Was ist neu

Lene, hinter der Maske

Seniors
Beitritt
20.10.2002
Beiträge
2.639
Zuletzt bearbeitet:

Lene, hinter der Maske

Lene

zur überarbeiteten Version geht es hier

Das blaue Häferl zersplitterte in tausend Teile. Grüntee spritzte auf den Tisch, den Boden, den Teppich. Erschrocken blickte Lene auf die Scherben. Friedel stand langsam von seinem Platz am Kachelofen auf, streckte sich und trottete auf Lene zu. Die alte Dame kraulte das Fell des Hundes.
„Lass uns spazieren gehen … ich muss an die frische Luft.“, sagte sie leise und wandte sich von den Scherben ab. Das Häferl hat mir Simon vor über sechs Jahren gekauft, auf dem kleinen Töpfermarkt … Sie verlor sich in der Erinnerung.
Friedel stupste ihren Arm. Sie bemühte sich, die Knöpfe an ihrem Mantel zu schließen. Die Hände zitterten, dass es die reinste Geduldsprobe war.
Der Mischling ließ sich brav anleinen und die beiden gingen los. Im Schnee bockte Friedel wie eine junge Ziege und hoppelte schräg neben Lene her, obwohl er nur noch drei Beine hatte. Ungestüm und übermütig freute er sich über den Schnee. Sie genoss die kalte, klare Luft und das Knirschen unter ihren Stiefeln. Sie ließen die Straße bald hinter sich und bogen in einen kleinen Feldweg ab. Krähen saßen auf den kahlen Bäumen und beäugten die zierliche Frau, die die Leine straff um den angewinkelten Arm gewickelt hatte, mit ihrem seltsamen Hund.
Als sie an den kleinen See kamen, schwamm eine ganze Flotte von Enten und Blesshühnern in der Erwartung von altem Brot auf sie zu. Im Kielwasser zerstörten sie die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der stillen Seeoberfläche. Aber Lene hatte in ihrem Aufbruch nicht an die Vögel gedacht. Friedel zog an der Leine und wedelte mit dem Schwanz. Als zwei Schwäne auftauchten, fing er an zu bellen.
„Friedel, die wollen nicht mit dir spielen … komm, lass uns weitergehen.“
Am Ufer des Sees hatte sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet, die in der Sonne glitzerte. Einige der Enten versuchten, die Böschung hinauf zu klettern. Sie waren völlig unbeeindruckt von dem Hund, der mittlerweile ein ziemliches Theater veranstaltete. Lene hatte Schwierigkeiten, ihn zurückzuhalten. Zwar war Friedel schon fast dreizehn Jahre, aber in dem Moment sah man ihm dieses Alter überhaupt nicht an, und mit seiner Behinderung kam er prima klar.

*

Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in einem kleinen Zwinger im Tierheim.
„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt“, hatte sie der Leiterin des Tierheims erklärt, als diese ihr von einem ganzen Wurf junger Hunde erzählt hatte, die sie vor einigen Tagen erst in einem Karton vor der Tür gefunden hatte. Daraufhin waren sie in den hinteren Bereich der Abteilung gegangen, wo Dackel und Boxer und Pudel und Retriever und Mischlinge aller Arten und Größen in den Zwingern saßen und sie mit großen Augen musterten. Viele kamen zu den Türen und bellten, wedelten hoffnungsvoll mit dem Schwanz und schoben ihre Nasen durchs Gitter. Und in einem der Zwinger: Friedel. Er lag in einer Ecke und blickte kaum auf, als sie an seiner Tür vorbeigingen.
„Was ist mit ihm?“, hatte Lene gefragt.
„Das ist der Friedel“, hatte die Leiterin geantwortet. „Er ist bei uns, seit er etwa ein halbes Jahr alt ist. Gehört schon fast zum Inventar ... Er hat nur noch drei Beine. Ein Bein musste amputiert werden. Er wurde von seinen Vorbesitzern halb tot geprügelt … niemand will ein behindertes Tier.“
Aber als Lene Friedels Augen sah, sein müdes Schwanzwedeln am Boden, wusste sie, welchen Hund sie mitnehmen würde.
Und mit jedem Tag, den Friedel bei ihr war, blühte er mehr auf. Zunächst war er ängstlich und lethargisch, aber schon nach einigen Tagen begann er, seinen Charme und sein Temperament auszuspielen. Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch. Doch der Hund war aus dem Tierheim so an Katzen und Kleintiere gewohnt, dass es ihm nicht eingefallen wäre, Jagd auf sie zu machen. Zudem hätte er vermutlich nicht die besten Chancen gehabt, die beiden geschmeidigen Kater zu fangen. Mittlerweile hatten sich Abraxas und Jeremias an ihn gewöhnt, und es kam oft vor, dass sie sich schnurrend an den Bauch des Hundes kuschelten um zu schlafen.
Nach dem Tod von Simon war Lene aus ihrer Trauer nicht mehr herausgekommen. Sie hatte sogar aufgehört zu malen, vor Erinnerungen und Kummer und Einsamkeit. Auch ihr tat die Anwesenheit des ruhigen, freundlichen Hundes gut.

*

Als sie um den See herumgingen, auf dem Wasserweg von Entengeschnatter begleitet, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.
Die Zweige der Weiden hingen ins Wasser. Kleine Eisklumpen bildeten einen Kranz um die Stelle, wo sie eintauchten.

Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken.

*

Es hatte lange gedauert, bis sie wieder anfangen konnte, zu malen. Zu sehr hatte dieses tote Gefühl in ihrer Seele gelegen, als dass sie Rötel oder Pinsel hätte anfassen können. Erst Monate später hatte sie wieder einen Auftrag für ein Portrait angenommen, und als sie zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder eine Skizze gefertigt hatte, war es eine richtige Befreiung gewesen. Als ob die ganze Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild flössen.
Und langsam kam sie mit ihrem neuen Leben zurecht. Simon fehlte ihr immer noch in so vielem. Er war wie ein Schatten, der sie und das Haus, alle Dinge und Erinnerungen umgab. Aber die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift. Friedel hatte ihr viel geholfen, denn als sie die Verantwortung für ihn übernommen hatte, konnte sie nicht mehr den ganzen Tag nur herumsitzen.
Doch es gab etwas, das ihr Sorgen machte. Seit einigen Monaten spürte sie es. Zuerst war es kaum wahrnehmbar gewesen, beziehungsweise: sie hatte es ignorieren können. Das ging jetzt nicht mehr. Sie betrachtete mehrere Skizzen. Egal, ob Bleistift oder Kreide: die feinen Linien waren verwackelt und unsauber.
Kleinigkeiten fielen ihr schwer in letzter Zeit, sie verlor die Geduld. Wenn sie etwas schreiben wollte, erkannte sie ihre eigene Schrift fast nicht mehr, sie war klein und verwischt. Ein Reißverschluss konnte sie zur Weißglut treiben, wenn sie ihn kaum aufbekam. Die Tür aufsperren, Gemüse schneiden oder ganz einfach auf die Toilette gehen konnte zum Alptraum werden.
Zunächst hatte sie es auf einen nervösen oder tollpatschigen Tag geschoben oder auf den Kaffee am Morgen.
Langsam hatte sie begriffen, dass es nicht besser wurde, obwohl sie nur noch Tee trank.

*

Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt schließlich ein ernstes Gesicht gemacht.
„Frau Ammer … das Gutachten von der Klinik ist da. Es tut mir Leid, ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie haben Parkinson. Und wir haben es leider erst recht spät festgestellt …“
Den Verdacht hatte er schon Wochen zuvor geäußert, als sie ihm von ihrem unwillkürlichen Zittern und den Problemen beim Schreiben erzählt hatte. Auch die Gelenk- und Muskelschmerzen, die sie seit einiger Zeit spürte, hatte er darauf zurückgeführt. Oft fühlte sie sich ganz steif, konnte sich kaum zu den Spaziergängen mit Friedel aufraffen, obwohl sie frische Luft und die Bewegung immer geliebt hatte.

Lene betrachtet die beiden Selbstportraits, die in ihrem Wohnzimmer hingen. Eins davon war mit Rötel gezeichnet und hing schon ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle. Ihr Gesicht wirkte drauf fast jugendlich, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Das andere war erst vor ein paar Jahren entstanden und zeigte ein ernstes Gesicht mit vielen Falten auf Stirn und Wangen ... Nie wieder würde sie so zeichnen.
Die meisten der letzten Entwürfe hatte sie irgendwann aus Zorn und Hilflosigkeit zerrissen. Und sie spürte auch, wie sie selbst sich zu verändern begann. Nicht nur das Zittern und die Schmerzen. Ihr Gesicht kam ihr mehr und mehr wie eine Maske vor, die sie abschirmte. Wenn sie lächeln wollte, passierte manchmal gar nichts mehr, das ganze Gesicht war steif und starr wie aus Wachs. Als sie das zum ersten Mal bewusst bemerkt hatte, hatte sie sich auf ihr Bett gelegt und geweint. Es machte ihr Angst. Angst, dass ihre Gefühle und ihre Person hinter einer Maske gefangen waren und dass sie nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte.

Ihr Hausarzt hatte versucht, sie zu einem Klinikaufenthalt zu überreden, damit die Medikation richtig eingestellt werden konnte.
„Es gibt ausgezeichnete Kliniken, Frau Ammer … nur so kann sichergestellt werden, dass die Medikamente wirklich auf sie passen“
„Herr Lemberg, ich kann nicht. Friedel kann nicht allein zuhause bleiben.“
„Vielleicht würde ein Nachbar so lange auf den Hund aufpassen, es sind ja nur drei oder vier Wochen“
„Nein, das kommt nicht in Frage …“
Sie hatte sich hartnäckig und sehr zielstrebig gegen einen stationären Aufenthalt gesträubt. Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären … hatte Herr Lemberg, selbst schon weit über sechzig, gedacht. Aber die schmale, blasse Dame, die ihm gegenüber saß, hatte nicht nachgegeben.
„Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“
Lemberg hatte in Gedanken geseufzt und sich auf viele anstrengende Wochen und Monate mit dieser Patientin gefasst gemacht. Er hatte noch nie einen Parkinsonpatienten auf L-Dopa eingestellt und war alles andere als ein Spezialist. Aber erstens hätte er das nie zugegeben, und zweitens hätte Lene wohl kaum mit achtundsiebzig Jahren noch den Hausarzt gewechselt, den sie seit über vierzig Jahren besuchte.
Aber Doktor Lemberg gab sich Mühe. Er suchte die Adressen von einem geeigneten Ergotherapeuten und einem Masseur. Außerdem gab er sich Mühe, Lene über den Verlauf ihrer Erkrankung aufzuklären. Sie hörte ihm zu, mit starrem Gesicht.
„Vielleicht …“ Er zögerte. „Vielleicht wäre es auch ratsam, wenn sie sich nach einem guten Pflegeheim umsehen würden … Sie sind allein in ihrer Wohnung, wenn etwas passiert … und wenn sich ihr Zustand verschlechtert …“
Er war immer unsicherer geworden, als Lene nur dagesessen und ihn angesehen hatte. Schließlich hatte er abgebrochen. Er konnte ihre Gedanken förmlich spüren. Friedel. Nie würde sie einverstanden sein.

*

Als sie sich das Gesagte zuhause noch einmal verdeutlichte, fühlte sie sich elend. Alt und verbraucht bin ich, dachte sie. Bald werde ich nicht mehr normal gehen können, vielleicht auch nicht mehr richtig sprechen. Ich werde nie wieder malen. Nur noch Friedel kümmert sich um mich.

Als Simon noch gelebt hatte war alles anders gewesen. Nie hatte sie sich alt gefühlt. Sie waren manchmal zum Tanzen gegangen und oft zum Wandern an die frische Luft. Und sie erinnerte sich an die Kaminabende im Winter, wenn Simon sein Cello hervorgeholt hatte und liebevoll über den Bauch des alten Instruments gestrichen hatte, bevor er daraus weiche, dunkle Melodien gezaubert hatte. Einsamkeit oder Hilflosigkeit hatte es in ihrer Liebe nicht gegeben.
Lene hatte es nicht über sich gebracht, das Cello wegzugeben. Es stand immer noch auf seinem Platz in der Ecke, als ob es auf die sanften Berührungen des Bogens warten würde.

*

Und jetzt gab es nur noch Friedel.

Ganz stimmte das nicht. Lenes Nachbarn, eine nette junge Familie mit einem kleinen Mädchen, erkundigten sich immer wieder nach ihrem Befinden, und boten ihr auch an, Einkäufe für sie zu erledigen. Aber Lene wollte immer weniger mit den Kratzers zu tun haben, und mied den Kontakt. Sie mochte die Familie sehr gerne, aber sie hatte Angst, dass das Ehepaar ihren Tremor bemerken könnte, oder sie für verrückt halten würde, wenn sie sahen, wie schwer sie sich zum Beispiel damit tat, ihre Wohnungstüre aufzusperren. Es war ein einziger Kampf, die einen Muskeln taten das richtige, aber die anderen spannten sich ebenfalls an und machten es schier unmöglich, dass sie das Schlüsselloch traf. In vielen dieser Momente überkam sie heilloser Zorn.
Überhaupt ging Lene immer seltener nach draußen, nur noch, wenn es unvermeidlich war. Spazieren mit Friedel. Einkaufen. Mehr nicht.
Sie hatte auf Anraten von Doktor Lemberg einen Behindertenausweis beantragt, und die Pflegeversicherung hatte ihr angeboten, einen Zivi vorbeizuschicken.
Lene hatte sich von all dem überfordert gefühlt. Ein Behindertenausweis … dieses Wort traf sie wie eine einstürzende Decke. Parkinson ist nicht heilbar. Im Gegenteil, er ist progressiv. Es würde immer schlimmer werden. Sie war behindert, sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte hatte. Positiv formulierte Diskriminierung, dachte sie.

*

Als sie Marco das erste Mal sah, war sie überrascht. Es war eine wochenlange Diskussion gewesen, bis sie endlich eingewilligt hatte, dass ein Zivi jeden Tag zu ihr kommen sollte und das Nötigste erledigte.
Er war ein hübscher junger Mann mit kastanienbraunen Augen und sanften Händen. Lene war ängstlich gewesen, wie ein gesunder junger Mensch mit einem alten dreibeinigen Hund und ihrer Behinderung umgehen würde. Sie fürchtete, dass er womöglich lachen oder sie für irre erklären würde, wenn er das Zittern in ihren Händen, ihr totes Gesicht oder ihre verlangsamten Bewegungen bemerkte. Aber sie hatte sich getäuscht. Auf Anhieb verstand er sich mit Friedel, nahm ihn an manchen Tagen zu langen Spatziergängen mit und erledigte die nötigsten Sachen in der Stadt. Außerdem half er ihr, die Medikamente vorzubereiten. Mehrmals täglich musste sie ihre Tabletten schlucken. Und er schien sich nichts daraus zu machen, dass Lene oft für die einfachsten Sachen ewige Minuten brauchte, oder wenn an manchen Tagen die Schmerzen und der Tremor so stark waren, dass sie kaum aufstehen konnte. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Marco nicht mehr vorstellen. Doch seine Zeit als Zivi war begrenzt. Lene wollte nicht daran denken, wie es sein würde, wenn Marco sein ersehntes Studium in Berlin aufnehmen würde und sie wieder alleine sein würde.

Die Medikamenteneinstellung war schlecht. Der Parkinson zeigte sich von Monat zu Monat deutlicher. Nach einem halben Jahr konnte Lene kaum noch ohne Hilfe gehen. Sie machte kleine Schritte, wie ein Kind, das gerade erst laufen lernt, immer bereit, sich mit einer Hand an einem Möbelstück festzuklammern. Die Stürze häuften sich dennoch. Doktor Lemberg war über das außergewöhnlich rasche Fortschreiten der Erkrankung erschüttert und machte sich Vorwürfe. Bei jedem Besuch redete er von den Chancen, die Lene hätte, wenn sie in eine Klinik gehen würde. Aber sie schüttelte nur den Kopf.
Immer noch ging sie tapfer ihre Runden mit Friedel, auch wenn es oft sehr schwierig war und sie Schmerzen hatte, und Angst vor Stürzen.

*

An einem klaren Tag im Oktober schlang sie sich, wie so oft, die Leine um den Arm. Friedel blickte sie an und wedelte ungeduldig mit dem Schwanz.
„Langsam, Friedel … langsam.“
Lene sah ihren Hund an, der sich vor Freude kaum halten konnte und kraulte seine Ohren. Sein Fell schimmerte, obwohl schon viele graue Haare dabei waren, und die braunen Augen blitzten.
Sie wollten in den Park, wo alte, mächtige Kastanien gerade ihre Blätter gelb und rot färbten. Holzbänke standen in einigen Abständen und auf den schmalen Kieswegen würden nicht mehr viele Menschen unterwegs sein. Die Dämmerung war schon hereingebrochen. Die untergehende Sonne hinterließ den Himmel in Pastelltönen.
Um in den Park zu gelangen, mussten sie die Hauptstraße des Ortes überqueren. Doch als die Ampel auf grün schaltete, war Lene nicht fähig einen Schritt zu tun. Die Muskeln gehorchten ihr nicht, sie stand steif vor der grünen Ampel. Das Bein fühlte sich an, als hätte es jemand mit Blei ausgegossen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Ein Schritt, das linke Bein anspannen, Knie beugen… nach vorne …
Friedel jedoch war in Erwartung des Parks, freute sich auf die Gerüche der Hundedamen und der Hasen. Mit einem kräftigen Ruck riss er sich von Lenes Arm los, und lief, die Leine hinter sich herschleifend, über die Kreuzung. In diesem Moment bog ein Auto um die Kurve.
„Friedel!“
Lene schrie im Fallen auf. Der Ruck an ihrem Arm war so stark gewesen, dass sie auf der Straße aufschlug.
Danach nahm sie ein heilloses Durcheinander wahr. Menschen schrieen, Autos, Hektik, fremde Leute … Eine junge Frau kniete sich zu ihr. „Sollen wir einen Notarzt rufen? Wie geht es, kann ich ihnen beim Aufstehen helfen? Sind sie verletzt?“
Lene hörte die Worte kaum, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden. Mühsam versuchte sie sich aufzuraffen, von der Frau und einem älteren Herren gestützt. Sie bemerkte das Blut, das ihr das Bein hinunter lief, nicht.
„Mir ist nichts passiert, kein Arzt“, hörte sie sich. Ihre Hände waren vom Fall auf den Asphalt aufgeschürft.
Sie blickte sich um, das Gesicht grau vor Angst und die Augen auf der Suche nach Friedel.
„Hat … hat jemand meinen Hund gesehen?“, fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Friedel … mein Hund … er … er ist braun und ihm fehlt das linke Vorderbein …“
Ihre Augen hatten das Auto gefunden, das mitten auf der Kreuzung stand. Derselbe Wagen, der in dem Moment losgefahren war, als ihre Beine versagt hatten.
„Hat ihn jemand gesehen? Er ist über die Straße gelaufen …“
Sie blickte genauer auf den dunklen Sportwagen. Ein Mann mit Hut und heller Jacke hatte sich bei einem der Vorderreifen gebückt und schien irgendetwas unter dem Auto zu suchen.
Nur ein dunkler Fleck war auf dem Asphalt, als ob jemand zufällig einen Klecks dunkle Farbe dort hingetupft hätte. Lenes Gesicht war starr, als sie begriff.

*

Marco stellte stumm die Einkäufe in Lenes kleine Küche. Die alte Dame lag in ihrem Bett und hatte sich offenbar nicht gerührt, seit er aufgebrochen war. Drei Wochen noch, bis er seinen Dienst abgeleistet hatte und anfangen konnte, Biologie zu studieren. Seit dem Ausflug in den Park hatte Lene kaum noch mit ihm gesprochen und war die letzten Tage auch nicht aufgestanden. Er fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn er in Berlin war. Der Hundekorb war leer. Überall lagen noch Zeichen von Friedel, sein Fressnapf, der zerkaute Gummiball, seine Decke …
Es war ein mieses Gefühl, sie alleine zu lassen, nachdem er im letzten Jahr beinahe täglich viel Zeit mit ihr und Friedel verbracht hatte. Er hatte die sensible Dame bewundert, die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war. Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen. Jetzt würde er auch noch fortgehen, und sie musste seine Freude und Begeisterung wegen des Umzugs gespürt haben. Für ihn war Lene fast zu einer Art Oma geworden im Lauf der Zeit, er hatte sich gerne mit ihr unterhalten. An seine eigenen Großeltern konnte er sich nicht erinnern. Lene war weder konservativ noch altmodisch, sondern hatte viel Interesse für sein Leben und seine Träume gezeigt. Sie hatten in dieser Zeit viel über künstlerische und kulturelle Themen gesprochen, und es war nie langweilig gewesen.
In Gedanken waren sie zusammen durch die Wolken geflogen und in alle Kontinente gereist, um Tiere zu erforschen und andere Kulturen kennen zu lernen. Sie waren in die Vergangenheit gereist und in die Zukunft.
Nun begrüßte sie ihn kaum noch.

*

Lene strich mit ihrer Hand über den schweren Tisch aus Kastanienholz. Sie schloss die Augen, als sie mit den Fingern die kleinen Kerben fühlte, die an manchen Stellen ins Holz geschnitten waren. Sie ging zu ihrem alten Kleiderschrank, der leer war und sauber ausgewischt. Die Muster auf den Türflügeln waren ihr so bekannt wie eins ihrer eigenen Bilder. Die Wände waren jetzt kahl. Dort, wo die beiden Portraits gehangen waren, waren die Mauern etwas heller. Helle Rechtecke ihrer Vergangenheit. Jetzt erst merkte Lene, dass die Zimmerecken schon recht grau geworden waren. Zweimal schon waren die Möbelpacker gekommen, um Sachen abzuholen. Es war ihr schwer gefallen, sich von so vielem zu trennen. Sie blickte in die Ecke neben dem Kamin. Dort hatte immer das Cello gestanden. Der Anblick der leeren Ecke ließ Tränen in ihr aufsteigen. Sie hatte es Marco geschenkt, an seinem Abschied vor drei Tagen. Er wusste, was es ihr bedeutet hatte, und auch wenn er nicht spielen konnte – Lene hätte das Instrument nicht mit den zahllosen anderen Gegenständen einfach in den Lastwagen laden lassen können. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Marco nicht spielen konnte, dachte sie. Anfangs wollte sie das Erbe von Simon mitnehmen, aber dann hatte sie sich anders entschieden.
Das Zimmer im Wohnheim war winzig, sie konnte fast nichts von ihren Sachen behalten. Lene hätte gerne ihren Tisch mitgenommen. Simon hatte ihn gezimmert, und ihr zum fünfjährigen Hochzeitsjubiläum geschenkt. Aber er war zu groß.

Als es an der Türe klingelte, versuchte sie sich schnell die Tränen aus den Augen zu wischen. Keiner der Möbelpacker sollte sie so sehen … Ihre Hände gehorchten ihr nicht, die Finger fuhren durch ihre Haare. Der Parkinson ließ sie Lippen und Nase unsanft streifen, bevor sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen konnte.

Die Wohnung blieb leer zurück, als Lene der Vermieterin den Schlüssel in die Hand drückte. Der Taxifahrer hatte es nicht eilig, und als sie durch die Stadt fuhren, begann der Wind die ersten Schneeflocken des Winters durch die Luft zu treiben.

*

Die Leiterin des Wohnheims kam aus einem kleinen Verwaltungsbüro und begrüßte sie fröhlich. „Wie schön, dass sie da sind, Frau Ammer. Sie werden sich sicher wohl fühlen bei uns.“
Lene konnte keine Antwort finden. Die Dame begleitete Lene zu ihrem neuen Zuhause im ersten Stock. Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sie sich, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.
Ein paar neue Möbel standen in dem Zimmer, das am Ende des Korridors lag. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Krankenhausbett, ein Schrank.
Lenes Sachen waren schon vor ein paar Tagen eingetroffen, und man hatte sie eingeordnet. Eins ihrer Bilder hing über dem kleinen Tisch in der Ecke. Es war das Portrait, das sie als junge Frau zeigte. Im ersten Moment fühlte sich Lene in ihrem Bild geborgen. Eine Ecke Heimat und Erinnerung in einer Welt, in der sie alles verloren hatte. Sie stand lange davor und blickte sich ins Gesicht.

Hinter sich hörte Lene ein Geräusch. Die Leiterin hatte die Türe nicht geschlossen, als sie gegangen war.
Eine grauweiße Katze saß im Türspalt. Sie blickte Lene mit moosgrünen, neugierigen Augen an. Gemächlich stand sie auf und ging auf die alte Frau zu.
Lene spürte eine zarte Berührung an ihren Beinen.

*

Als die Betreuerin später das Abendessen zu der neuen Heimbewohnerin brachte, klopfte sie leise.
Lene saß aufrecht auf ihrem neuen Bett mit dem starren, weißen Bezug. Sie streichelte mit zittrigen Bewegungen die Katze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und vor sich hinschnurrte, als habe sie den Rest der Welt vergessen.

 

Hallo liebe Maus,

du greifst mit deiner Geschichte über Lene und ihre Parkinsson-Erkrankung ein wichtiges Thema auf. Schön finde ich, wie du die alte Dame dabei portraitierst, wie du den langsamen Verfall beschreibst, den Starrsinn aber auch den Lebensmut.
Trotzdem brichst du für mein Gefühl oft aus und verfällst ins Berichten, etwas in Sätzen wie diesem:

Sie hatten in dieser Zeit viel über künstlerische und kulturelle Themen gesprochen, und es war nie langweilig gewesen.
Da fehlt jegliche Beziehung zu den Themen, über die sie gesprochen haben.
Wenn ich es richtig beobachtet habe, passiert das immer dann, wenn du einen Aspekt zwar in der Geschichte haben, ihm aber nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken wolltest. Da wirst du erzählerisch inkonsequent.
Das ist ganz sicher eine sehr abstrakte Bemerkung. Ich hoffe, du kannst damit trotzdem etwas anfangen. Entweder du baust solche Momente und die Geschichte aus, schenkst (zum Beispiel) Marco die nötige Beachtung, so dass er nicht nur eine charakterlose Randfigur bleibt, oder aber du kürzt die Geschichte um alle entsprechenden Aspekte.
So wirkt das ganze in den Proportionen manchmal nicht stimmig, wenn du zwar den See mit der schmalen Eisschicht am Ufer und den ins Wasser hängenden Weidenzweigen so schön und detailiert erzählst, über Simon aber zum Beispiel so wenig.

Vielleicht bin ich mit dir besonders streng, denn ich weiß, du kannst es besser.
Natürlich hat mir deine Gescichte über weite Strecken gut gefallen, ich denke aber, wenn du sie sprachlich konsequenter durchhalten würdest, könntest du sie noch wesentlich besser machen.

drei kleine Fehler:

Doch der Hund war im Tierheim so an Katzen und Kleintiere gewohnt, dass es ihm nicht eingefallen wäre, Jagd auf sie zu machen.
er war sie aus dem Tierheim gewohnt oder hatte sich im Tierheim an sie gewöhnt.
Die Dame begleitete Lene zu ihrem neuen zuhause im ersten Stock.
Zuhause dort mE groß
Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sich sie, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.
fragte sie sich

Das war es von mir.
Einen lieben Gruß, sim

(ich kann es mir nicht verkneifen, nach alkita jetzt also das blaue Häferl?) *ggg*

 

Eine schöne Geschichte, Maus, kein Zweifel. Manchmal auch zu schön, oder, manchmal geht der Gaul mit dir durch – sim hat das schon angedeutet. Das heißt, du könntest kürzen, ohne dass die Geschichte dadurch etwas verlöre. Du erklärst oft zu viel, zum Beispiel könntest du diese Absätze komplett streichen:

Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in einem kleinen Zwinger im Tierheim.
Nach dem Tod von Simon war Lene aus ihrer Trauer nicht mehr herausgekommen. Sie hatte sogar aufgehört zu malen, vor Erinnerungen und Kummer und Einsamkeit. Auch ihr tat die Anwesenheit des ruhigen, freundlichen Hundes gut.
Als sie um den See herumgingen, auf dem Wasserweg von Entengeschnatter begleitet, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.
Die Zweige der Weiden hingen ins Wasser. Kleine Eisklumpen bildeten einen Kranz um die Stelle, wo sie eintauchten.

Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken.

Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt hatte schließlich ein ernstes Gesicht gemacht.
„Frau Ammer … das Gutachten von der Klinik ist da. Es tut mir Leid, ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie haben Parkinson. Und wir haben es leider erst recht spät festgestellt …“
Den Verdacht hatte er schon Wochen zuvor geäußert, als sie ihm von ihrem unwillkürlichen Zittern und den Problemen beim Schreiben erzählt hatte. Auch die Gelenk- und Muskelschmerzen, die sie seit einiger Zeit spürte, hatte er darauf zurückgeführt. Oft fühlte sie sich ganz steif, konnte sich kaum zu den Spaziergängen mit Friedel aufraffen, obwohl sie frische Luft und die Bewegung immer geliebt hatte.
Marco stellte stumm die Einkäufe in Lenes kleine Küche. Die alte Dame lag in ihrem Bett und hatte sich offenbar nicht gerührt, seit er aufgebrochen war. Drei Wochen noch, bis er seinen Dienst abgeleistet hatte und anfangen konnte, Biologie zu studieren. Seit dem Ausflug in den Park hatte Lene kaum noch mit ihm gesprochen und war die letzten Tage auch nicht aufgestanden. Er fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn er in Berlin war. Der Hundekorb war leer. Überall lagen noch Zeichen von Friedel, sein Fressnapf, der zerkaute Gummiball, seine Decke …
Es war ein mieses Gefühl, sie alleine zu lassen, nachdem er im letzten Jahr beinahe täglich viel Zeit mit ihr und Friedel verbracht hatte. Er hatte die sensible Dame bewundert, die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war. Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen. Jetzt würde er auch noch fortgehen, und sie musste seine Freude und Begeisterung wegen des Umzugs gespürt haben. Für ihn war Lene fast zu einer Art Oma geworden im Lauf der Zeit, er hatte sich gerne mit ihr unterhalten. An seine eigenen Großeltern konnte er sich nicht erinnern. Lene war weder konservativ noch altmodisch, sondern hatte viel Interesse für sein Leben und seine Träume gezeigt. Sie hatten in dieser Zeit viel über künstlerische und kulturelle Themen gesprochen, und es war nie langweilig gewesen.
In Gedanken waren sie zusammen durch die Wolken geflogen und in alle Kontinente gereist, um Tiere zu erforschen und andere Kulturen kennen zu lernen. Sie waren in die Vergangenheit gereist und in die Zukunft.
Nun begrüßte sie ihn kaum noch.

Dion

 

Mensch, Maus...
Du wirst immer besser.
Berührende Geschichte.
Sim´Kritik stimme ich zu, was die Absätze von Dion angeht, finde ich sie nicht unötig aber der letzte, von Dion markierte dürfte auch noch etwas ausführlicher sein.

Meine Anmerkung
"... im Moment KANNTE man ihm dieses Alter..." "sah", wäre besseres Deutsch.(I. Absatz)

Mach bloß weiter so.
l.G. Lord

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo sim!

Ich hab mich sehr über Deinen Kommentar gefreut, besonders:

Vielleicht bin ich mit dir besonders streng, denn ich weiß, du kannst es besser.
:shy:
Schön, dass Dir die Geschichte streckenweise gefallen hat.
Trotzdem brichst du für mein Gefühl oft aus und verfällst ins Berichten, etwas in Sätzen wie diesem: (...)
Da fehlt jegliche Beziehung zu den Themen, über die sie gesprochen haben.
Wenn ich es richtig beobachtet habe, passiert das immer dann, wenn du einen Aspekt zwar in der Geschichte haben, ihm aber nicht zu viel Aufmerksamkeit schenken wolltest. Da wirst du erzählerisch inkonsequent.
ja - da hast Du ganz recht. Es ist mir richtig unheimlich geworden, als die Geschichte länger wie 3 der 4 Seiten wurde. Dadurch entstanden dann diese unausgearbeiteten, berichtenden Stellen... :shy: Du hast da auf jeden Fall recht. Aber ich möchte sie eigentlich nciht kürzen, denke eher daran, sie auszubauen, und Marco und auch Simon etwas mehr Leben einzuhauchen. Hoffentlich finde ich am Wochenende die Zeit dazu...

"(ich kann es mir nicht verkneifen, nach alkita jetzt also das blaue Häferl?) *ggg*" - :lol:
also...das blaue Häferl gibts schon seit einigen Wochen bei mir am Pc. Häferl ist auch bei uns in Bayern einfach gebräuchlich, blau ist Zufall.

Hallo Dion!

Danke auch für Deine Kritik: :)

Das heißt, du könntest kürzen, ohne dass die Geschichte dadurch etwas verlöre. Du erklärst oft zu viel, zum Beispiel könntest du diese Absätze komplett streichen
- ja, das könnte ich sicher. Grad bei den ersten Stellen, die Du angeführt hast, ginge von der Handlung nichts verloren...ich weiß dennoch nicht, ob ich mich davon trennen will. Bei den letzten beiden Stellen (also der Diagnose Parkinson und Marco) will ich aber auf keinen Fall streichen. Die Diagnose Parkinson ist einer der Kernpunkte der Geschichte, das kann ich nicht einfach kürzen?! :susp:
Und Marco würde ich wie oben bereits erwähnt, lieber als Nebencharakter ausbauen, als ihn zu streichen.
Dennoch vielen Dank für Deine Anregungen.

Hallo Lord!

Danke fürs lesen und melden udn Dein Lob. :)

Fehler und Details sind ausgebessert.

liebe Grüße an Euch drei!
Anne

 

Bei den letzten beiden Stellen (also der Diagnose Parkinson und Marco) will ich aber auf keinen Fall streichen. Die Diagnose Parkinson ist einer der Kernpunkte der Geschichte, das kann ich nicht einfach kürzen?!
Und Marco würde ich wie oben bereits erwähnt, lieber als Nebencharakter ausbauen, als ihn zu streichen.
Selbst wenn du Diagnoseszene streichst, Anne, bleiben noch mindestens 3 Stellen, wo darüber berichtet oder gesprochen wird – ich jedenfalls bevorzuge den indirekten Weg, wenn der Name Parkinson fällt, dann ist eh klar, dass jemand diese Diagnose gestellt haben muss.

Und wenn du Marko weiter ausbaust, dann wird die Hauptfigur darunter leiden, so ist es doch immer, oder?

Ich verstehe auch, dass du dich nicht so ohne weiteres von Teilen deines Textes trennen willst, aber hast du nicht selbst gesagt, dir wärst erschrocken über den Umfang der Geschichte?

Streichen schmerzt immer, aber es ist notwendig. Immer. Damit die Geschichte an Dichte gewinnt. Denn davon kommt das Wort Dichter. Oder Dichterin. Vielleicht.

Nichts für ungut.

Dion

 

Liebe Anne!

Der Schrecken langer Geschichten ging mir bei deiner Erzählung verloren. Ich habe sie gerne gemocht. Sie erzählt von einer Frau, die ihrer eigenen Veränderung, ja sogar ihrem eigenen Verfall ins Gesicht sehen muss. Einerseits im wahrsten Sinn des Wortes durch das Hinschauen auf ihre Portraits, zum anderen weil sie mit aller Kraft und allem Willen die eigenen Muskeln nicht mehr befehligen kann.

Es war interessant die klinischen Zusammenhänge beleuchtet zu finden und auch die Nöte des Arztes zu erfahren. Ihr Hinwenden zu dem Tier das keiner will weil es nicht "ganz" ist, findet sich wieder in dem Hinwenden des Zivis zu der Frau.

Schön fand ich allem voran die Passage mit dem Instrument des verstorbenen Mannes, welches sie zwar in lieben Händen wissen will, andererseits denen ihres Mannes vorbehalten möchte. Das war schon sehr berührend ohne auch nur ansatzweise kitschig zu sein. Einfach schön.

Mit der weißen Katze hast du den, dir ja eigenen, gütigen und liebevollen Schlusspunkt gesetzt. Man fühlt die Ehrlichkeit in den Zeilen.

Lieben Gruß an dich und eine schöne Zeit - herzlichst Eva.

 

Hallo Dion!

Danke fürs nochmal melden.

Und wenn du Marko weiter ausbaust, dann wird die Hauptfigur darunter leiden, so ist es doch immer, oder?
Ich verstehe auch, dass du dich nicht so ohne weiteres von Teilen deines Textes trennen willst, aber hast du nicht selbst gesagt, dir wärst erschrocken über den Umfang der Geschichte?
Streichen schmerzt immer, aber es ist notwendig. Immer. Damit die Geschichte an Dichte gewinnt. Denn davon kommt das Wort Dichter. Oder Dichterin. Vielleicht.
also... ich hoffe, dass Lene evtl sogar plastischwer wird, wenn sie einen Bezugscharakter erhält. Ihn ganz wegzukürzen, würde die Geschichte (meiner Meinung nach) eindimensional machen.
Ich war erschrocken, weil sich bis jetzt alle meine Geschichten in wesentlich geringerem Rahmen bewegten. Quasie vor mir selbst. Aber diese Geschichte braucht mehr Raum.
Streichen kannverdichten- da gebe cih Dir vollkommen recht. Mag auch sein, dass das bei dieser Geschichte der Fall wäre. Aber ich selbst sehe es (zumindest momentan noch) anders. Nicht jede kurze Geschichte ist gut, nicht jede lange schlecht.
Und nein - nichts für ungut. Auch wenn ich einen anderen Standpunkt habe. Danke. :)

Liebe schnee.eule!

Danke für Deinen warmen und feinfühligen Komemntar. Wenn Du mir etwas schreibst, fühlt es sich immer richtig an. Du hast dabei auch einige der Stellen herausgegriffen (vor allem auch das Ende) die mir persönlich sehr wichtig sind.

Liebe Grüße
Anne

 

Hallo Maus,

ich hab erstmal nur den ersten Absatz gelesen und mich vor allem auf die Sprache gestürzt.

Zuerst zu dem kleinen Knalleffekt am Anfang: Das Häferl zersplittert, Tee spritzt auf den Tisch. Lene steht also, und hat die Tasse auf den Tisch fallen lassen. Das sind bei einem normalen Esstisch maximal 30 Zentimeter Höhe - zerspringt da die Tasse wirklich gleich in tausend Teile? Oder ist es ein Glastischchen, wie man sie vor das Sofa stellt?

"auf den Tisch, den Boden, den Teppich":
Hier benutzt du recht abstrakte Wörter, finde ich. Grüntee ist konkret, aber Tisch, Boden, Teppich? Ein Text wird doch umso anschaulicher, je konkreter man schreibt, oder? Ist es ein Esstisch, ein runder Flickerlteppich auf Parkett? Ich glaube, der Leser stellt sich die Szene plastisch vor, wenn man ihm ein paar Anhaltspunkte gibt.

"Erschrocken blickte Lene auf die Scherben"
Blickte? Aussagekräftigere Wörter, die das Sehen bezeichnen sind zum Beispiel: starrte, stierte, glotzte, linste. Das vermeidet Adjektive, die den Text langsamer machen, bringt aber Farbe rein.

"Friedel stand langsam von seinem Platz am Kachelofen auf, streckte sich und trottete auf Lene zu. Die alte Dame kraulte das Fell des Hundes."
Die Bewegung des Hundes ist gut getroffen, ich kann fast sehen, wie er sich genüsslich streckt und herübertrottet. Trottet ist viel besser als ging! Allerdings muss ich den zweiten Satz lesen, bevor ich den ersten verstehe. Ich war verwirrt: Wer ist nun der Hund? Wenn du geschrieben hättest: "Friedel hob die Schnauze, streckte sich und trottete auf Lene zu" hätte ich es gleich kapiert, und du hättest das erklärende Wort Hund gar nicht benutzen müssen.

Soviel für heute. Verzeih mir die Erbsenzählerei. Mir ist momentan die Anschaulichkeit von Texten besonders wichtig... Vielleicht bringen dir meine Gedanken ja was.

Grüße,
dein Stefan

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo Anne,

Ich mag traurige Geschichten, so wie diese.
Deine Geschichte liest sich flüssig, ein angenehmer Sprachstil, schöne Schilderungen, und der Aufbau ist ebenfalls stimmig.
Besonders traurig empfand ich die Stelle, als der arme Friedel unter das Auto kommt - ein Unfall, so wie damals bei Simon (aber das muss ja leider so passieren, sonst käme Lene nicht ins Heim, und der Plot würde anders verlaufen).

Die Idee, Marco als Bezugscharakter einzuführen, ist gar nicht schlecht. Und wenn du, wie angekündigt, deine Erzählung noch ausbauen willst, habe ich noch ein paar Vorschläge:
Ich fand es ein wenig schade, dass Marco auf 'nimmerwiedersehen' verschwindet (und später, im Text, wird er auch nicht mehr erwähnt).
Sicher sind 'Tod' und 'Verlassenwerden' Hauptthemen deiner Geschichte, aber wenn Marco eine Art Beziehung zu Lene gefunden hat, könnte man vielleicht erwarten, dass er sie später mal im Wohnheim besucht, oder ihr einen Brief schreibt.
Das anzudeuten wäre ein Kontrapunkt, eine Hoffnung, die sich gegen das ständige Verlassenwerden richtet.
Mithilfe von Marco könnte auch Simon plastischer gezeichnet werden: Lene könnte die beiden Männer miteinander vergleichen, vielleicht findet sie Gemeinsamkeiten? Oder Widersprüche? Vielleicht ruft Marco Erinnerungen an Simon in ihr wach? Vielleicht entwickeln sie, auf einer anderen Ebene, ähnliche Beziehungsmuster? Oder Rituale?
Ich finde das Thema jedenfalls spannend! (Das würde auch weitere Parallelen und Episoden-Verknüpfungen im Plot ermöglichen...)

Obwohl die Geschichte traurig ist, hat sie etwas Tröstliches: denn Tiere können einem viel geben, wenn man einsam ist.
Ich denke, es ist dir gelungen, das in einer liebevollen Geschichte zu vemitteln...
Auch der Schluss gefällt mir: schön, zärtlich, hoffungsvoll.


Lieben Gruß,
Wolf

Zwei Fehlerchen noch:

Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt (hatte) schließlich ein ernstes Gesicht gemacht.
Friedel jedoch war in Erwartung des Parks, freute sich auf die Gerüche der Hundedamen und der Hasen.

 

Hallo Stefan!

Danke fürs Zerfiesen dieser ersten Sätze. So viel Mühe wegen drei Sätzen... :shy:

"auf den Tisch, den Boden, den Teppich":
Hier benutzt du recht abstrakte Wörter, finde ich. Grüntee ist konkret, aber Tisch, Boden, Teppich? Ein Text wird doch umso anschaulicher, je konkreter man schreibt, oder? Ist es ein Esstisch, ein runder Flickerlteppich auf Parkett? Ich glaube, der Leser stellt sich die Szene plastisch vor, wenn man ihm ein paar Anhaltspunkte gibt.
- ich empfinde Boden, Tisch, Teppich eigentlich nciht als abstrakt....

als allgemein, beliebig, ja. Aber abstrakt? auf jeden Fall: Du hast teilweise recht, meiner Meinung nach. Klar wird es anschaulicher, wenn ich genau beschreibe, differenziere und spezifiziere. Aber ich weiß nciht, ob das in jedem Fall gut ist. Denn es schränkt doch die Fantasie des Lesers erheblich ein. Wenn dem Leser das alles so konkret vorgegeben ist, hat er selbst keine Möglichkeit mehr für eigene Gedanken, wird komplett passiv beim Lesen. Ich weiß nicht, ob ich das will... ich selbst mag Texte, wo meine Leserfantasie einbezogen wird, eigentlich lieber, vor allem, wenn es scih um so eigentlich ja unwichtige Details handelt.

Die Bewegung des Hundes ist gut getroffen, ich kann fast sehen, wie er sich genüsslich streckt und herübertrottet. Trottet ist viel besser als ging! Allerdings muss ich den zweiten Satz lesen, bevor ich den ersten verstehe. Ich war verwirrt: Wer ist nun der Hund? Wenn du geschrieben hättest: "Friedel hob die Schnauze, streckte sich und trottete auf Lene zu" hätte ich es gleich kapiert, und du hättest das erklärende Wort Hund gar nicht benutzen müssen.
hier hast Du absolut recht, das gefällt mir selbst auch. Werde ich beim überarbeiten sicher ändern.

Erbsenzählerei: ich bin mit Dir zwar nicht einer Meinung, was die Anschaulichkeit angeht. Aber Dein Kommentar hat mich nachdenken lassen udn überlegen, warum ich einen anderen Standpunkt einnehmen. Danke für die Genauigkeit und Deine Hinweise!

Hallo Wolf!

Danke für Deinen Komentar, es freut mich, wenn Dir der Text gefallen hat. :)

Ich fand es ein wenig schade, dass Marco auf 'nimmerwiedersehen' verschwindet ... aber wenn Marco eine Art Beziehung zu Lene gefunden hat, könnte man vielleicht erwarten, dass er sie später mal im Wohnheim besucht, oder ihr einen Brief schreibt.
Das anzudeuten wäre ein Kontrapunkt, eine Hoffnung, die sich gegen das ständige Verlassenwerden richtet.
Mithilfe von Marco könnte auch Simon plastischer gezeichnet werden...
- Ich werde auf jeden Fall an Deine Ideen denken. Ob ich Marco an anderer Stelle nochmal auftauchen lasse, denke ich eher nicht, da ich dann die Szene im Wohnheim doch sehr ausbauen müsste, um einen Brief von ihm oder einen Besuch unterzubringen, und diese Szene wollte ich als Schlusspunkt eigentlich sehr kurz halten. Parallen zwischen Maro und Simon wären evtl schon spannend. Werde sehen, was mir so aus den Fingern fließt.

Danke Euch beiden und schöne Grüße
Anne

 

Hey Anne!

Mir persönlich hat deine Geschichte gefallen. Sicher könnte man theoretisch gesehen kürzen, aber ich stimme dir zu. Der Ausbau von Marco wird deine Geschichte mit Sicherheit positiv prägen.

Trotz der Länge der Geschichte hast du meine Erwartungen an das Ende nicht erfüllt, muss ich dir jetzt mal sagen. Und zwar: nachdem Friedel gestorben ist (und eigentlich auch schon vorher), hatte ich erwartet, dass die Geschichte mit dem Tod von Lene endet (wahrscheinlich auch alte Frau, unheilbare Krankheit => Tod). Auf jeden Fall hab ich die ganze Zeit den Tod Lenes erwartet und dann lässt du die im Altersheim, eine Katze kraulend, enden. Naja, irgendwie hätte ich nichts anderes erwarten dürfen ;)

Sprachlich gesehen find ich deine Geschichte auch gelungen. Der einzige Fehler, den ich ausfindig machen konnte, wurde hier schon gemeldet :heul: :D

Liebe Grüße
Jasmin

 

Hallo Ally!

Danke fürs Kommentar, hat mich gefreut, natürlich auch die positive Bemerkung.

Trotz der Länge der Geschichte hast du meine Erwartungen an das Ende nicht erfüllt, muss ich dir jetzt mal sagen. Und zwar: nachdem Friedel gestorben ist (und eigentlich auch schon vorher), hatte ich erwartet, dass die Geschichte mit dem Tod von Lene endet (wahrscheinlich auch alte Frau, unheilbare Krankheit => Tod). Auf jeden Fall hab ich die ganze Zeit den Tod Lenes erwartet und dann lässt du die im Altersheim, eine Katze kraulend, enden. Naja, irgendwie hätte ich nichts anderes erwarten dürfen
- ich kann meine Protagonisten doch nicht immer umbringen. ;)

Danke, und schöne Grüße
Anne

 

Die vertrackte Syntax und die berichtende, distanzierte Sprache sind mir im ersten Drittel der Story zwar eher negativ aufgefallen, aber das ist wohl auch meiner Erwartung geschuldet. Legt doch der Beginn einen Plot wie in "Krähen im Nebel" nahe, und gemessen an dem poetischen Ton, den du dort anschlägst, ist dein Sprachregister hier doch begrenzt. Deine Sprache will den Augenblick detailliert (regelrecht "krampfhaft") festhalten, schafft es aber in ihrer Unanschaulichkeit nicht. Ungelogen harmoniert das ganz gut mit der Parkinson-Symptomatik, dem Maskenhaften, der gestörten, verlangsamten (Fein)-motorik. Die Form ergänzt somit den Inhalt und ist somit richtig gewählt; nichtsdestotrotz - ein Schonwaschgang für das Nervenkostüm des Lesers ist das nicht.
Gut gefallen hat mir der Ansatz mit der "positiv formulierten Diskriminierung". Das hättest du vielleicht noch weiter ausbauen können, insbesondere unter dem Aspekt der Selbstaufgabe für andere (Simon, Friedel, Marco, Katze) und dem Perfektionismus der Protagonistin. Wie kommt es zu dieser Gemütslage? Dazu hätte ich mir mehr gewünscht, vor allem zu dem konfliktträchtigen Widerspruch zwischen der Zuneigung zu den eher positiv besetzten Charateren und derselbigen zu dem eher "inperfekten" Friedel. Das hätte sich auch vielleicht anhand der "perfekten Spiegelung" des Weihers im Park (cool auch das mit den Schwänen, die "nicht mit dir" spielen wollen!) und an den beiden Portraits (jung/alt) noch stärker herausarbeiten lassen.
Ein wenig unklar bleibt für mich, ob die Anschaffung Friedels chronologisch vor oder nach dem Tod Simons einzuordnen ist. Ich nehme an: vorher. Dann aber kann ich die depressive Motivation "einen Hund, der zu mir passt," nicht ganz nachvollziehen. Denn das Erleben der eigenen Unvollkommenheit und die damit gepaarte Flucht vor dem "Vollkommneren" (Nachbarn z. B. ) und der Angst vor sich selbst setzt ja erst später ein.
Das Ende krankt ein bisschen an dem "deus ex machina" (Katze), stimmt aber irgendwie doch hoffnungsvoll. Die Protagonistin hat im weitesten Sinne zu sich zurück gefunden. Die Krankheit hat Besitz von ihr und ihrer Umwelt ergriffen, weitet sich regelrecht über das starre weiße Betttuch und die grauweiße (gewissermaßen aschfahle) Katze aus. Die Hoffnung liegt in der Akzeptanz des SChicksals.
Vielleicht noch mal ein bisschen überarbeiten, ansonsten aber eine berührende Geschichte. Anderenfalls hätte ich mich auch nicht dazu geäußert;-)

 

Hallo Maus,

viel weiter bin ich mit deiner Geschichte immer noch nicht, aber mir ist was aufgefallen:

"Krähen saßen auf den kahlen Bäumen und beäugten die zierliche Frau, die die Leine straff um den angewinkelten Arm gewickelt hatte, mit ihrem seltsamen Hund."

Der Anfang ist personal aus Lenes Sicht geschrieben, aber hier wechselst du die Perspektive. Auf einmal sieht man die Frau von außen, aus der Sicht der Krähen. (Andererseits, würden die sehen, dass die Leine STRAFF um ihren Arm gewickelt ist?) Ist der Perspektivwechsel beabsichtigt?

Grüße,
Stefan

 

Hey luckyblue!

Ich weiß garnicht recht, was ich Dir antworten soll. Es ist ein ganz anderer Text, mit ganz anderen Absichten als die Krähen, ja, auch stilistisch. Ich wollte hier nicht diesen poetischen, etwas geheimnisvollen Grundklang, der hätte zum Text als Gesamtes wohl auch nicht gepasst.

Deine Sprache will den Augenblick detailliert (regelrecht "krampfhaft") festhalten, schafft es aber in ihrer Unanschaulichkeit nicht. Ungelogen harmoniert das ganz gut mit der Parkinson-Symptomatik, dem Maskenhaften, der gestörten, verlangsamten (Fein)-motorik. Die Form ergänzt somit den Inhalt und ist somit richtig gewählt; nichtsdestotrotz - ein Schonwaschgang für das Nervenkostüm des Lesers ist das nicht.
– leixoletti bemängelt, dass ich nicht detaillierter und anschaulicher beschrieben habe, du empfindest die vielen Details hier als krampfhaft. Ich stehe in der Mitte und bin Momentan mit den Details, so wie sie sind, eigentlich ganz zufrieden … :shy: Dass die Verkrampfung, die Du zu spüren glaubst, mit Parkinson harmoniert ist nicht grade ein Kompliment. :lol:
Gut gefallen hat mir der Ansatz mit der "positiv formulierten Diskriminierung". Das hättest du vielleicht noch weiter ausbauen können, insbesondere unter dem Aspekt der Selbstaufgabe für andere (Simon, Friedel, Marco, Katze) und dem Perfektionismus der Protagonistin.
– das verstehe ich nicht ganz. Inwiefern gibt sie sich selbst für Simon, Friedel, Marco und die Katze auf? Sie bringt für keinen der genannten Opfer auf Kosten von sich.
zwischen der Zuneigung zu den eher positiv besetzten Charateren und derselbigen zu dem eher "inperfekten" Friedel. Das hätte sich auch vielleicht anhand der "perfekten Spiegelung" des Weihers im Park (cool auch das mit den Schwänen, die "nicht mit dir" spielen wollen!)
– dieser Gegensatz von der perfekten Spiegelung zum inperfekten (wie du schreibst) Friedel habe ich nicht gesehen und nicht gemeint. Auch dieses „nicht mit dir“ ist in keinem Fall auf Friedels Behinderung gemeint. Hätte er alle vier Beine, würde Lene ihn dennoch nicht die Enten erschrecken lassen.
Ein wenig unklar bleibt für mich, ob die Anschaffung Friedels chronologisch vor oder nach dem Tod Simons einzuordnen ist
– danach.
Das Ende krankt ein bisschen an dem "deus ex machina" (Katze), stimmt aber irgendwie doch hoffnungsvoll. Die Protagonistin hat im weitesten Sinne zu sich zurück gefunden. Die Krankheit hat Besitz von ihr und ihrer Umwelt ergriffen, weitet sich regelrecht über das starre weiße Betttuch und die grauweiße (gewissermaßen aschfahle) Katze aus. Die Hoffnung liegt in der Akzeptanz des Schicksals.
– die Katze als Gott aus der Maschine? :shy: dass die Katze grauweiß ist, hatte für mich selbst keine Symbolik.Wäre sie schwarz, hättest Du den Tod darin gefunden.
Danke für all die Mühe und Interpretation, die Du in den text gesteckt hast. Allerdings ist vieles, dem Du eine Symbolträchtige Beziehung zugewiesen hast, von mir eher absichtslos und beschreibend in den Text eingeflossen, tut mir leid. Ich habe mich beim Lesen Deiner Kritik gewundert und gefreut, dass jemand da so vieles herauslesen kann, aber beabsichtigt war das nicht.
Hallo Stefan!
Ja, da hast Du recht, die Perspektive ändert sich….das passiert auch weiter unten noch einige Male. Ich selbst empfinde es als legitim, da anfangs nur Lene da ist, mit dem Erscheinen von anderen Lebewesen (hier allwissender Erzähler, weiter unten Arzt, Marco etc) auch andere Sichtweisen eingebracht werden. Hat Dich dieser Wechsel gestört?

Schöne Grüße an Euch beide und vielen Dank für die Mühe
Anne

 

Inwiefern gibt sie sich selbst für Simon, Friedel, Marco und die Katze auf?
Insofern, als dass sie ihnen zu helfen versucht, Hilfe für sich aber nicht annehmen will.

 

sorry, ich versteh dich wohl falsch... inwiefern versucht sie, Simon, Marco und der Katze zu helfen? Ist es nicht umgekehrt, dass Marco und die Katze ihr helfen? Und beruht die Hilfe (nicht Mitleid,zumindest von mir nicht angedacht), bei Friedel, nicht auf Gegenseitigkeit?
Ich sehe keiner dieser Beziehungen als einseitig. Kannst Du mir Stellen nennen, die verdeutlichen, was Du meinst?

Danke für Deine Mühe!

schöne Grüße
Anne

 

Hallo Maus,

in deiner Antwort auf dion schreibst du:
Nicht jede kurze Geschichte ist gut, nicht jede lange schlecht.

Da hast du sicher recht. Auf die Frage, wie er seine Skulpturen macht, hat aber einmal ein Bildhauer gesagt: Ich haue alles weg, was nicht die Skulptur ist.

So muss man es m.E. mit Geschichten auch machen. Bei meinen eigenen Texten komme ich oft erst ganz allmählich drauf, worum es mir eigentlich geht. Vielleicht geht dir das auch so?

In deiner Geschichte streifst du viele Themen:
- Parkinson
- Alt werden
- Geliebte Menschen verlieren
- Tiere als Ersatz für Menschen
- Umgang mit Behinderung

Dein Titel weist auf Parkinson als Hauptthema hin (Maske), der Anfang auch (runtergefallene Tasse). Trotzdem glaube ich, das Hauptthema ist die Einsamkeit eines alten Menschen. Der Tod Simons, der Tod Friedels, der positive Schluss mit der Katze sind die entscheidende Ereignisse. Ich will damit sagen: Du solltest Nebenthemen kürzen (die vielleicht gut sind, aber in eine andere Geschichte gehören) und längen, worauf es dir ankommt.

Das könnte auch die Antwort sein auf die Frage, wie du mit Details umgehen solltest. (auf luckyblue: "leixoletti bemängelt, dass ich nicht anschaulicher beschrieben habe, du empfindest die vielen Details als krampfhaft")

Symbole, Räume, Details
Beispiel: "die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der stillen Seeoberfläche" So ein Detail ist sicher schön. Aber Landschaft dient in einer Geschichte immer nur der Spiegelung von Stimmungen, oder? Weiden bedeuten Trauer oder Tod (wie die Krähen und der Winter), die stille Seeoberfläche vielleicht eine Art Abgeklärtheit des Geistes, Schwäne stehen für Schönheit, Eis für Erstarrung. Auch wenn du - an luckyblue, in Bezug auf die Katzenfarbe - schreibst, du hättest keine Symbole gewollt. Mit all diesen Gegenständen löst du als Autorin Assoziationen aus. Das kann und sollte man nutzen. Dasselbe gilt vielleicht auch für Tisch, Boden und Teppich: Du könntest Lenes Wohnzimmer benutzen, um sie zu charakterisieren: Der Raum als Spiegelbild für einen Protagonisten. Nur insofern ist es wichtig, wie das Zimmer aussieht. Wenn du diese Chance auslassen willst, kannst du Lene mit der Landschaft draußen charakterisieren, und das Zimmer weglassen (zittern kann man auch draußen).

Alles weghauen, was nicht die Geschichte ist. Sagt sich so einfach, aber ich glaube, das ist auch mein Hauptproblem...

Grüße,
dein Stefan

 

„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt
Nach dem Tod ihres Mannes fühlt sich die Protagonistin alt und verliert offensichtlichen den Lebensmut. Das kann, muss aber nicht nur auf ihre Trauer im allgemeinen zurückgeführt werden. Die Deprivatisiertheit ("Und jetzt gab es nur noch Friedel [...] Lene ... mied den Kontakt.") erhärtet eher den Verdacht, dass Simon ihr Lebensmittelpunkt war, dem sie sich kompromisslos gewidmet hat und der quasi als eine Art Jungbrunnen auf sie gewirkt hat. Die Lücke, die Simons TOd hinterlässt, vermag sie nicht zu füllen, sie resigniert. Der TOd des Mannes läutet auch das Ende der Protagonistin ein, das sie zwar zunächst verleugnen will, gegen das sie aber auch nicht wirklich rebelliert; insofern Selbstaufgabe.

Selbstaufgabe zugunsten anderer - natürlich sind die Beziehungen nicht einseitig, natürlich profitiert auch Lene von ihnen. Auffallend ist aber, dass sie alle von einer Portion Gluckenhaftigkeit geprägt sind. Zu Beziehungen, in denen Lene dieses Bedürfnis nicht befriedigen kann (z. B. Nachbarn), ist sie offensichtlich nicht fähig bzw. nicht bereit. Insofern verweigert sie also Hilfe von außen. Ihr Verhalten, die Probleme anderer lösen zu wollen und die eigenen zu verdrängen, mündet dabei ein in eine Art selffulfilling prophecy und verfestigt den Eindruck, dass sie mit ihrem Leben abgeschlossen hat.

Beispiele für die "Gluckenhaftigkeit":

"Friedel kann nicht allein zuhause bleiben.“
[...] „Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“
sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte hatte. Positiv formulierte Diskriminierung, dachte sie.
Sie bemerkte das Blut, das ihr das Bein hinunter lief, nicht. „Mir ist nichts passiert, kein Arzt" [...] ihm fehlt das linke Vorderbein …“
Dort hatte immer das Cello gestanden. [...] Sie hatte es Marco geschenkt
Sie streichelte mit zittrigen Bewegungen die Katze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte

Noch was anderes:
leixoletti bemängelt, dass ich nicht detaillierter und anschaulicher beschrieben habe, du empfindest die vielen Details hier als krampfhaft.
Eigentlich meinen wir wohl dasselbe. Leixoletti versteht unter "konkret" und "anschaulich" wohl eher differenziert als detailliert. Die Wiedergabe undifferenzierter Details (also viele Einzelheiten, aber wenig typisierende) konterkariert szenisches Erleben und beeinträchtigt somit die Anschaulichkeit. Die mangelnde Anschaulichkeit trotz Detailreichtum wirkt dann irgendwie "krampfig". Aber ich betone noch mal, das ich das unter Berücksichtigung des Inhalts hier gar nicht so negativ empfinde.

Und noch was: Du beschreibst einmal die tiefen Falten in Lenes Gesicht. Ich finde, das widerspricht sich mit der maskenhaften Physiognomie eines Parkinson-Patienten. Falten weisen auch immer auf eine aktive Mimik hin, da sie quer zur Verlaufsrichtung der Gesichtsmuskeln aufgeworfen werden. Das Maskenhafte resultiert dagegen gerade aus einer glatten Ausdruckslosigkeit infolge inaktiver mimischer Muskeln. Angesichts der Ausdruckslosigkeit ist auch der Satz "Ihr Gesicht war starr" (bei Friedels Tod) eigentlich überflüssig.

 

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom