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Lichtblick
Das Ende war nah. Er konnte durch die bleierne Zeit hindurch fühlen, wie ihn die schattenhaften Vorboten belauerten. Waren es Seelenräuber, oder nur übermächtige Ängste, die einen Weg aus seinem Unterbewußtsein gefunden hatten? Urängste vor dem unbegreiflichen Nichts? Erschöpft von dem Kampf, der hinter ihm lag, ergab er sich.
Liebe, Haß, Hoffnung und Enttäuschung würden binnen kurzer Zeit lediglich Worte werden, ohne jeden Inhalt. Er lebte und erlebte zweiundachtzig Jahre. Zu kurz? Zu lang? Werft Glück und Unglück in eine Waagschale. Was überwiegt? Lohnt der Aufwand die Mühe?
Die Kerze mit seinem Namen war abgebrannt, kurz vor dem Verlöschen. Flackerndes Lebenslicht. Gebunden an ein zitterndes Herz, das Mühe hatte, den vorgeschriebenen Rhythmus zu halten und kraftlos verdünntes Blut durch brüchige Adern pumpte. Eine verbrauchte Hülle mit offenen Augen, nicht sehend, abgelenkt von einem Film der besonderen Art. Sein Leben raste durch seinen müden Geist.
Die Schrecknisse, Mühsale, Demütigungen und Qualen, die er längst vergessen glaubte, meldeten sich ebenso zurück, wie all die Menschen, deren Wege er in Liebe oder Haß gekreuzt hatte. Auch Erinnerungen an schöne Zeiten waren dabei, an glückliche, unbeschwerte Tage voller Zuversicht. Freude im Überfluß.
Loslassen fiel so entsetzlich schwer. Endlich. Der letzte Atemzug. All die Mühsal, all die Anstrengungen der Vergangenheit verschwanden hinter einem Schleier, der die bösen Seiten gnädig verhüllte. Krieg, Vertreibung, der Tod seines Sohnes, nur noch Geschichte. Ein letztes Röcheln, dann hatte die Seele endlich Ruhe. Sie strebte dem Licht entgegen, das sie so magisch anzog und -
trat ein in die Unfaßbarkeit des Alls und Alles. Tauchte ein und fand den Frieden, der sich ihr so lange entzogen hatte. Erfahrungen, Gefühle und das Wissen eines ganzen Lebens wurden zu einem flüchtigen Gedanken, den man festzuhalten nicht imstande ist. Gutes und Schlechtes, Wichtiges und Banales - eine Fülle von Bildern und Emotionen lösten sich auf und verschwanden, wie ein Traum.
Sie ließ sich treiben durch Raum und Zeit.
Die Stunde schlug, das Ziehen wurde stärker. Sie wollte nicht. Wollte sich nicht lösen aus dieser wohltuenden Sphäre der Freiheit. Aus Ziehen wurde Drang und erfüllt von unendlicher Ruhe, die hinter ihr lag, ergab sie sich und -
schlüpfte hinein in die sich beständig teilenden Zellen, um neue Erfahrungen, Empfindungen und neues Wissen in einer ungewissen Zukunft zu sammeln. Entsandt durch universelle, göttliche(?) Magie, entzündete sie ein Lebenslicht in einer neuen Hülle.