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Das Lied in der Geschichte ist: M83 - Wait. Das Cover mit Akustikgitarre von Lauren Grace (Youtube) war Inspiration für eine der Szenen.
Leuchtfeuer
Während der Windstille liegt das Wasser auf der Stadt wie ein straff gespanntes Leichentuch. Nur meine Paddelstiche zerstören die Illusion, dass wir auf dem wolkenlosen Himmel zu gleiten scheinen. Hanna hält ihre Hand als Sonnenschutz an die Stirn und schaut in die leeren Fenster der Dachgeschosswohnungen, die an uns vorbeiziehen.
Unter der Wasseroberfläche wabern Reihen von Autos mit aufgeschlagenen Türen vor sich her, als würden sie nur kurz auf ihre Besitzer warten. Als würde da unten jeden Moment eine Familie mit Taucherglocken auf den Köpfen aus einer Bäckerei schweben, mit schwerelosen Schritten zum Auto hoppeln und einfach weiterfahren. Als wäre nichts gewesen.
Ein metallener Pferdekopf reckt sich aus dem Wasser. Hanna neigt ihren Kopf zur Seite, lächelt ihn an und legt die Hände auf seine Wangen. Streicht zärtlich über die Mähne, bis ins Wasser. Ein kurzes Winken, bevor der Augenkontakt abbricht. Dann strahlen ihre Augen mich an.
»Denk nicht daran«, sage ich. »Was meinst du, wie viele Möhren das Vieh am Tag wegfuttert.«
Sie faltet die Arme vor ihrer Brust und ihre Brauen verziehen sich in gespielter Sturheit, aber das Lächeln verrät sie.
»Weißt doch, was ich meine. Bist eine erwachsene Frau«, sage ich und bevor sie sich wegdreht, sehe ich das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwinden. Scheiße. Natürlich weiß sie‘s. Aber es bringt ja nichts. Ist alles so wie es ist. Die Pferde sind jämmerlich ersoffen, und mit ihnen der ganze Rest.
Wir werfen uns die Rucksäcke über und betreten den Steg vor einem Fenster der ehemaligen Stadtbibliothek. Holzplanken, Schranktüren und Regalplatten werden notdürftig von ein paar Nägeln und bunten Schnüren zusammengehalten. Die Plastiktonnen tauchen unter unserem Gewicht in das Wasser und heben sich erst wieder, als wir durch das Fenster in die Dunkelheit einer leeren Halle klettern. In der Mitte des Raumes schimmert schwarzes Wasser umgeben von einem Glasgeländer im Restlicht und versperrt die Sicht auf die unteren Stockwerke. Ein verlaufener Grafittipfeil auf dem Glas zeigt zum Treppenhaus, daneben, ein Wort in krakeliger Schrift: Markt.
Hanna stützt sich mit den Armen auf das Geländer und blickt wehmütig in die Tiefe.
»Die konnten bestimmt noch was retten«, sage ich. »Stell‘s dir vor: Eine Arche für Bücher. Zwei von jedem Exemplar. Und die machen dann kleine, süße Taschenbücher.«
Ihr Mund formt ein zaghaftes Lächeln, aber ihre Augen lächeln nicht mit. Ich lüge und glaube, sie weiß es. Niemand konnte irgendetwas retten. Die Sturmfluten kamen zu plötzlich, höhlten die Gebäude aus und spülten alles ins Nichts. Die Bücher werden höchstens noch von Fischen gelesen. Falls es irgendwo noch Fische gibt.
»Wegen vorhin. Ich hab‘s nicht so gemeint. Wenn wir ein paar Tiere finden, dann machen wir ‘nen verdammten Bauernhof auf«, sage ich. Das Lächeln erreicht ihre Augen und es ist ansteckend. Sie streckt mir ihre Hand entgegen und ich schlage ein.
Der Ausgang leuchtet wie eine Pforte aus reinem Licht. Lautes Stimmgewirr weht uns entgegen, als wir den Marktplatz betreten. Verkaufsstände, wild zusammengezimmert aus verwitterten Holzbrettern und Teilen alten Mobiliars, stehen dicht an dicht an den Seiten des Dachs. Am ersten Stand tanzen bunte Kleider im Wind. Am nächsten strahlen uns die saftigen Farben von Tomaten, Gurken und Möhren an. Hanna lässt im Vorbeigehen ihre Hand über den Stoff streifen, beugt sich über das Gemüse und begutachtet es mit liebevollem Blick, als wären es ihre eigenen Kinder. Dann nickt sie anerkennend dem Verkäufer zu.
»Ich geh schon mal vor, muss noch etwas für heute Abend besorgen. Wir sehen uns ...«, sage ich und schaue auf meine Uhr, »… in etwa zwei Tagen vorne am Platz?«
Sie grinst und streckt ihre Zunge heraus.
»Und guck den Leuten nicht das ganze Gemüse weg.«
Vor einem leeren Tisch mache ich halt. Der Verkäufer ist in dunkle Lumpen gekleidet, sein Kopf ist bis auf die Augenpartie in ein Tuch eingewickelt.
»Hier gibt‘s nichts zu sehen, weitergehen, weitergehen«, grummelt er mit verstellt tiefer Stimme. Ich verdrehe die Augen.
»Du bist echt ein Spinner, Tobi. Hast du‘s?«
Er zieht das Kopftuch herunter und ich blicke in das Gesicht eines Jungen, nicht älter als dreizehn.
»Mit dem falschen Bein aufgestanden, was? Klar hab ich‘s«, sagt er und schiebt eine zerbeulte Blechdose über den Tisch. »Und jetzt lass sie ‘rüberwachsen, alter Mann.«
Während ich meine Uhr vom Handgelenk schnalle, realisiere ich, dass Tobi nie so alt werden wird wie ich. Dass das Wasser bald unser kleinstes Problem sein wird. Ich schaue mich um und sehe heitere Gesichter, die versuchen, hier etwas Leben im Überleben zu finden. Sehe die Frau mit rundem Bauch am nächsten Stand, die einen Strampler in die Sonne hält. Ich bin wütend auf sie, dann wütend auf mich. Wütend auf diesen unersättlichen Mistplaneten, der sich das Bisschen, was wir noch haben, auch noch einverleiben wird. Ich werfe die Uhr auf den Tisch und stecke die Blechdose in den Rucksack.
»Woah! Casio mit Taschenrechner. Mega«, sagt Tobi und mustert die Uhr mit offenem Mund von allen Seiten.
»Pass auf dich auf, Tobi.«
»Warte mal«, sagt er und winkt mich verschwörerisch heran. »Das hast du nicht von mir gehört. Die machen morgen wieder eine Runde.«
»Wie, morgen? Das letzte Mal ist keinen Monat her.«
Er zuckt mit den Schultern, schnallt die Uhr um sein Handgelenk und lässt sie am Arm auf und ab rutschen. »Keine Ahnung. Ist so wie es ist.«
Ist so wie es ist. Für einen Moment muss ich schmunzeln, aber die Wut hält sich hartnäckig in meinem Hinterkopf.
Die schmale Marktgasse mündet hinter den letzten Ständen in einen offenen Platz. Wuchtige Trommelschläge hallen im Viervierteltakt durch die Luft. Das Feuer in einer rostigen Regentonne speit Rauchschwaden in den Himmel und ein alter, bärtiger Mann tanzt um sie herum. Regenbogenfarbene Stoffstreifen wehen am Holzstock, den er im Rhythmus der Trommeln mit einem lauten Klack in den Boden stößt. Hannas Fuß tappt im Takt, als ich mich zu ihr in die Menschenmenge stelle. Gebannt folgen wir dem Schauspiel.
Der Mann wirbelt den Stock gekonnt vor sich her und stößt die Spitze in Richtung des Himmels. Seine tiefe Stimme donnert über das Dach.
»Siehe, ein Ackermann wartet auf die köstliche Frucht der Erde und ist geduldig darüber, bis er empfange den Frühregen und den Spätregen.«
Er dreht sich ein Mal um die eigene Achse und murmelt Worte, die ich nicht ausmachen kann. Die bunten Streifen umwehen ihn wie ein Kokon.
»Und er betete abermals, und der Himmel gab den Regen, und die Erde brachte ihre Frucht.«
Ich drehe mich zu Hanna.
»Wenn das funktioniert, bin ich der nächste, der um die Tonne hüpft. Ansonsten, falls das mit dem Wetter so weiter geht ...« Sie greift meinen Arm, lächelt zuversichtlich in den Himmel und zieht genüsslich Luft in ihre Nase, als könnte sie aufziehende Regenwolken riechen. Dann lässt sie die Zunge über ihre trockenen Lippen fahren.
»Wir sollten das Wasser holen«, sage ich.
Wir schütteln unsere Rücksäcke über dem Tisch aus. Die Verkäuferin beäugt die sechs Möhrenbündel skeptisch.
»Kriegt ihr einen Kanister für«, sagt sie mit krächzender Stimme.
»Einen?!«, fauche ich.
»Wasser wächst nicht auf den Bäumen«, sagt sie und lacht auf. Bäume. Als ob. Ich öffne den Mund, aber bevor ich etwas sagen kann, nimmt sich Hanna kommentarlos den Wasserkanister und läuft weiter. Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern. Ich funkle sie mit zusammengekniffenen Augen an, dann folge ich Hanna.
Das Ruderboot gleitet auf den Wasserfarben des dämmernden Abendhimmels. Die Paddel vermischen das Blau, Rosa und Orange wie Pinselstriche. Wir trinken einen kleinen Schluck, nur genug, um den trockenen Hals und die Lippen zu benetzen. Dann starrt Hanna gedankenversunken auf den Kanister und ich sehe die Frage in ihren Augen, die sie nicht stellen will. Die unmögliche Frage. Wir oder die Pflanzen. Dursten oder hungern.
Ich lasse meinen Blick über die Dächer schweifen. Menschen sitzen in Klapphockern und lesen. Grillen Gemüsespieße über brennenden Tonnen. Lassen ihre Beine vom Dach baumeln und starren Löcher in das Wasser. Je weiter wir uns vom Stadtzentrum entfernen, desto menschenleerer wird es. Ein gedämpfter Schrei durchreißt die Stille, geht über in leises Winseln. Ein lebloser Körper hängt mit dem Kopf im Wasser aus einem Fenster.
Wir legen vor unserem Fenster an und klettern in die Wohnung. Ich knote das Tau am Heizrohr fest und zünde die Laterne an. Im Treppenhaus wabert das Licht über das stille Wasser, dem nur noch ein paar Stufen bis zu unserer Etage fehlen. Als wir das Dach betreten, funkelt Theos Brille im Kerzenschein. Er klappt das Buch zu und legt es auf den Tisch. Don Quijote.
»Wie oft willst du diesen alten Schinken eigentlich noch lesen?«, frage ich. »Ist doch langweilig, wenn du das Ende kennst.«
Er legt seine Hand auf das Buch und tippt mit einem Finger auf der Windmühle herum.
»Das Ende ist nicht wichtig. Es geht um die Reise dahin«, sagt er und lächelt.
Und für einen Augenblick vergesse ich, dass wir über ein Buch reden.
»Wie war der Ausflug?«, fragt er und schaut zum Wasserkanister in Hannas verkrampften Armen.
Ihr Blick ist gesenkt und sie scharrt mit der Fußspitze über den Boden.
»Wird immer schwieriger. Teurer. Ich weiß nicht wie lange ...«
Ich weiß nicht, wie lange wir noch überleben können.
»… wie lange das so weitergeht. Wir müssen uns überlegen, was wir mit dem Wasser machen.«
Theo nickt andächtig auf und ab.
»Was meinst du?«, fragt er und schaut zu Hanna. Ihr Blick streift unsere Gesichter und bleibt an den Tomatenstauden hängen.
»So wenig wie nötig, okay?«, sage ich. Sie nickt und läuft zu den Gemüsebeeten. Ich setze mich zu Theo und lege die kleine Blechdose vor ihn auf den Tisch.
»Von Hanna und mir. Alles Gute.«
Er nimmt drei Zigaretten aus der Dose und legt sie auf den Tisch. Seine Augen funkeln, während sein Blick von der Dose zu meinem Handgelenk wandert. Er schüttelt den Kopf.
»Passt schon«, sage ich. »Man muss sich auch mal etwas gönnen.«
»Ich habe für uns auch etwas Feines mitgebracht. Einen edlen Tropfen aus einer alten Zeit.«
Er greift unter sich und stellt eine Whiskyflasche auf den Tisch.
»Lagavulin. Mensch Theo, du steckst voller Überraschungen.«
Hanna setzt sich lächelnd an den Tisch und legt ihre Hand auf Theos Arm.
»Danke dir, Hanna. Danke euch beiden.«
Wir gießen uns Whisky ein, zünden die Zigaretten an und erheben die Gläser zum Nachthimmel. Der Alkohol rinnt warm beißend meine Kehle herunter. Ich ziehe genüsslich an der Zigarette und heiße das langsam einsetzende Schwindelgefühl willkommen. Hanna nimmt einen Schluck aus ihrem Glas und verzieht das Gesicht, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. Theo und ich lachen so laut auf, dass es über die Dächer hallt. Ich lehne mich zurück und betrachte den aufsteigenden Zigarettenqualm, der sich in den milchigen Sternenstreifen verliert. Überleben. Leben. Ich kann den Unterschied fast fühlen. Es liegt mir auf der Zunge wie ein vergessenes Wort.
Die halbleere Flasche glänzt honigfarben im Schein der sterbenden Kerze. Hanna liegt zusammengerollt im Gartenstuhl und schläft.
»Theo. Ich muss dir was sagen. Diese Wichser kommen morgen schon. Hat mir Tobi erzählt«, sage ich leise. Er ballt seine Hand zu einer Faust, dann huscht sein Blick zu Hanna, die mit einem leichten Lächeln auf den Lippen da liegt, als würde sie von etwas Schönem träumen.
»Was wollen wir machen?«, fragt er.
»Gibt nichts, was wir machen könnten. Gar nichts. Nada.«
Das silberne Kreuz an seiner Halskette funkelt mich herausfordernd an.
»Willst du nicht den da um Hilfe bitten?«, frage ich.
»So funktioniert das nicht.«
Ich schaue zu Hanna und probiere, ihre ruhigen Atemzüge zu imitieren, aber mein Puls rast.
»Wie funktioniert es dann? Hm? Erklär‘s mir doch mal.«
»Das würdest du nicht verstehen, nicht jetzt. Wenn du dich beruhigt hast ...«
Es platzt einfach aus mir heraus. Ich stehe neben mir, schaue mich von außen an. Die Worte, die aus meinem Mund kommen, sind nicht meine eigenen.
»Du verstehst da was nicht. Der wird uns nicht retten. Niemand wird uns retten. Ich hab echt genug von diesem ganzen heile Welt Schwachsinn. Wollen wir morgen vielleicht ein paar Plätzchen backen? Für ein Picknick im Park? Theo, wir werden erfrieren. Du, Hanna, ich. Alle. Es wird nichts übrig bleiben, außer Eis. Das alles hier, das ist künstliche Beatmung. Wir schieben uns Tomaten in den Rachen wie Magensonden, aber es bringt nichts. Wir sind schon längst tot.«
Hanna drückt sich so schnell aus dem Stuhl, dass er polternd umfällt. Ich sehe das nahende Gewitter in ihren Augen. Ihre Hand bebt, als sie auf mich zeigt.
»Ich was?«, frage ich.
Tot, gebärdet sie.
Wir schauen uns an, nur für einen Moment, aber es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Dann, ein Glitzern in der Luft. Ein dicker Tropfen zerplatzt auf dem Tisch. Hanna schaut hoch. Ihre Mundwinkel zucken im gleißenden Licht eines Blitzes und sie schließt die Augen. Krachender Donner dröhnt über das Wasser, bevor sich der Regen über uns ergießt.
Klimamodelle versagen, Wissenschaftler ratlos. Als es in den Medien rauf und runter lief, lachten wir, spülten die schlechten Nachrichten am Stammtisch mit kühlem Bier herunter.
»Panikmache. Das Zwei Grad Ziel kriegen wir schon hin.«
»Der Kohleausstieg kommt ja auch irgendwann.«
»Plastikstrohhalme haben die jetzt auch verboten, ist doch gut.«
Anerkennendes Nicken in der Runde.
Als wir knietief in unserer eigenen Scheiße standen, weil das Wasser die Kanalisation unterspült hatte und der bestialische Gestank nicht mehr auszuhalten war, lachten wir nicht mehr. Die Meere hatten die Straßen erobert und wichen nicht zurück. Der Pegel stieg und niemand wusste, warum.
Die letzte Nachrichtensendung, bevor das Stromnetz zusammenbrach. Der Moderator schluckte. Das Papier flatterte in seinen zitternden Händen. Eine neue Eiszeit. Zehn, zwanzig Jahre noch.
Ich hatte vorgesorgt. Harrte aus, bis das Wasser zum ersten Stock reichte, bevor ich das Schlauchboot durchs Fenster schob. Und da war sie, am Fenster gegenüber. Stand einfach nur still da, als würde sie auf den Bus warten. Ich paddelte rüber, half ihr ins Boot. Sie streckte zögernd ihre Hand aus und sagte: »Hanna.«
Die Stauden nicken lustlos unter dem trüben Morgenhimmel, während Hannas Hände in der nassen Erde wühlen. Die Tomaten waren reif, die Möhren müssten wir neu säen. Sie greift zur Gartenschere, schneidet an der Pflanze herum und rollt die rote Frucht zufrieden in ihrer offenen Handfläche.
»Ich bin ein Idiot«, sage ich ihr in den Rücken. »Ist ja kein großes Geheimnis. Kennst mich lange genug. Aber gestern … Gestern habe ich mir eine Nominierung für den Idiotenoscar verdient.«
Sie stemmt sich langsam nickend aus der Hocke, schaut mich ausdruckslos an und legt ihre Hände um mein Gesicht. Streicht mit den Daumen feuchte Erde unter meine Augen, dann entlang meiner Wangen. Steckt mir eine Taubenfeder ins Haar. Ihre Hände formen Worte in der Luft. Der Häuptling der Idioten. Sie strahlt mich an mit ihrem Sonnenlächeln und haut sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. Du hast es versprochen. Sie zeigt auf die Regentonne. Zeit für deinen Regentanz. Ich werfe meine Arme um sie, und die Tomaten und das Wasser und der ganze sterbende Planet sind wie aus meinem Kopf weggespült und ich sehe nur noch das Fenster auf der anderen Straßenseite und wie sie da steht und wartet.
»Danke, dass du gewartet hast«, flüstere ich. Sie drückt mich, bevor wir die Umarmung lösen. Hinter mir höre ich jemanden die Treppe hochkommen.
»Theo ...«, sage ich, bevor er lächelnd abwinkt.
»Ist alles gut.«
Er klopft mir auf die Schulter, setzt sich an den Tisch und schlägt die erste Seite von Don Quijote auf. Dann hören wir das dunkle Brummen der Bootsmotoren in der Ferne. Er klappt das Buch mit einem lauten Knall zu.
Schweres Stiefelstampfen hallt durch das Treppenhaus. Gewehrläufe spähen aus der Dunkelheit des Dacheingangs, bevor sich ein halbes Dutzend Soldaten vor uns aufreihen. Flecktarnuniform, schwarz-rot-goldene Flaggen an den Ärmeln. Die Flaggen der Bundesrepublik von gar nichts.
Hanna und ich liegen auf den Bäuchen, unsere Handflächen kleben am Boden. Sie zittert am ganzen Körper. Ich lege meine Hand auf ihre und hoffe, dass die Waffen unten bleiben. Theo ist stehen geblieben und fixiert die Soldaten mit ruhigem Blick.
»Flossen auf den Boden!«, schreit einer von ihnen, aber Theo bewegt sich nicht von der Stelle.
Der Soldat grinst, geht einen Schritt auf ihn zu und rammt ihm den Kolben hart in den Bauch, worauf Theo zusammensackt und sich still auf dem Boden krümmt. Hanna zuckt auf, als hätte die Waffe sie getroffen, der Schock fährt von ihrer Hand in meine.
Ein schmächtiger Mann in übergroßem, grauem Anzug betritt das Dach, läuft teilnahmslos an uns vorbei und mustert die Tomatenstauden, die sich im Wind biegen, als würden sie flüchten wollen. Er dreht sich zu uns, faltet einen Zettel auf und räuspert sich.
»Dann wollen wir mal. Nach Notfallermächtigungsgesetz Paragraph ...«
Er pausiert. Sein Blick huscht kurz über unsere Gesichter, dann steckt er den Zettel in seine Hosentasche.
»Sie kennen das alles sicherlich schon von meinen Kollegen, also kürze ich es mal ab. Sie erweisen der Bundesrepublik einen Dienst. Darum geht es doch hier. Und ich weiß, ich weiß, es sind harte Zeiten. Man muss den Gürtel enger schnallen. Jede Tomate zweimal umdrehen, sozusagen. Aber was gut ist für‘s Vaterland, ist am Ende auch gut für den Bürger. Und dazu gehört natürlich auch, dass jeder brav seine Steuern zahlt.«
Er klatscht in die Hände. »So, das war das.« Dann nickt er zu den Beeten. »Lasst eine stehen. Wollen ja nicht, dass jemand verhungert.«
Ein Soldat stampft zu den Tomatenstauden, reißt sie samt Wurzel aus der Erde und steckt sie in einen Jutesack. Tränen quellen aus Hannas geschlossenen Augen und ich kann nichts tun, außer ihre Hand etwas fester zu drücken und zu hoffen, dass das irgendwie ausreicht. Der Mann wedelt mit einem Papier. »Dankend erhalten. Unterschrift bitte.«
Als das Motorbrummen weiter in Richtung Innenstadt zieht, helfen wir Theo damit, sich aufzurappeln. Er humpelt gebückt an den Tisch und lässt sich in den Stuhl fallen.
»Alles okay?«, frage ich. Er nickt müde. Hanna schlurft zum Tomatenbeet, legt eine Hand über ihren Mund und betrachtet die umgewühlte Erde in Schockstarre, als wäre dort ein Mord passiert. Ich sage nichts mehr. Es gibt nichts zu diskutieren, nichts zu erklären. Die Realität ist so trist wie simpel. Die haben die Waffen und das Benzin und wir haben nichts.
Wir treiben ziellos durch die mondlichtgetränkten Häuserschluchten. Die Sterne vibrieren im Kielwasser des Bootes wie ertrinkende Glühwürmchen.
Wir müssen weg, gebärdet Hanna und legt ihren Kopf auf meine Schulter.
»Wohin?«
Weg.
Ich nehme einen Schluck aus der Whiskyflasche und gebe sie weiter. Danke, Theo.
»Wir könnten weiter nach Süden. Halten uns von den Städten fern. Theo hat gesagt, ist schlimmer als bei uns dort. Millionen von Menschen zusammengepfercht wie die Tiere, nur für das letzte Stückchen Erde unter den Füßen. Aber vielleicht finden wir etwas Ruhiges in den Bergen. Eine kleine Holzhütte irgendwo im Wald.«
Sie lächelt und schaut verträumt in die Nacht, als wäre sie in ihren Gedanken dort. Dann klopft sie auf meinem Arm herum. Hellgelbe Lichtkugeln schweben in der Ferne über dem Wasser. Hanna greift sich die Paddel und setzt das Boot in Bewegung.
Als wir näher kommen, nehmen die Silhouetten Form an. Eine Flotte von zwanzig, dreißig Ruderbooten durchschneidet mit am Bug hängenden Laternen die Dunkelheit. Sie biegen vor dem alten Fußballstadion ein, das auf einer Anhöhe aus dem Wasser ragt.
»Ist vielleicht so ein Kult«, sage ich. »Beten den Mond an oder so. Keine Ahnung, was die beim Stadion wollen, ist alles abgesperrt.«
Unser Boot läuft auf dem Parkplatz auf Grund. Wir schleichen im Schutz der Dunkelheit den Unbekannten hinterher, die mit den kugelförmigen Laternen in den Händen im Stadion verschwinden.
»Das ist ja offen!«, sage ich. Hanna guckt so verwirrt wie ich.
Wir laufen leise durch die leeren Hallen, nehmen die Treppe hoch zu den äußersten Tribünenplätzen und setzen uns, die Augen erwartungsvoll auf das dunkle Spielfeld gerichtet, als würden wir auf den Anpfiff warten.
»Die Saison läuft nicht gut für uns«, kommentiere ich. »Kommt ja auch niemand mehr zum Training.« Hanna grinst und haut mir auf‘s Bein. Der Mond malt eine fahle, geisterhafte Lichtschicht auf den Rasen.
Gras! Ist das echt?, fragt sie. Ich zucke mit den Schultern. »Kunstrasen vielleicht?«
Im Licht der Kugeln können wir die Unbekannten sehen, als sie in einer Reihe in das Stadion einlaufen. Die Herren tragen schwarze Sakkos über weißen Hemden, Krawatten, Fliegen. Die Art déco Kleider der Damen schimmern farbenfroh im Kerzenschein. Sie legen die Laternen in die Mitte der Tische, die im Stadion angeordnet sind wie die weißen Felder eines Schachbretts, und setzen sich. Mehr Menschen schälen sich aus der Dunkelheit und verteilen Schüsseln mit bunten Salatbouquets auf den Tischen. Silbernes Besteck funkelt durch die Luft, Metall schabt auf Glas, gieriges Schmatzen und angeregte Gesprächsfetzen wehen bis zu uns hoch. Hanna greift sich den Whisky aus meiner Hand, ohne ihren Blick abzuwenden, und trinkt einen großen Schluck.
»Das gibt‘s doch nicht«, sage ich.
Sie schaut mich an und gebärdet: Komm mit.
Wir laufen die Treppe hinunter bis aufs Spielfeld. Die Köpfe drehen sich zu uns. Verwirrtes Raunen, dann wird es still. Übersetze bitte.
»Nichts lieber als das«, sage ich und beobachte ihre Hände, während wir durch die Tischreihen schlendern. Hanna lässt ihren angewiderten Blick über das Gemüse und die verdutzten Gesichter schweifen.
»Wisst ihr, was ihr da esst? Wisst ihr, woher es kommt? Das kommt von unserem Schweiß. Unserem Blut. Von mir und den anderen Menschen dieser Stadt. Ihr seid keine Menschen. Ihr seid nicht mal Ungeziefer. Selbst Ungeziefer lebt in einem Kreislauf. Ihr seid Kannibalen. Was ihr da esst, sind Menschenleben.«
Niemand sagt etwas. Ihre verwirrten Blicke ruhen auf uns, als hätten sie gerade eine Sprache gehört, die sie nicht verstehen. Wir machen kehrt und laufen zum Ausgang, bevor Hanna vor einem der Tische stoppt. Sie greift unter die Platte und wirft ihn in einem kleinen Bogen um. Das Paar springt aus ihren Stühlen. Gemüse wirbelt durch die Luft. Die Laterne fällt zu Boden und fängt Feuer. Ein heller Schrei schallt aus den hinteren Reihen.
Wir laufen aus dem Stadion, ohne uns umzudrehen. Hannas Augen tränen, aber das angedeutete Lächeln auf ihrem Mund wirkt siegessicher, als hätten wir dieses eine Mal unseren Tabellenplatz verteidigt.
Es fällt mir erst auf, als Hanna sich in der Wohnung umzieht. Vielleicht wollte ich es nie wirklich sehen. Ihren eingefallenen Bauch. Die Rippen, die wie ein kleines Gebirge aus ihrem Körper ragen. Sie stülpt sich das weiße Nachthemd über und sieht aus wie ein Geist. Ich schaue auf meine knochigen Hände, bin selbst nur noch ein Skelett, das sich etwas Haut übergezogen hat.
Hanna legt sich neben mich auf das Ausziehsofa und verschwindet bis zum Kinn unter der Decke. Dann befreit sie ihre Hände und bildet jedes Wort so langsam und zärtlich, als wäre es aus zerbrechlichem Glas. Liebst du mich?
Eisblumen kriechen an ihrem Hals hoch, wuchern über die Wangen bis zur Stirn und saugen die Farbe aus ihrem Gesicht. Das Leuchten verlässt ihre Augen, sie starren leer durch mich hindurch. Schneeflocken wehen durch die Wohnung und bedecken ihren Körper, bis sie unter einer dicken, weißen Schicht begraben ist. Die Wände sind verschwunden, unter dem Sofa gibt es nur noch das endlose Eis. Ich blinzle. Ihre Augen leuchten, blicken mich geduldig an. Warten. Ich sage nichts, nehme sie einfach nur in den Arm. Bohnen, Reis, irgendetwas mit mehr Kalorien, denke ich. Wir brauchen irgendetwas.
Nachdem die Sturmfluten über die Stadt hinweggefegt waren, machten wir uns auf den Weg nach Norden. Das Ruderboot wippte im tosenden Wellengang. Der Proviant wurde knapp, aber ich musste sicher sein. Ich legte die Paddel ins Boot, stand auf und sah nichts als schwarzes Wasser um uns herum.
»Ich weiß nicht, wo wir sind«, sagte ich. »Könnte Greifswald sein. Stralsund. Rostock. Das kann doch nicht sein. Hier muss es doch noch irgendwas geben. Die können nicht einfach ...«
Hanna schaute mich sorgenvoll an, als meine Stimme brach.
»Vielleicht konnten sie noch rechtzeitig fliehen«, sagte sie leise. Ihr Blick fiel auf die Flasche mit dem letzten Trinkwasser.
»Vielleicht suchen sie dich. Ich glaube, wir sollten langsam wieder zurück.«
Ich starrte zum Horizont und warf leere Kanister in das Wasser, einen nach dem anderen, als könnte ich so das Meer besiegen. Als würde es nachgeben und die Toten wieder lebendig ausspeien. Hanna drückte ihren Kopf an meine Brust, schloss ihre Arme um mich, strich mit den Handflächen sanft über meinen Rücken. Weinte mit mir. Selbst, als die Abendsonne durch die graue Wolkensuppe blinzelte und langsam hinter dem Horizont versank, ließ sie mich nicht los. Und der dunkle Strudel, um den meine Gedanken kreisten, gab sie frei. Ich dachte daran, wie es sein würde, wenn ich einen Tag zu früh oder zu spät ins Schlauchboot gestiegen und das Fenster gegenüber leer gewesen wäre. Wie ich unter der Oberfläche nach einer Stadt suchen würde, die es nicht mehr gab, bis das Wasser die letzte Luft aus meinen Lungen drückt und die schwere Gleichgültigkeit in meinem Kopf mich nicht mehr auftauchen lässt. Aber hier war es anders. Hier dachte ich: Die richtige Umarmung vom richtigen Menschen zur richtigen Zeit. Die mächtigste Waffe der Welt.
Mit einem lauten Platsch landet das Kind im Wasser. Kreischend wirft sich das nächste in die Rutsche und schlittert auf dem Bauch vom Dach, bevor es kopfüber ins kalte Nass eintaucht.
»Das ist also Theos geheimer Zweitjob. Macht er echt gut«, sage ich, während wir am Rand sitzen und den Kindern zuschauen.
Ein Gehalt in Kinderlachen, gebärdet Hanna und lächelt den beiden Knirpsen zu, die uns vom Wasser aus zuwinken. Es gibt nichts Schöneres.
»Erinnert mich an meine eigene Kindheit, wo meine größte Sorge war, ob ich das Lego-Set zu Weihnachten bekomme, das ich mir gewünscht hatte«, sage ich und stehe auf. »Ich werde ihn mal fragen, ob er irgendwo noch einen Millennium Falcon rumzuliegen hat.«
»Ihr werdet die Stadt verlassen?«, fragt Theo, ohne mich anzusehen, malt mit einem Bleistift Schnurrhaare auf einen Pappteller, schneidet Augenlöcher aus und befestigt ein Gummiband an den Seiten. Die Augen des Mädchens glänzen, als er ihr die Maske aufsetzt.
»Ich bin ein Tiger!«, verkündet sie stolz.
»Nun geh‘ mit den anderen Tieren spielen«, sagt er und das Mädchen rennt davon.
»Ja«, sage ich. »Du kannst mitkommen, wenn du willst.«
Er schüttelt den Kopf.
»Schau dich um. Ich werde hier gebraucht. Hier kann ich noch etwas Gutes tun.«
»Ja. Das tust du. Hätten wir dich nicht getroffen ... Ich wollte nur nochmal Danke sagen.«
Ich dachte damals, du wärst ein hoffnungsloser Fall, gebärdet er.
»Geduld triumphiert über Blödheit«, sage ich und lache auf.
Etwas wehmütiges liegt in seinem Blick, als er zu Hanna schaut, die lächelnd auf uns zu läuft.
»Pass gut auf sie auf.«
Und ich denke, das mit dem Aufpassen funktioniert bei uns andersherum, aber sage es nicht. Hanna greift meinen Arm und zieht mich hinter ihr her, bis wir vor der Rutsche zum Stehen kommen.
»Nein«, sage ich. Hanna nickt eindringlich und schält sich aus ihrem Kleid.
»Kannst du gerne machen, ich hab keine Lust.«
Sie tippt mit dem Zeigefinger auf meine Nase und grinst und nickt und nickt.
Für einen Moment fühle ich mich schwerelos. Der warme Wind streichelt über meine Haut und ich erinnere mich. An die heißen Sommer am See, die Tarzanschaukel am Ast, das Kribbeln kurz vor dem Loslassen und an das Lachen vom Ufer. Das viele Lachen.
Als ich auftauche, schiebt Hanna ihre nassen Haare zur Seite und schaut mich erwartungsvoll an. Ich nicke.
Meine Wange klebte am Boden in roter Pampe. Ich versuchte zu schreien, aber spuckte nur Blut auf die weißen Kacheln. Es rann aus meinem Mund und vermischte sich mit Tomatensauce, die aus einer Dose Ravioli tropfte. Am Ende des Ganges schob ein unscharfer Schatten den Plastikvorhang zum Lagerbereich beiseite.
»Die ist hier rein gelaufen«, rief der Schatten.
»Komm raus, Süße, die Kavallerie ist da«, rief jemand über mir. Die Stiefelpaare um mich herum setzten sich in Bewegung. Ich war müde. Meine Arme und Beine waren schwer. Ich befahl ihnen, sich vom Boden zu lösen. Aufzustehen. Irgendetwas zu tun. Aber es war, als würde ich mit jeder Anstrengung nur tiefer in den Boden sinken. Die Welt verlor ihre Farbe, als Hannas panischer Schrei durch den Supermarkt hallte. Dann wurde es still. Meine Augen fielen zu.
Hanna nahm mich nicht wahr, als ich den Stuhl zwischen Sofa und Fenster schob und mich setzte. Ich schaute in leere Augen, die durch mich hindurch starrten, zum Fenster hinter meinem Kopf. Raus in eine bessere Welt, vielleicht, die es da draußen irgendwo geben müsste. Eine Welt, in der einige Dinge nicht passieren könnten. Ich beugte mich zu ihr vor, streckte meine Hand über ihrer aus und ließ sie dort schweben.
»Darf ich? Ich möchte dir etwas zeigen.«
Ihre Hand zuckte, als ich sie öffnete und kleine Samen in ihre Handfläche ausstreute.
»Tomatensamen. Wir bauen uns einen Garten auf dem Dach. Erde habe ich auch besorgt.«
Sie blinzelte, ein Blick wie ein Wiedererkennen, bevor sie ihn langsam senkte und die kleinen Körner in ihrer Hand musterte.
Auf dem Dach wippten die Pflänzchen aufgeregt im Wind. Hannas Finger strichen über die Blätter, tätschelten die grünen Früchte liebevoll.
»Und, wie geht‘s den Kleinen?«, fragte ich.
Sie drehte sich zu mir und lächelte.
»Sicher, dass du nicht mitkommen willst?«, rufe ich aus dem Boot hoch zu Theo, der sich über das Dach beugt.
»Schickt mir mal eine Postkarte«, ruft er zurück.
Ich werfe einen Blick auf die Ladung: Gemüse, Reis, Wasserkanister und Samen für einen neuen Garten, der Gegenwert unserer letzten Habseligkeiten, die wir auf dem Markt eingetauscht hatten. Bevor wir ablegen, winken Hanna und ich Theo ein letztes Mal zu.
Die ertrinkenden Gebäude verschwinden hinter uns, bis es um uns herum nichts gibt, außer endloses Meer. Hannas Kopf ruht auf ihrem Arm, der andere schneidet durch das Wasser und spritzt ihr Tropfen ins Gesicht. Ich schaue sie an und versuche, es zu begreifen. Wie sie nach all der Zeit, nach allem, was passiert ist, einfach so da liegen kann wie eine Katze, die sich zufrieden auf der Fensterbank sonnt. Mit jedem Blick hoffe ich, dass etwas von ihr auf mich abfärbt. Ein paar Kleckse Hannafarbe auf meinen Händen, mit denen ich ihr Geheimnis malen kann, damit auch ich es verstehe.
Wir folgen dem Kompass nach Süden, gleiten über Städte, die nur noch als solche erkennbar sind, weil ein Kirchturm aus dem Wasser ragt. Ein paar Tage hätte es dauern sollen, bis wir Berge sehen, Wälder, irgendetwas, aber jeden Tag bleiben wir im Meer gefangen, als würde es uns nicht gehen lassen wollen.
Dichte Nebelschwaden umhüllen uns. Das gleiche Grau in allen Himmelsrichtungen, das nur vom tiefschwarzen Meer durchbrochen wird. Wir haben die Wälder erreicht, aber sie sind nicht grün, sondern tot. Baumstämme treiben an uns vorbei, ihre Wurzeln stechen aus dem Wasser wie gierige Klauen und schaben am Boot. Wir sitzen mit dem Rücken zum Bug und ich schüttle einen Kanister, in dem die letzten Wassertropfen umhertanzen. Hanna dreht den Kopf zu mir. Ihre müden Augen sind nur halb geöffnet, die spröden Lippen formen ein mühevolles Lächeln. Ich muss an Theo und sein blödes Buch denken.
»Kein schönes Ende«, sage ich und nehme ihre Hand. »Aber die Reise war es wert.«
Etwas knirscht unter dem Rumpf und bremst das Boot, bevor wir zum Stehen kommen.
Gitarrensaiten vibrieren, wehen einsame Töne in die Nacht, die sich mit Schneeflocken und Funken vermischen. Holzscheite knacken in der Glut des Lagerfeuers. Die junge Frau webt die Noten zu einem melancholischen Klangteppich. Im Leerraum zwischen den Tönen schwingt etwas anderes mit. Etwas sehnsüchtiges, hoffnungsvolles. Dann fängt sie an zu singen.
your
dreams
Where nobody hides
Hanna wendet den Blick von der Sängerin ab und starrt in die Flammen.
Give
your
tears
To the tide
No time
No time
Das warme Licht flackert auf ihrem Gesicht, beleuchtet ihre rauen, roten Wangen und lässt eine silberne Haarsträhne schimmern. Sie saugt Luft durch geweitete Nasenflügel. Ihr Kinn beginnt zu zittern. Ihre Lippen drücken sich zusammen.
There's
no
end
There is no goodbye
Dis-
ap-
pear
With the night
Die Tränen überrollen die Schneeflocken, die an ihrem Gesicht kleben. Sie tragen sie über ihre Wangen und fallen auf das Eis. Als Hanna ausatmet, kondensiert ihr Atem und löst sich vor ihren Augen auf.
No time
»Alles in Ordnung?«, frage ich.
Hanna wischt mit dem Jackenärmel über ihre Augen und nickt. Wir winken der Gitarristin zu und machen uns auf den Rückweg.
Am Nachthimmel zeichnen sich auf einem Hügel die Silhouetten kahler Bäume ab. Eine kleine Insel im ewigen Nichts. Ich lasse mich zurückfallen und denke an die salzige Luft in der Stadt damals. An die Tomaten. Hanna am Fenster.
Es geht bergauf und aus glattem Eis wird knirschender Schnee. Die Erde unter den Füßen tut gut.
In der Dunkelheit des toten Waldes knarzt eine Tür. Hanna leuchtet im warmen Schein des Kamins. Sie winkt mich zu ihr, ruft:
»Jan, du alte Trantüte, komm schon!«
Meine Hände malen im Wind, verbinden Schneeflocken zu einer Sternenkonstellation.
Ich liebe dich.