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Leuchtfeuer
Vischnevsky feuerte müde einen Ausdruck in den Papierkorb und griff nach dem nächsten. In der anderen Hand hielt er eine Tasse Kräutertee. Das Gebräu füllte den Raum mit einer Duftmischung aus Weihnachtsmarkt und Urinal. Nur selten konnte man Tassen der Lüge bezichtigen, diese schon: »Harmlos« stand in hakeligen Serifen darauf. Wenn sich das Wort schon nicht auf den psychogenen Inhalt bezog, so traf es schon eher auf Vischnevsky zu. Der Astrophysiker schrieb seit zwölf Jahren an seiner Doktorarbeit und hatte in dieser Zeit einen ausgeprägten Tunnelblick entwickelt, der sich ausschließlich auf seine hoch spezialisierte Tätigkeit als Sternenforscher beschränkte.
Immer, wenn er genug kochend heißen Phrytis-Aufguss getrunken hatte, verließ er seine irdische Hülle und verwandelte sich in einen Schamanen.
»Ah, Hulo, mein Lieber«, intonierte er mit geschlossenen Augen, »was sehe ich von dieser Welt. Leute und schlechtes Wetter, oder?«
»Und schlechte Fernsehprogramme«, antwortete Hulo.
Vischnevsky lachte hohl. »Natürlich. Dabei spricht das Licht der Sterne doch ganze Bibliotheken.«
Hulo – ein Schrumpfkopf, der an einer Kette um Vischnevskys Hals hing – grinste magisch und entgegnete: »Deine Entdeckung ist an Größe gar nicht zu ermessen.«
»Was du nicht sagst, aber auch die Welt der Geister spricht mit vielen Zungen.«
»Sie reden auf dich ein, dummes Zeug. Du solltest dich wirklich auf die Sterne konzentrieren.«
»Vielleicht«, meinte der Astrophysiker vage.
»Du hättest auch nicht diese Hexe wieder einladen sollen. Sie verwirrt dich mit ihrem Körper und mit ihren Kräuterelexieren.« Herablassend klang die Stimme des kleinen Schrumpfkopfs.
Vischnevsky sah auf die Uhr. »Die hatte ich ja ganz vergessen«, murmelte er.
Das stimmte nicht, denn in der letzten Stunde hatte er den Raum abgedunkelt, Honigkerzen aufgestellt, eine Flasche Met geöffnet und sich selbst einparfümiert. Nur so konnte die körperliche Vereinigung mit Linia vollzogen werden – auch wenn Hulo sie missbilligte, hatte sie doch eine inspirierende Wirkung auf Vischnevsky. Er bekam eine leichte Erektion, erhob sich von seinem abgewetzten Drehstuhl und nahm eine CD von Oliver Shanti aus dem Regal. Als die Klänge, die nicht von dieser Welt waren, jede Lücke im Bücherregal, jede Fuge der Fußbodenfliesen und jede Faser von Vischnevskys Körper erfüllten, begann er zu schweben.
Die schrille Klingel zerstörte die Illusion der Schwerelosigkeit. Der Physiker eilte zur Tür und drückte seinen Daumen auf den Öffnen-Knopf, an dem er für kurze Zeit festklebte.
Kurz darauf stand Linia im Türrahmen, füllte die Wohnung mit ihrem Lächeln, das ihre ewig langen Haare nach oben und ihre blumenbunte Bluse nach unten begrenzten.
»Ich habe Rosmarin-Tee mitgebracht«, hielt sie eine kleine, bunte Blechdose hoch.
»Ich liebe Rosmarin-Tee«, sagte Vischnevsky und ging in die Küche, und Linia folgte ihm. Während er Wasser kochte, erzählte Linia von den heutigen Besuchern ihrer Alternativmedizin-Praxis. Wie immer, hörte Vischnevsky nicht hin. Was kümmerten ihn andere Leute.
Schließlich saßen die beiden auf dem Sofa, hielten dampfende Tassen in der Hand, schlürften hier und da, ließen sich von der Musik treiben. Zwischen zwei Liedern stellte Linia ihre Tasse ab, zog Bluse und Rock aus. Vischnevsky griff zur Fernbedienung und drehte die Musik lauter, dann zog er sich ebenfalls aus und legte sich auf die Kräuterhexe, die sein tiefes Eindringen mit geschlossenen Augen genoss. Jetzt, dachte Vischnevsky, ist der Zeitpunkt gekommen, es ihr zu erzählen.
Nach einiger Zeit kehrten beide zu ihren Tassen zurück. Vischnevsky verringerte die Lautstärke von Oliver Shanti, so dass man sich normal unterhalten konnte.
»Es gibt so viele Welten da draußen«, begann er, dann nahm er einen Schluck. Linia sah ihn erwartungsvoll an, aber er hatte sich auf dieses Gespräch nicht vorbereitet und kannte seinen nächsten Satz selbst noch nicht. Also redete er einfach weiter und hörte sich dabei zu.
»Ich habe etwas entdeckt, Linia.«
Die Hexe machte ein Gesicht, als erwarte sie, dass er ihr nun seine unendliche Liebe gestehen wolle. Falls das der Fall war, wurde sie enttäuscht.
»Ich habe Spektren untersucht, Spektren von Sternen. Noch niemand hat das mit einer derartigen zeitlichen Auflösung getan wie ich. Deshalb haben die Jungs von der Südsternwarte das Projekt genehmigt. Sie wussten ja nicht, was ich gesucht habe.«
»Was hast du denn gesucht?«
Vischnevsky holte tief Luft. »Informationen. Modulierte Informationen. So, wie das Licht meiner Fernbedienung moduliert ist, damit der Empfänger sie versteht. So sind die Spektren bestimmter Sterne moduliert.«
»Und was heißt das?«
»Die Intensität des Lichtes schwankt bei einigen bestimmten Wellenlängen, und zwar mit einem System. Das sind Informationen. Ich kann sie noch nicht verstehen, aber es ist nicht zufällig. Es hat eine Struktur.«
»Von wem kommen denn diese Informationen?«
»Ich glaube, sie kommen von fremden Wesen, die so mächtig sind, dass sie die Sterne als Leuchtfeuer des Wissens verwenden. Wir müssen nur lesen, was sie in deren Licht geprägt haben. Das ist der Weg ins wahre Licht!«
Linia schenkte ihm das wunderbarste Lächeln, das er je gesehen hatte.
Vischnevsky fand seinen vorletzten Gedanken wieder und schüttelte langsam den Kopf. »Aber ich verstehe es nicht. Ich weiß nicht, was die Muster bedeuten.«
»Vielleicht«, schlug Linia vor, »solltest du sie jemandem zeigen, der sich mit dem Erkennen von Mustern auskennt. Du bist ein großer Fachmann für Sterne, und irgendwo gibt es vielleicht einen großen Fachmann für Mustererkennung.«
»Ich muss das selbst erledigen. Niemand soll mir diesen großen Durchbruch wegnehmen. Ich bin der Entdecker dieser Nachricht, wie auch immer sie lautet. Niemand sonst!« Damit stand er auf und begann, im Raum auf und ab zu tigern. »Wozu habe ich all die Jahre gearbeitet? Jetzt will ich die Früchte ernten. Ich will ein Buch schreiben. Ich will interviewt werden. Im Fernsehen und in den angesehnsten Fachzeitschriften. Ich will den verdammten Nobelpreis!« Damit donnerte seine Faust gegen eine Regalwand, so dass ein bronzener Kerzenhalter heraus fiel.
Linia war erschrocken. »Du hast so viel Energie!«
Erschöpft ließ Vischnevsky sich neben sie auf das Sofa fallen. Sein starrer Blick begann über dicken Augenrändern und endete an einer toten Spinne, die gegenüber an der Tapete hing.
Die Kräuterhexe ergriff seine Linke und legte sie auf ihren nackten Oberschenkel, und ihre Rechte darauf. »Meinst du nicht, du könntest jemanden fragen, den du gut kennst?«
Vischnevsky schnaubte. »Ich kenne niemanden. Ab und zu ruft mein Bruder an. Er nennt mich immer Würstchen.«
»Magst du vielleicht«, Linia zögerte, »mich fragen?«
Der Astrophysiker sah sie an. Kurz überlegte er, was Hulo dazu sagen würde – bisher der einzige, der Bescheid wusste. Er wusste so vieles. Erstaunlich,wenn man bedachte, dass er ein lange toter Schrumpfkopf war. Eine Tatsache, über die nachzudenken Vischnevsky stets unnötig fand.
»Andere«, fuhr Linia fort, »mögen mit Formeln und Tabellen an das Problem gehen. Ich würde die Muster durch meinen Mund sprechen lassen. So, wie Tote durch mich reden können. So, wie Gefühle durch einen Kuss Wirklichkeit werden.«
Vischnevsky schaute von seiner Hand auf ihrem Oberschenkel zu ihrem Schoß, ihren Brüsten und schließlich ihren Lippen, aber er sagte nichts.
»Weißt du noch«, redete die Hexe weiter, »wie einst eine Tote durch mich zu dir sprach? Deine Mutter?«
Der Physiker musste seinen Blick wieder von der Hexe abwenden, als er sich erinnerte. Nach einigen Sekunden hatte er sich selbst im Griff und verdrängte die unangenehmen Gedanken.
»Ich begebe mich in Trance«, schlug Linia vor, »und du zeigst mir die Muster.« Sie band ihre Haare zu einem Knoten, griff nach ihrer Handtasche und holte eine kleine Flasche hervor, die eine grüne Flüssigkeit enthielt. Die Hexe entfernte den Verschluss von der Flasche und leerte sie in einem Zug.
Vischnevsky zögerte. Er musste wenigstens Hulo nach seiner Meinung fragen. Der Schrumpfkopf war oft so viel vernünftiger als er selbst. Aber sein Blick klebte an Linias Gesicht. Ihre Pupillen verengten sich, so dass ihre graue Iris alle Eindrücke von außen abzuschirmen schien. Sie begann, tief zu summen, einen ewigen, nicht endenden Ton, der Vischnevsky fast das Bewusstsein raubte. Eilig griff er nach einigen Ausdrucken mit Kurven der Sternmodulation. Er breitete sie vor Linia aus und sah ihr gespannt zu.
Linias Summen wurde lauter, und ihre Augenlider flackerten. Vischnevsky kannte bereits diese Art von Trance. Schon oft hatte er zugesehen, wie sie auf diese Weise verschwundene Katzen suchte oder andere Menschen aus ihrem Mund reden ließ. Diesmal sprach ein ferner Stern durch sie. Monoton.
»Mein Licht durchdringt den Sternensee«, sagte sie, »und ich bringe euch die Botschaft der Vielfalt des Lebens. Die Inseln des Lebens existieren für alle.«
Sie begann zu singen, doch Vischnevsky hörte nicht mehr zu. Sein Blick fiel auf Holu. Er grinste ihn an, was er immer tat, aber diesmal war es ein besonders kaltes Grinsen.
»Hörst du nicht«, zischte er, »wie sie lügt? Es sind keine Emotionen, die aus ihr sprechen, es sind Irritationen, die den Altar der Wissenschaft aufweichen und vermodern lassen!«
»Ja ...«
»Es sollten deine Erkenntnisse sein, nicht ihre. Du solltest es mit deinen Mitteln herausfinden, nicht durch wirre, unbewiesene Pseudowissenschaft.«
»Ja ...«
»Du musst es beenden!«
»Ja ...«
Mit exakten Bewegungen erhob sich Vischnevsky, griff nach dem schweren Kerzenleuchter auf dem Boden und erschlug Linia.
Während er beobachtete, wie sein Teppich ihr Blut aufsog, kicherte Holu zufrieden.
Dann klingelte es. Vischnevsky ging zur Tür. Es waren die Aliens, die ihn abholen kamen.