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Lene, hinter der Maske
Lene
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Das blaue Häferl zersplitterte in tausend Teile. Grüntee spritzte auf den Tisch, den Boden, den Teppich. Erschrocken blickte Lene auf die Scherben. Friedel stand langsam von seinem Platz am Kachelofen auf, streckte sich und trottete auf Lene zu. Die alte Dame kraulte das Fell des Hundes.
„Lass uns spazieren gehen … ich muss an die frische Luft.“, sagte sie leise und wandte sich von den Scherben ab. Das Häferl hat mir Simon vor über sechs Jahren gekauft, auf dem kleinen Töpfermarkt … Sie verlor sich in der Erinnerung.
Friedel stupste ihren Arm. Sie bemühte sich, die Knöpfe an ihrem Mantel zu schließen. Die Hände zitterten, dass es die reinste Geduldsprobe war.
Der Mischling ließ sich brav anleinen und die beiden gingen los. Im Schnee bockte Friedel wie eine junge Ziege und hoppelte schräg neben Lene her, obwohl er nur noch drei Beine hatte. Ungestüm und übermütig freute er sich über den Schnee. Sie genoss die kalte, klare Luft und das Knirschen unter ihren Stiefeln. Sie ließen die Straße bald hinter sich und bogen in einen kleinen Feldweg ab. Krähen saßen auf den kahlen Bäumen und beäugten die zierliche Frau, die die Leine straff um den angewinkelten Arm gewickelt hatte, mit ihrem seltsamen Hund.
Als sie an den kleinen See kamen, schwamm eine ganze Flotte von Enten und Blesshühnern in der Erwartung von altem Brot auf sie zu. Im Kielwasser zerstörten sie die perfekte Spiegelung der alten Weiden auf der stillen Seeoberfläche. Aber Lene hatte in ihrem Aufbruch nicht an die Vögel gedacht. Friedel zog an der Leine und wedelte mit dem Schwanz. Als zwei Schwäne auftauchten, fing er an zu bellen.
„Friedel, die wollen nicht mit dir spielen … komm, lass uns weitergehen.“
Am Ufer des Sees hatte sich bereits eine dünne Eisschicht gebildet, die in der Sonne glitzerte. Einige der Enten versuchten, die Böschung hinauf zu klettern. Sie waren völlig unbeeindruckt von dem Hund, der mittlerweile ein ziemliches Theater veranstaltete. Lene hatte Schwierigkeiten, ihn zurückzuhalten. Zwar war Friedel schon fast dreizehn Jahre, aber in dem Moment sah man ihm dieses Alter überhaupt nicht an, und mit seiner Behinderung kam er prima klar.
*
Sie erinnerte sich genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte, in einem kleinen Zwinger im Tierheim.
„Ich möchte einen älteren Hund, einen, der zu mir passt“, hatte sie der Leiterin des Tierheims erklärt, als diese ihr von einem ganzen Wurf junger Hunde erzählt hatte, die sie vor einigen Tagen erst in einem Karton vor der Tür gefunden hatte. Daraufhin waren sie in den hinteren Bereich der Abteilung gegangen, wo Dackel und Boxer und Pudel und Retriever und Mischlinge aller Arten und Größen in den Zwingern saßen und sie mit großen Augen musterten. Viele kamen zu den Türen und bellten, wedelten hoffnungsvoll mit dem Schwanz und schoben ihre Nasen durchs Gitter. Und in einem der Zwinger: Friedel. Er lag in einer Ecke und blickte kaum auf, als sie an seiner Tür vorbeigingen.
„Was ist mit ihm?“, hatte Lene gefragt.
„Das ist der Friedel“, hatte die Leiterin geantwortet. „Er ist bei uns, seit er etwa ein halbes Jahr alt ist. Gehört schon fast zum Inventar ... Er hat nur noch drei Beine. Ein Bein musste amputiert werden. Er wurde von seinen Vorbesitzern halb tot geprügelt … niemand will ein behindertes Tier.“
Aber als Lene Friedels Augen sah, sein müdes Schwanzwedeln am Boden, wusste sie, welchen Hund sie mitnehmen würde.
Und mit jedem Tag, den Friedel bei ihr war, blühte er mehr auf. Zunächst war er ängstlich und lethargisch, aber schon nach einigen Tagen begann er, seinen Charme und sein Temperament auszuspielen. Nur die Nachbarskatzen, die früher öfter zu Lene gekommen waren, waren anfangs misstrauisch. Doch der Hund war aus dem Tierheim so an Katzen und Kleintiere gewohnt, dass es ihm nicht eingefallen wäre, Jagd auf sie zu machen. Zudem hätte er vermutlich nicht die besten Chancen gehabt, die beiden geschmeidigen Kater zu fangen. Mittlerweile hatten sich Abraxas und Jeremias an ihn gewöhnt, und es kam oft vor, dass sie sich schnurrend an den Bauch des Hundes kuschelten um zu schlafen.
Nach dem Tod von Simon war Lene aus ihrer Trauer nicht mehr herausgekommen. Sie hatte sogar aufgehört zu malen, vor Erinnerungen und Kummer und Einsamkeit. Auch ihr tat die Anwesenheit des ruhigen, freundlichen Hundes gut.
*
Als sie um den See herumgingen, auf dem Wasserweg von Entengeschnatter begleitet, fiel die Anspannung langsam von ihr ab.
Die Zweige der Weiden hingen ins Wasser. Kleine Eisklumpen bildeten einen Kranz um die Stelle, wo sie eintauchten.
Zuhause nahm Lene einen Lappen, wischte den verspritzen Tee auf und klaubte die Scherben vom Boden. Sie zwang sich, nicht an Simon zu denken, als sie die blauen Tonsplitter in Händen hielt. Der Anruf, der zerschmetterte Wagen, das Begräbnis … nein. Nicht daran denken.
*
Es hatte lange gedauert, bis sie wieder anfangen konnte, zu malen. Zu sehr hatte dieses tote Gefühl in ihrer Seele gelegen, als dass sie Rötel oder Pinsel hätte anfassen können. Erst Monate später hatte sie wieder einen Auftrag für ein Portrait angenommen, und als sie zum ersten Mal nach so langer Zeit wieder eine Skizze gefertigt hatte, war es eine richtige Befreiung gewesen. Als ob die ganze Trauer und Sehnsucht aus ihren Fingern ins Bild flössen.
Und langsam kam sie mit ihrem neuen Leben zurecht. Simon fehlte ihr immer noch in so vielem. Er war wie ein Schatten, der sie und das Haus, alle Dinge und Erinnerungen umgab. Aber die lähmende Ohnmacht hatte Lene abgestreift. Friedel hatte ihr viel geholfen, denn als sie die Verantwortung für ihn übernommen hatte, konnte sie nicht mehr den ganzen Tag nur herumsitzen.
Doch es gab etwas, das ihr Sorgen machte. Seit einigen Monaten spürte sie es. Zuerst war es kaum wahrnehmbar gewesen, beziehungsweise: sie hatte es ignorieren können. Das ging jetzt nicht mehr. Sie betrachtete mehrere Skizzen. Egal, ob Bleistift oder Kreide: die feinen Linien waren verwackelt und unsauber.
Kleinigkeiten fielen ihr schwer in letzter Zeit, sie verlor die Geduld. Wenn sie etwas schreiben wollte, erkannte sie ihre eigene Schrift fast nicht mehr, sie war klein und verwischt. Ein Reißverschluss konnte sie zur Weißglut treiben, wenn sie ihn kaum aufbekam. Die Tür aufsperren, Gemüse schneiden oder ganz einfach auf die Toilette gehen konnte zum Alptraum werden.
Zunächst hatte sie es auf einen nervösen oder tollpatschigen Tag geschoben oder auf den Kaffee am Morgen.
Langsam hatte sie begriffen, dass es nicht besser wurde, obwohl sie nur noch Tee trank.
*
Nach langwierigen Untersuchungen hatte der Arzt schließlich ein ernstes Gesicht gemacht.
„Frau Ammer … das Gutachten von der Klinik ist da. Es tut mir Leid, ihnen das mitteilen zu müssen … aber … sie haben Parkinson. Und wir haben es leider erst recht spät festgestellt …“
Den Verdacht hatte er schon Wochen zuvor geäußert, als sie ihm von ihrem unwillkürlichen Zittern und den Problemen beim Schreiben erzählt hatte. Auch die Gelenk- und Muskelschmerzen, die sie seit einiger Zeit spürte, hatte er darauf zurückgeführt. Oft fühlte sie sich ganz steif, konnte sich kaum zu den Spaziergängen mit Friedel aufraffen, obwohl sie frische Luft und die Bewegung immer geliebt hatte.
Lene betrachtet die beiden Selbstportraits, die in ihrem Wohnzimmer hingen. Eins davon war mit Rötel gezeichnet und hing schon ein Vierteljahrhundert an dieser Stelle. Ihr Gesicht wirkte drauf fast jugendlich, ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Das andere war erst vor ein paar Jahren entstanden und zeigte ein ernstes Gesicht mit vielen Falten auf Stirn und Wangen ... Nie wieder würde sie so zeichnen.
Die meisten der letzten Entwürfe hatte sie irgendwann aus Zorn und Hilflosigkeit zerrissen. Und sie spürte auch, wie sie selbst sich zu verändern begann. Nicht nur das Zittern und die Schmerzen. Ihr Gesicht kam ihr mehr und mehr wie eine Maske vor, die sie abschirmte. Wenn sie lächeln wollte, passierte manchmal gar nichts mehr, das ganze Gesicht war steif und starr wie aus Wachs. Als sie das zum ersten Mal bewusst bemerkt hatte, hatte sie sich auf ihr Bett gelegt und geweint. Es machte ihr Angst. Angst, dass ihre Gefühle und ihre Person hinter einer Maske gefangen waren und dass sie nicht mehr über sich selbst bestimmen konnte.
Ihr Hausarzt hatte versucht, sie zu einem Klinikaufenthalt zu überreden, damit die Medikation richtig eingestellt werden konnte.
„Es gibt ausgezeichnete Kliniken, Frau Ammer … nur so kann sichergestellt werden, dass die Medikamente wirklich auf sie passen“
„Herr Lemberg, ich kann nicht. Friedel kann nicht allein zuhause bleiben.“
„Vielleicht würde ein Nachbar so lange auf den Hund aufpassen, es sind ja nur drei oder vier Wochen“
„Nein, das kommt nicht in Frage …“
Sie hatte sich hartnäckig und sehr zielstrebig gegen einen stationären Aufenthalt gesträubt. Wenn die alten Leute nur nicht immer so bockig wären … hatte Herr Lemberg, selbst schon weit über sechzig, gedacht. Aber die schmale, blasse Dame, die ihm gegenüber saß, hatte nicht nachgegeben.
„Wenn ich Friedel zu andern Leuten geben würde, das wäre ja wie Verrat! Er ist doch das einzige, was ich noch habe.“
Lemberg hatte in Gedanken geseufzt und sich auf viele anstrengende Wochen und Monate mit dieser Patientin gefasst gemacht. Er hatte noch nie einen Parkinsonpatienten auf L-Dopa eingestellt und war alles andere als ein Spezialist. Aber erstens hätte er das nie zugegeben, und zweitens hätte Lene wohl kaum mit achtundsiebzig Jahren noch den Hausarzt gewechselt, den sie seit über vierzig Jahren besuchte.
Aber Doktor Lemberg gab sich Mühe. Er suchte die Adressen von einem geeigneten Ergotherapeuten und einem Masseur. Außerdem gab er sich Mühe, Lene über den Verlauf ihrer Erkrankung aufzuklären. Sie hörte ihm zu, mit starrem Gesicht.
„Vielleicht …“ Er zögerte. „Vielleicht wäre es auch ratsam, wenn sie sich nach einem guten Pflegeheim umsehen würden … Sie sind allein in ihrer Wohnung, wenn etwas passiert … und wenn sich ihr Zustand verschlechtert …“
Er war immer unsicherer geworden, als Lene nur dagesessen und ihn angesehen hatte. Schließlich hatte er abgebrochen. Er konnte ihre Gedanken förmlich spüren. Friedel. Nie würde sie einverstanden sein.
*
Als sie sich das Gesagte zuhause noch einmal verdeutlichte, fühlte sie sich elend. Alt und verbraucht bin ich, dachte sie. Bald werde ich nicht mehr normal gehen können, vielleicht auch nicht mehr richtig sprechen. Ich werde nie wieder malen. Nur noch Friedel kümmert sich um mich.
Als Simon noch gelebt hatte war alles anders gewesen. Nie hatte sie sich alt gefühlt. Sie waren manchmal zum Tanzen gegangen und oft zum Wandern an die frische Luft. Und sie erinnerte sich an die Kaminabende im Winter, wenn Simon sein Cello hervorgeholt hatte und liebevoll über den Bauch des alten Instruments gestrichen hatte, bevor er daraus weiche, dunkle Melodien gezaubert hatte. Einsamkeit oder Hilflosigkeit hatte es in ihrer Liebe nicht gegeben.
Lene hatte es nicht über sich gebracht, das Cello wegzugeben. Es stand immer noch auf seinem Platz in der Ecke, als ob es auf die sanften Berührungen des Bogens warten würde.
*
Und jetzt gab es nur noch Friedel.
Ganz stimmte das nicht. Lenes Nachbarn, eine nette junge Familie mit einem kleinen Mädchen, erkundigten sich immer wieder nach ihrem Befinden, und boten ihr auch an, Einkäufe für sie zu erledigen. Aber Lene wollte immer weniger mit den Kratzers zu tun haben, und mied den Kontakt. Sie mochte die Familie sehr gerne, aber sie hatte Angst, dass das Ehepaar ihren Tremor bemerken könnte, oder sie für verrückt halten würde, wenn sie sahen, wie schwer sie sich zum Beispiel damit tat, ihre Wohnungstüre aufzusperren. Es war ein einziger Kampf, die einen Muskeln taten das richtige, aber die anderen spannten sich ebenfalls an und machten es schier unmöglich, dass sie das Schlüsselloch traf. In vielen dieser Momente überkam sie heilloser Zorn.
Überhaupt ging Lene immer seltener nach draußen, nur noch, wenn es unvermeidlich war. Spazieren mit Friedel. Einkaufen. Mehr nicht.
Sie hatte auf Anraten von Doktor Lemberg einen Behindertenausweis beantragt, und die Pflegeversicherung hatte ihr angeboten, einen Zivi vorbeizuschicken.
Lene hatte sich von all dem überfordert gefühlt. Ein Behindertenausweis … dieses Wort traf sie wie eine einstürzende Decke. Parkinson ist nicht heilbar. Im Gegenteil, er ist progressiv. Es würde immer schlimmer werden. Sie war behindert, sie gehörte zu den Menschen, die Anrecht auf Vergünstigungen und Sonderrechte hatte. Positiv formulierte Diskriminierung, dachte sie.
*
Als sie Marco das erste Mal sah, war sie überrascht. Es war eine wochenlange Diskussion gewesen, bis sie endlich eingewilligt hatte, dass ein Zivi jeden Tag zu ihr kommen sollte und das Nötigste erledigte.
Er war ein hübscher junger Mann mit kastanienbraunen Augen und sanften Händen. Lene war ängstlich gewesen, wie ein gesunder junger Mensch mit einem alten dreibeinigen Hund und ihrer Behinderung umgehen würde. Sie fürchtete, dass er womöglich lachen oder sie für irre erklären würde, wenn er das Zittern in ihren Händen, ihr totes Gesicht oder ihre verlangsamten Bewegungen bemerkte. Aber sie hatte sich getäuscht. Auf Anhieb verstand er sich mit Friedel, nahm ihn an manchen Tagen zu langen Spatziergängen mit und erledigte die nötigsten Sachen in der Stadt. Außerdem half er ihr, die Medikamente vorzubereiten. Mehrmals täglich musste sie ihre Tabletten schlucken. Und er schien sich nichts daraus zu machen, dass Lene oft für die einfachsten Sachen ewige Minuten brauchte, oder wenn an manchen Tagen die Schmerzen und der Tremor so stark waren, dass sie kaum aufstehen konnte. Bald konnte sie sich ein Leben ohne Marco nicht mehr vorstellen. Doch seine Zeit als Zivi war begrenzt. Lene wollte nicht daran denken, wie es sein würde, wenn Marco sein ersehntes Studium in Berlin aufnehmen würde und sie wieder alleine sein würde.
Die Medikamenteneinstellung war schlecht. Der Parkinson zeigte sich von Monat zu Monat deutlicher. Nach einem halben Jahr konnte Lene kaum noch ohne Hilfe gehen. Sie machte kleine Schritte, wie ein Kind, das gerade erst laufen lernt, immer bereit, sich mit einer Hand an einem Möbelstück festzuklammern. Die Stürze häuften sich dennoch. Doktor Lemberg war über das außergewöhnlich rasche Fortschreiten der Erkrankung erschüttert und machte sich Vorwürfe. Bei jedem Besuch redete er von den Chancen, die Lene hätte, wenn sie in eine Klinik gehen würde. Aber sie schüttelte nur den Kopf.
Immer noch ging sie tapfer ihre Runden mit Friedel, auch wenn es oft sehr schwierig war und sie Schmerzen hatte, und Angst vor Stürzen.
*
An einem klaren Tag im Oktober schlang sie sich, wie so oft, die Leine um den Arm. Friedel blickte sie an und wedelte ungeduldig mit dem Schwanz.
„Langsam, Friedel … langsam.“
Lene sah ihren Hund an, der sich vor Freude kaum halten konnte und kraulte seine Ohren. Sein Fell schimmerte, obwohl schon viele graue Haare dabei waren, und die braunen Augen blitzten.
Sie wollten in den Park, wo alte, mächtige Kastanien gerade ihre Blätter gelb und rot färbten. Holzbänke standen in einigen Abständen und auf den schmalen Kieswegen würden nicht mehr viele Menschen unterwegs sein. Die Dämmerung war schon hereingebrochen. Die untergehende Sonne hinterließ den Himmel in Pastelltönen.
Um in den Park zu gelangen, mussten sie die Hauptstraße des Ortes überqueren. Doch als die Ampel auf grün schaltete, war Lene nicht fähig einen Schritt zu tun. Die Muskeln gehorchten ihr nicht, sie stand steif vor der grünen Ampel. Das Bein fühlte sich an, als hätte es jemand mit Blei ausgegossen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Ein Schritt, das linke Bein anspannen, Knie beugen… nach vorne …
Friedel jedoch war in Erwartung des Parks, freute sich auf die Gerüche der Hundedamen und der Hasen. Mit einem kräftigen Ruck riss er sich von Lenes Arm los, und lief, die Leine hinter sich herschleifend, über die Kreuzung. In diesem Moment bog ein Auto um die Kurve.
„Friedel!“
Lene schrie im Fallen auf. Der Ruck an ihrem Arm war so stark gewesen, dass sie auf der Straße aufschlug.
Danach nahm sie ein heilloses Durcheinander wahr. Menschen schrieen, Autos, Hektik, fremde Leute … Eine junge Frau kniete sich zu ihr. „Sollen wir einen Notarzt rufen? Wie geht es, kann ich ihnen beim Aufstehen helfen? Sind sie verletzt?“
Lene hörte die Worte kaum, die von allen Seiten an sie gerichtet wurden. Mühsam versuchte sie sich aufzuraffen, von der Frau und einem älteren Herren gestützt. Sie bemerkte das Blut, das ihr das Bein hinunter lief, nicht.
„Mir ist nichts passiert, kein Arzt“, hörte sie sich. Ihre Hände waren vom Fall auf den Asphalt aufgeschürft.
Sie blickte sich um, das Gesicht grau vor Angst und die Augen auf der Suche nach Friedel.
„Hat … hat jemand meinen Hund gesehen?“, fragte sie schließlich mit brüchiger Stimme. „Friedel … mein Hund … er … er ist braun und ihm fehlt das linke Vorderbein …“
Ihre Augen hatten das Auto gefunden, das mitten auf der Kreuzung stand. Derselbe Wagen, der in dem Moment losgefahren war, als ihre Beine versagt hatten.
„Hat ihn jemand gesehen? Er ist über die Straße gelaufen …“
Sie blickte genauer auf den dunklen Sportwagen. Ein Mann mit Hut und heller Jacke hatte sich bei einem der Vorderreifen gebückt und schien irgendetwas unter dem Auto zu suchen.
Nur ein dunkler Fleck war auf dem Asphalt, als ob jemand zufällig einen Klecks dunkle Farbe dort hingetupft hätte. Lenes Gesicht war starr, als sie begriff.
*
Marco stellte stumm die Einkäufe in Lenes kleine Küche. Die alte Dame lag in ihrem Bett und hatte sich offenbar nicht gerührt, seit er aufgebrochen war. Drei Wochen noch, bis er seinen Dienst abgeleistet hatte und anfangen konnte, Biologie zu studieren. Seit dem Ausflug in den Park hatte Lene kaum noch mit ihm gesprochen und war die letzten Tage auch nicht aufgestanden. Er fragte sich, wie sie zurechtkommen würde, wenn er in Berlin war. Der Hundekorb war leer. Überall lagen noch Zeichen von Friedel, sein Fressnapf, der zerkaute Gummiball, seine Decke …
Es war ein mieses Gefühl, sie alleine zu lassen, nachdem er im letzten Jahr beinahe täglich viel Zeit mit ihr und Friedel verbracht hatte. Er hatte die sensible Dame bewundert, die trotz ihrer Krankheit und dem Tod ihres Mannes so lebenslustig erschienen war. Friedels Tod war das Schlimmste, was ihr noch hatte passieren können. Ihr ganzes Herz hatte an diesem Tier gehangen. Jetzt würde er auch noch fortgehen, und sie musste seine Freude und Begeisterung wegen des Umzugs gespürt haben. Für ihn war Lene fast zu einer Art Oma geworden im Lauf der Zeit, er hatte sich gerne mit ihr unterhalten. An seine eigenen Großeltern konnte er sich nicht erinnern. Lene war weder konservativ noch altmodisch, sondern hatte viel Interesse für sein Leben und seine Träume gezeigt. Sie hatten in dieser Zeit viel über künstlerische und kulturelle Themen gesprochen, und es war nie langweilig gewesen.
In Gedanken waren sie zusammen durch die Wolken geflogen und in alle Kontinente gereist, um Tiere zu erforschen und andere Kulturen kennen zu lernen. Sie waren in die Vergangenheit gereist und in die Zukunft.
Nun begrüßte sie ihn kaum noch.
*
Lene strich mit ihrer Hand über den schweren Tisch aus Kastanienholz. Sie schloss die Augen, als sie mit den Fingern die kleinen Kerben fühlte, die an manchen Stellen ins Holz geschnitten waren. Sie ging zu ihrem alten Kleiderschrank, der leer war und sauber ausgewischt. Die Muster auf den Türflügeln waren ihr so bekannt wie eins ihrer eigenen Bilder. Die Wände waren jetzt kahl. Dort, wo die beiden Portraits gehangen waren, waren die Mauern etwas heller. Helle Rechtecke ihrer Vergangenheit. Jetzt erst merkte Lene, dass die Zimmerecken schon recht grau geworden waren. Zweimal schon waren die Möbelpacker gekommen, um Sachen abzuholen. Es war ihr schwer gefallen, sich von so vielem zu trennen. Sie blickte in die Ecke neben dem Kamin. Dort hatte immer das Cello gestanden. Der Anblick der leeren Ecke ließ Tränen in ihr aufsteigen. Sie hatte es Marco geschenkt, an seinem Abschied vor drei Tagen. Er wusste, was es ihr bedeutet hatte, und auch wenn er nicht spielen konnte – Lene hätte das Instrument nicht mit den zahllosen anderen Gegenständen einfach in den Lastwagen laden lassen können. Vielleicht war es auch ganz gut, dass Marco nicht spielen konnte, dachte sie. Anfangs wollte sie das Erbe von Simon mitnehmen, aber dann hatte sie sich anders entschieden.
Das Zimmer im Wohnheim war winzig, sie konnte fast nichts von ihren Sachen behalten. Lene hätte gerne ihren Tisch mitgenommen. Simon hatte ihn gezimmert, und ihr zum fünfjährigen Hochzeitsjubiläum geschenkt. Aber er war zu groß.
Als es an der Türe klingelte, versuchte sie sich schnell die Tränen aus den Augen zu wischen. Keiner der Möbelpacker sollte sie so sehen … Ihre Hände gehorchten ihr nicht, die Finger fuhren durch ihre Haare. Der Parkinson ließ sie Lippen und Nase unsanft streifen, bevor sie sich die Tränen aus dem Gesicht wischen konnte.
Die Wohnung blieb leer zurück, als Lene der Vermieterin den Schlüssel in die Hand drückte. Der Taxifahrer hatte es nicht eilig, und als sie durch die Stadt fuhren, begann der Wind die ersten Schneeflocken des Winters durch die Luft zu treiben.
*
Die Leiterin des Wohnheims kam aus einem kleinen Verwaltungsbüro und begrüßte sie fröhlich. „Wie schön, dass sie da sind, Frau Ammer. Sie werden sich sicher wohl fühlen bei uns.“
Lene konnte keine Antwort finden. Die Dame begleitete Lene zu ihrem neuen Zuhause im ersten Stock. Als Lene mit ihr im Lift stand, fragte sie sich, wie sie es schaffen sollte, täglich diesen kleinen grünen Knopf zu treffen.
Ein paar neue Möbel standen in dem Zimmer, das am Ende des Korridors lag. Ein Tisch, zwei Stühle, ein Krankenhausbett, ein Schrank.
Lenes Sachen waren schon vor ein paar Tagen eingetroffen, und man hatte sie eingeordnet. Eins ihrer Bilder hing über dem kleinen Tisch in der Ecke. Es war das Portrait, das sie als junge Frau zeigte. Im ersten Moment fühlte sich Lene in ihrem Bild geborgen. Eine Ecke Heimat und Erinnerung in einer Welt, in der sie alles verloren hatte. Sie stand lange davor und blickte sich ins Gesicht.
Hinter sich hörte Lene ein Geräusch. Die Leiterin hatte die Türe nicht geschlossen, als sie gegangen war.
Eine grauweiße Katze saß im Türspalt. Sie blickte Lene mit moosgrünen, neugierigen Augen an. Gemächlich stand sie auf und ging auf die alte Frau zu.
Lene spürte eine zarte Berührung an ihren Beinen.
*
Als die Betreuerin später das Abendessen zu der neuen Heimbewohnerin brachte, klopfte sie leise.
Lene saß aufrecht auf ihrem neuen Bett mit dem starren, weißen Bezug. Sie streichelte mit zittrigen Bewegungen die Katze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte und vor sich hinschnurrte, als habe sie den Rest der Welt vergessen.