auch er so etwas könne, verschwand er in der vermeintlichen Harmlosigkeit des kleinstädtischen Geschehens und wandelte die Schärfe, mit der er zu Bondy ging in einen müden Gleichmut auch gegenüber des scheinbaren Anstandes der Leute, von denen er glaubte, sich ihnen mühelos anpassen zu können um in der Fragwürdigkeit seines Handelns unantastbar zu bleiben. Der Junge erprobte einen Ausweg aus seinem aussichtslosen Dasein und er hoffte auf Bondy, mit deren Hilfe er den Alten abschlagen will. Schnucky ist doch auch nur sauer auf den. Und Bondy braucht doch nur einmal mit dem Chef zu reden. – Lehrstunden benötigt der Alte!“, dachte Atze wütend über neue Pläne nach. „In Lehrstunden gehört der abgewickelt aus allen Verstrickungen."