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Leo läuft los
Über den Gleisen wabert der Nebel der Bahnhofslandschaft, legt sich auf Menschen und Züge wie eine zweite Haut. Ich ziehe den Koffer hinter mir her, laufe den Bahnsteig entlang, den Rucksack geschultert, den Mantel zugeknöpft, zum Gleis, begegne wenigen Leuten. Manche wanken und halten Redbulldosen in den Händen. Einer fragt mich nach ein paar Euro, um eine Fahrkarte nach Hause zu lösen. Nach Hause, denke ich, nach Hause, schüttle den Kopf und gehe an ihm vorbei.
Am Raucherplatz bleibe ich stehen. Ein junges Pärchen schweigt miteinander. Er trägt Hoody, darunter Kaschmirpullover. Ich mag ihre Sommersprossen, werfe ihr einen Blick zu, den sie mit Glotz-nicht-so-du-bist-viel-zu-alt-als-dass-du-mich-überhaupt-wahrnehmen-darfst-du-Schwein beantwortet. Zwischen den Gleisen laufen Tauben auf und ab, breiten die Flügel aus, als ein Zug einfährt. Zwei Uniformierte, Bahnangestellte, treten von einem Bein auf das andere, halten die Zigaretten wie Fahnen in den Händen, gestikulieren, sprechen sächsisch. Ich trinke gierig Wasser, hole die Fahrkarte aus der Tasche: dreizehn Stunden braucht der Nachtzug. Wie romantisch es ist, durch das abgedunkelte Land zu rasen. Ich schieße Fotos von Koffer und Rucksack, grinse in die Kamera, schreibe Eliska eine Nachricht, Sie schickt einen Smiley und einen Kussmund als Antwort. Eine blecherne Stimme kündigt die Ankunft meiner Bahn an.
Von King’s Cross fährt der Hogwarts Express mit einem schrillen Pfiff ein, Rauch steigt von dem Dampfzug auf. Immerhin quietschen die Bremsen, die Türen zischen, als freuten sie sich, Menschen auszuspucken, die den Stahlkörper eine Zeitlang bewohnt haben. Ich versuche die Kennzeichnungen der Waggons zu erkennen, um festzustellen, ob ich an der richtigen Stelle stehe, gehe ein paar Meter, bis ich die Nummer entdecke. Ich warte, bis die Reisenden ausgestiegen sind. Manche werden begrüßt, in die Arme genommen.
Vor mir hält eine Frau ein Kind an der Hand, das eine Bommelmütze und einen roten Mantel trägt. Sie wuchtet den Koffer auf die Stahlstufen. Ich wage es nicht, ihr zu helfen. Man darf einander nicht nahekommen. Der Mann im Anzug neben mir zerknüllt eine Papiertüte, zielt, trifft den Mülleimer nicht. Der Ball landet daneben. Er zuckt die Achseln und glotzt in alle Richtungen. So sehen Sieger aus. Ich verhindere gerade noch, dass er sich an mir vorbeidrängt, prüfe die Platznummern. Im Großraumabteil halten Reisende Smartphones in den Händen oder betrachten die Bildschirme von Tablets, leben in ihrer eigenen Blase: Verlorene im Meer des Ausnahmezustandes.
Meine letzte Reise ging nach Paris. Auf den Plätzen wehte der Wind das Laub durcheinander. An den Abenden tanzten wir mit fremden Menschen, naschten und tranken vom prallen Leben. In den Medien zeigen sie nun verrammelte Restaurants, Cafés, verwaiste Theater und Museen, leergefegte Straßen. Notredame wird wiederaufgebaut. Was geschieht mit den Städten? Welche Zeit bricht an?
Im Abteil sitzt niemand, obwohl auf dem Display Reservierungen angezeigt werden. Ich verstaue den Koffer, nehme am Fenster Platz. Falls ich alleine bleibe, werde ich es wagen, die Maske abzustreifen. Der Zug setzt sich lautlos in Bewegung. Von den Gleisen her winken mir die Tauben zu. Ich schwenke zum Abschied ein Taschentuch, bis der Bahnhof aus dem Blickfeld verschwindet. Es riecht nach Banane und Schweiß, den schalen Gedanken, die hier drin ausgedünstet wurden.
Als ich die Augen schließe, male ich mir die Begegnung mit Eliska aus: Kerzenlicht im Hintergrund, Lustgeruch, Honig, Erdbeeren, Haut, Hitze. Pünktlich losgefahren, texte ich nach Prag.
Durch einen Luftzug erwache ich aus den Träumen, bemerke, dass die Tür zurückgeschoben wird und öffne die Augen. Die Frau mit dem Kind an der Hand betritt das Abteil. Das Mädchen drückt einen kleinen, grauen Plüschelefanten an sich und streift die Bommelmütze ab, während die Mutter mich anschaut, als ob sie mich wiedererkennen würde. Ich richte mich auf, nehme die korrekte Zugwagenabteilhaltung ein, zwinge mein Gesicht zu lächeln und stehe auf.
„Ich habe den Fensterplatz genommen, weil das Abteil leer war. Sie müssen nur sagen, wo sie reserviert haben.“
„Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich setze mich gegenüber in die Mitte. Eva mag es, aus dem Fenster zu schauen.“
Sie deutet auf das Mädchen, das mich von oben bis unten anschaut, auf der Stelle auf und ab geht, bis es sich auf den Sitz fallen lässt.
"Aber es ist doch schon zu dunkel.“
„Ich habe gute Augen“, sagt das Kind „Und manche Dinge sieht man besser in der Nacht.“
Ich wundere mich über die Worte des Kindes, schaue es mir genauer an. Das Mädchen starrt mich auf eine Art an, als wäre es viel älter. Die Augen strahlen eine wütende Kraft aus, die ich nicht deuten kann, trotz der Maske, die sich über das Gesicht stülpt, so eng anliegend, als handle es sich um ein Pilzgeflecht, das auf der Haut siedelt, ohne ein Recht darauf zu besitzen.
„Eva schaut immer so“
„Eva“, sage ich „ein schöner Name“ und verbiete mir weiterzureden, verbiete mir zu erwähnen, dass meine Frau diesen Namen trug. Tatsächlich verliert sich der Eva-Blick in dem vorbeiziehenden Nebel. Ich überlege, ob ich ein Gespräch anfangen oder irgendetwas ins Smartphone tippen soll, um die Harmlosigkeit der Begegnung zweier Fremder aufrechtzuerhalten.
„Ich heiße Leo“, sage ich, weil der erste Name bereits genannt wurde.
„Wir fahren nach Minsk. Sie können Ira zu mir sagen.“ Dabei flackern ihre Augen, als schämte sie sich, als glaubte sie, ich hätte Vorurteile gegen Russen, Belorussen, gegen Frauen, die im Westen leben und in den Osten gehören. Deshalb nehme ich den Faden nicht auf.
„Minsk, mm. Ich war nie in Russland.“
„Belarus ist nicht Russland.“
„Ja, weiß ich.“ Sie lächelt, kramt in ihrer Tasche, hält mir ein Papier hin, das Zertifikat über den negativen PCR-Test.
„Ist doch verrückt. Um nach Hause zu fahren, muss ich ein Papier vorlegen.“ Sie bekreuzigt sich, aber auf eine Weise, die ich nie zuvor gesehen habe, schlägt sich im Takt auf die Brust, beugt den Kopf, murmelt ein Gebet, das ich nicht verstehe. Eva lehnt an ihre Mutter gepresst, die rechte Backe auf dem Oberschenkel Iras, die Lider fest zugedrückt, schläft so tief, wie es nur Kinder vermögen. Nach dem Gebet sieht sie entspannt aus, die Bewegungen erscheinen weicher, der Blick wärmer.
„Sie glauben nicht an Gott, oder?“
„Nein.“
„Schade. Es lohnt sich. Sie sollten drüber nachdenken, gerade in diesen Zeiten. Ich gehöre zu den Altgläubigen, die Orthodoxen würden sagen, eine Sekte.“
„Als Junge war ich Ministrant.“
„Was ist das?“
„Na ja, dem Priester habe ich geholfen. Ich war katholisch.“
„Jetzt nicht mehr?“
„Nein.“
„Wissen Sie, welches Jahr wir haben?“
„Mm.“ Ich schüttle den Kopf, weiß nicht, was ich sagen soll.
„7522 nach Adam. So viele Jahre, stellen Sie sich das mal vor, so viele Jahre seit die Menschen aus dem Paradies vertrieben wurden.“
Sie schweigt, bewegt die Lippen, als wolle sie Worte formen, streicht über die Haare ihrer Tochter, drückt sie an sich und schließt die Augen.
Die Landschaft rast an mir vorbei, vereinzelte Lichter erscheinen, verschwinden, dunkle Fläche radiert sie aus, während ich das Kind beobachte, diese Eva, wie sie den Brustkorb hebt und senkt und der Rhythmus von Mutter und Tochter sich nach und nach angleichen.
Es gibt Baby-Bilder von mir auf den Armen meiner Mutter. Auf jedem strahlte sie vor Glück. Es gibt Bilder von ihr im Rollstuhl, derselbe Mama-Blick, dahinter Finsternis und Bitterkeit. Als hätte sie zu spät erkannt, was sie angerichtet hat. Wie viele Jahre liegen dazwischen? Sie hat jeden Tag gebetet. Warum? Welche Stimme hat ihr eingeflüstert, man muss hart gegen alle und jeden sein, um im Leben zu bestehen? Ich wünschte mir Liebe, wer nicht?
Später träume ich von Wassermassen, die mich daran hindern, einen Fluss zu überqueren, den ich nicht kenne, blicke in die reißende Flut und suche mir einen anderen Weg.
Bremsgeräusche wecken mich. Nürnberg Hauptbahnhof zeigen die Schilder an. Ira und Eva regen sich nicht, als ich mich aus dem Abteil schleiche, nur den Rucksack mitnehme. Am Gleis steht ein Bahnbediensteter. Eine Strähne hängt ihm ins Gesicht. Er schiebt sie beiseite, um mich anzuschauen. „6:37 Uhr fährt der Zug pünktlich weiter", sagt er. Ich nicke und schlendre los. Von weitem sehe ich das junge Pärchen vom Raucherplatz in Frankfurt. Er zieht beide Koffer, den Oberkörper aufgerichtet, sie geht zwei Schritte hinter ihm. 0.54 Uhr.
Am Gleisende angekommen, orientiere ich mich, suche nach einem Laden, der geöffnet hat, einem Ort für die durstigen Seelen der Nacht. Neben einer verrammelten Imbissstube sitzt eine Knochengestalt und lehnt sich an einen Einkaufswagen, der mit allerlei Habseligkeiten beladen ist. Sie schaut mich aus milchigen Augen an, erhebt sich, rückt die Einwegmaske zurecht, kommt auf mich zu und glotzt mich an. Welche Gefahren gehen von ihm aus? „Haben sie einen Euro?", sagt er. Ich zögere, bringe es nicht übers Herz, ihn zu ignorieren, drehe mich weg, ziehe das Portemonnaie aus dem Rucksack und gebe ihm bis auf einen Glückscent alle Münzen. Sein Atem stinkt faul, die Kleider riechen klamm. Für einen Moment leuchten die Augen, dann schwankt er davon.
Ich gehe in die entgegengesetzte Richtung: zur City weist das Schild. Auf einem Poller vor dem Ausgang ins Freie entdecke ich einen Mann in Camouflage, der mich aufmerksam betrachtet. Er sieht aus, als wäre er für einen Kampfeinsatz gerüstet, schwere Boots mit Eisenkappen, breite Schultern, groß, athletisch, maskenlos, sitzt er da, als würde er auf etwas warten.
„Ich habe dich beobachtet. Du musst besser aufpassen, Junge. Eine Bewegung, der Cracker greift sich deinen Rucksack und verschwindet, so schnell kannst du nicht reagieren.“
„Ich hatte Mitleid.“
„Vergiss dein Mitleid mit Junkies. Die denken nicht mehr. Matsch in der Birne. Ganz arme Schweine.“
„Kann sein, trotzdem.“
„Du bist einer vom Nachtzug, richtig?“
„Ja.“
„In der Unterführung gibt’s einen Rewe, der hat auf. Gehen wir und holen uns ein Bier?“ Ich zucke mit den Achseln. Mir fällt kein Grund ein, der dagegen sprechen würde. Als er aufsteht, kommt er mir noch riesiger vor.
„Karl“, sagt er und reicht mir die Hand. Wann habe ich zuletzt Hände geschüttelt?
„Leo“, antworte ich und folge ihm. Zwei Männer in der Nacht. Auf der Suche nach einem Bier. Ein harmloser Gedanke.
„Dass die Kneipen geschlossen haben …“, seufze ich.
Die Rolltreppe steht still, also steigen wir die Treppe hinab in die Unterwelt. Ein Pärchen liegt neben einem Lüftungsschacht unter einer Decke, Plastiktüten an sich gedrückt. Ihr Hund spitzt kurz die Ohren und entspannt sich wieder, als wir an ihnen vorbei sind. Eine Maus huscht vorüber und verschwindet in einer Ritze der Wand. Der Bahnhof wurde solide gebaut, dicke Mauersteine.
Wir begegnen zwei Sicherheitsleuten in Uniform. Der blonde Zopf der Frau pendelt hin und her. Karl läuft unbeirrt auf sie zu.
„Hier gilt Maskenpflicht!“, sagt die Frau laut, während der Schlagstock des Kollegen ausschwingt.
„Ganz vergessen, dachte, das stört nachts keinen.“ Karl richtet sich gerade, zuckt mit den Achseln und kramt in der Hosentasche.
„Wo habe ich das verfickte Teil bloß.“ Ich krame im Rucksack und reiche ihm eines der Dinger, die Version in Rosa. Er nimmt sie zwischen die Fingerspitzen und setzt sie sich kopfschüttelnd auf. Auf dem Hals Karls prangt ein Fledermaustattoo.
„Zufrieden?“
„Nächstes Mal gibt’s ne Anzeige, klar?“ Karl wirft die Hacken zusammen, salutiert, ruft: „Jawoll“, lacht. Die Sicherheitsleute grinsen, schütteln den Kopf und gehen weg.
„Masken, Masken, bringt doch nichts, Leo, das mit der Seuche, da stimmt was nicht.“
„Wir ändern unser Leben, das ist alles“, antworte ich.
„Das ist erst der Anfang, sag ich dir, da kommt noch was, ich versprech’s dir. Scheiß drauf, jetzt holen wir uns ein paar Bier.“
Wir betreten den Rewe. Der Verkäufer begrüßt Karl wie einen Freund. Ein alter Mann studiert die Preise der Konservendosen und wirft Plastikflaschen in den Pfandautomaten. Außer einem Sixpack kaufe ich Sandwiches, Zigaretten und Original Nürnberger Lebkuchen. Was trinken und zurück in den Zug, ein bisschen schlafen, sage ich mir. Die Rolltreppe nach oben funktioniert. Draußen schlägt uns Nachtkälte entgegen, wenngleich die Luft einen Hauch des Frühlings mit sich führt. Wir setzen uns auf einen Betonblock. Durch einen Lüftungsschacht dringt warme Luft.
Karl entfernt den Kronkorken mit dem Feuerzeug, gibt mir die Flasche. Wir stoßen an.
"Hängst du oft hier am Bahnhof rum?“
„Manchmal. Ich hab meine Wohnung untervermietet, lebe draußen, ist sicherer.“
„Weil du, wegen deiner …“
„Kannst ruhig Schwarzer, Neger, POC sagen, such dir was aus. Nein, nein, ich habe keine Angst. Mir passiert nichts. Wer mich anmacht, kriegt eins auf die Fresse, so einfach ist das. Außerdem mögen die Frauen Kerle wie mich.“
„Wusste nicht, wie du reagierst.“
„Ich schlafe mal hier, mal im Freien, hab mir eine Hütte gebaut, im Wald, findet keiner, bin vorbereitet, habe Vorräte angelegt. Wenn das System zusammenbricht, der Strom ausfällt, die Leute auf die Straße gehen, hau ich ab und mach’s mir dort gemütlich.“
„Glaubst du das?“
„Was weißt du schon? Das mit der Seuche ist bloß der Probelauf, da kommt mehr, viel mehr.“
Ich trinke das Bier leer. Er gibt mir die zweite Flasche.
„Ich hab den Job gekündigt und fahre nach Prag, besuche jemanden, Internetbekanntschaft.“
„Und dann?“
„Wird sich zeigen.“
„Okay, Bruder. Pass auf, mit wem du dich abgibst, immer aufpassen.“
„Vielleicht bleibe ich, vielleicht nicht, vielleicht reise ich woanders hin. Ich bin frei.“
„Hast du Geld?“
„Reicht ne Weile.“
„Gibst du mir was?“
„Warum?“
„Weil ich was brauche.“
„Fünfzig?“
„Du bist ein Vogel. Ich könnte dich ausrauben, kostet mich nichts, geht ganz schnell. In einer Minute verschnüre ich dich zu einem Päckchen und dann wird es nichts mit Prag und deinen Träumen.“
„Ich geb dir Hundert, okay?“
„Bruder, du bist echt ein Arschloch. Ich rede mit dir, ganz normal, ohne Hintergedanken, sag dir, was Sache ist, dass du aufpassen musst, Scheiße. Und du willst dealen, man, ich fasse es nicht.“ Er schüttelt den Kopf.
„Dass es den großen Knall gibt, alles zusammenbricht, glaubst du das wirklich, Karl?“
„Mein heiliger Ernst, wird passieren, so wahr ich hier sitze, so wahr der der Teufel den Himmel beobachtet.“
„Der Teufel?“ Ich proste ihm zu. Trotzdem fühle ich mich langsam unwohl mit dem Kerl. Was macht er auf der Straße? Warum hat er mich angequatscht? Nachdem ich so augenfällig auf die Uhr geschaut habe, dass er es bemerkt, trinke ich einen kräftigen Schluck, leere die zweite Flasche. Karl sitzt mit breiten Beinen da und stiert zuerst zum Himmel, dann zu mir, enttäuscht, in seinem Blick versteckt sich eine Botschaft, die er nicht ausspricht. Sie lautet: Du bist eine Enttäuschung, kapierst gar nichts und jetzt willst du auf dem schnellsten Weg weg von hier, weg von mir, zurück in deine geordnete Schlafwagenwelt. Scheiße, ich hätte dich ausrauben sollen, das hättest du verdient.
„Wann gehst du wieder in den Wald?“
„Bei Morgengrauen, schätze ich.“
„Und dann?“
„Abwarten!“
„Ich bin aufgebrochen, das ist schon was und jetzt gehe ich einen Schritt nach dem anderen, frei und offen für das, was kommt.“
Während ich über den Satz staune, dreht er sich im Rhythmus einer perfekt fließenden Bewegung zu mir, schlingt den Arm um meinen Hals, schnürt die Kehle ab, nimmt mir die Luft und drückt seinen Daumen auf das rechte Auge.
„Junge, du weißt gar nichts, du versteht nichts. Ich habe genug von euch Idioten. Ihr schließt die Augen, die Ohren und eure Gefühle taugen nichts mehr. Du musst nachdenken, Leo, nachdenken, mm? Kapierst du das, geht das in deine Birne?“ Die Worte hämmern auf mich ein. Ebenso plötzlich wie seine Attacke kam, löst sich Karls Griff. Er steht auf und dreht mir den Rücken zu. Ich zittere, versuche die Körperspannung wieder zu gewinnen. „Verschwinde, bevor ich’s mir anders überlege! Hau ab, Leo!“ Seine Stimme klingt ehrlich enttäuscht. Er schnappt sich den Rest des Sixpacks und geht los. Ich zögere, löse mich aus der Starre, während er sich gemächlich Richtung Stadt bewegt.
Weil ich ihm was versprochen habe, laufe ich los, rufe, „Karl,Karl, warte mal, da ist noch was.“ Obwohl er die Schritte verzögert, reagiert er nicht. „Komm schon, Karl, bleib stehen.“ Als ich ihn eingeholt habe, berühre ich ihn an den Schultern.
„Was gibt’s Leo?“
„Ich halte meine Versprechen, ist das klar, Karl!“ Daraufhin ziehe ich das Portemonnaie aus der Tasche, ziehe den Schein heraus und reiche ihn Karl.
„Du bist echt ne Nummer, Leo.“ Er fängt schallend zu lachen an. „Also ich nehm das Geld, aber ich habe dich nur gefragt, um dich zu provozieren.“
„Darum geht’s nicht.“
„So?“
„Ich hab’s versprochen. Außerdem, wer weiß, vielleicht laufen wir uns wieder über den Weg.“
„Wenn du’s schaffst, mich zu finden, kannst du bleiben, Leo, aber ich schätze, du kommst nicht weit.“
„Der größte Teil des Lebens besteht aus Zufall, merk’s dir, Karl. Wir finden oft, was wir gar nicht gesucht haben.
„Bist ein Philosoph, was? Ich muss, Leo. Setz dich in deinen Zug und schlaf. Wirst die Träume brauchen.“ Karls Adamsapfel tanzt beim Lachen.
„Gibst du mir ein Bier?“, frage ich ihn. Er drückt mir die Flasche auf den Bauch. Ich rieche das Adrenalin unter Schweiß und Mann.
„Los jetzt, Leo.“ Obwohl ich nie gedient habe, salutiere ich vor ihm.
„Musst du noch üben, Junge. Bis irgendwann.“
Seine Schritte hallen nach. Ich trage Schuhe mit Gummisohlen. Was, wenn er recht hat und die gewohnte Welt zerbröselt wie eine Scheibe, die bricht? In Bewegung bleiben, egal ob auf Gleisen, auf der Straße, zu Fuß, nicht still stehen, sage ich mir. Der nackte Schwanz einer Ratte schlängelt sich über die Gleise, das Tier läuft vor dem Licht weg. Beim Öffnen zischt mich die Tür an, als wollte sie mich verhöhnen. Ich klettere in den Bauch des Stahlkörpers, komme an Schemen von Menschen vorbei, die sich unter Jacken und Mänteln verbergen, friedlich schlummern.
Als ich die Tür zurückziehe, spüre ich trotz der Dunkelheit, dass das Abteil verlassen ist. Der Koffer liegt in der Ablage, die Sitze fühlen sich kalt an, Eva und Ira sind verschwunden. Während ich mir überlege, ob sie den Speisewagen suchen, die Toilette benutzen oder in der Nacht spazieren gehen, bemerke ich, dass ihr Gepäck fehlt. Auf dem ausgeklappten Tisch entdecke ich ein Stück Papier. Ich schalte die Deckenspots an, betrachte das Kinderbild. Der Hintergrund ist grün schraffiert. In Erwachsenenschrift steht obendrauf: Liebe Grüße von Eva und Ira. Ein Herzchen daneben, Eine Telefonnummer in Mikroschrift statt Signatur. Darunter erkenne ich die Silhouette eines Gebirges, die Sonne am Himmel, Strichfiguren, rechts unten ein Kind, das die Arme ausbreitet, im Zentrum eine Frauenfigur im roten Kleid, die in einer Grasfläche versinkt, darüber einige Bienen. Auf halber Höhe schwebt eine blaue Figur den Bergen entgegen. Ich setze mich und halte das Bild lange in den Händen.