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Lene
Lene geht spazieren. Offensichtlich schwerfällig trottet sie, schlurft, Schritt für Schritt. Martin ist ein Stück vorgegangen, wartet, Gleichmut im Gesicht. Wie jeden Tag, wie bei jedem Spaziergang. Denkt er wie ich an die Zeit zurück, als sie zum ersten Mal in unserer Nachbarschaft auftauchte? Wie jung sie war, wie offen mit allen Sinnen, voller Neu- und Lebensgier?
„Ist Lene krank oder nur einfach alt geworden?“, frage ich ihn und schäme mich. Unstellbare Frage.
„Weiß auch nicht.“ Sein Gesicht wird kurzzeitig durchlässig, Spiegel des Ablaufs flüchtiger Gefühle. Sorge? Ärger? Schuld?
„Für einen Arzt habe ich kein Geld.“
„Klar“. Ich nicke.
Lene hat uns eingeholt. Auf einem Foto würde man sie nicht für alt halten, nur ganz vereinzelt graue Haare. Doch in der Bewegung und mit ihrem Schnaufen ist es unverkennbar. Martin will weiter, nickt, geht ein paar Schritte. In Zeitlupe, wie immer mit Lene.
Meine Gegenwart scheint sie zu verwirren. Unschlüssig, unbeweglich steht sie da, als suche sie nach dem einen Hinweis, der ihr Weltbild wieder zusammenfügt, ihm Sinn verleiht. Martins Rufe nützen nichts. Kann sie ihn erkennen, ihm in diesem Augenblick eine Bedeutung zuordnen?
Ich beuge mich hinunter und berühre ihre Haare. Wie in die Gegenwart zurückgeschnellt, ist sie wieder da, präsent, wedelt mit dem Schwanz.
„Komm, Lene“, ermuntere ich sie, „wir gehen zu deinem Herrchen.“