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Lichtpfade
Lichtpfade
Manchmal gab es für Feloas Momente der Klarheit. Sie waren selten und flüchtig, meist streiften sie sein Bewusstsein nur am Rande, wie ein Blitz, der eine Landschaft fahl aufleuchten lässt, bevor sie wieder im Dunkel versinkt. In diesen Momenten wurde ein Vorhang zur Seite gerissen, der die Welt bedeckte. Ihm war dann, als könne er hinter jedes freundliche Lächeln, jeden maßgeschneiderten Designeranzug und jeden sarkastischen Kommentar sehen.
Federnd schritt er den von kaltem Licht erfüllten Gang entlang und betrat den Konferenzraum. Er ließ seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Zum dritten Mal in diesem Jahr war es einer Neugestaltung unterzogen worden, diesmal hatte man sich für abstrakte Gemälde an den Wänden und geschwungene, rote Ledermöbel entschieden, damit keinem Kunden entgehen konnte, wie progressiv, wie modern die Attitüde der Werbeagentur war. Die Farben irritierten ihn. Er versuchte, seinen Rhythmus zu finden, das überlegene Lächeln, das zur Schau gestellte Selbstbewusstsein, doch immer wieder dachte er darüber nach, wie sich das Gefühl beschreiben ließe, das ihn beschlich, wenn die Welt ihr wahres Antlitz zeigte.
Die modernen Möglichkeiten der Präsentation hatten den Konferenzen den letzten Rest an Substanz geraubt. Es ging nicht mehr um Ideen, es ging nicht mehr um Kreativität. Solche Dinge waren zu innerlich, zu vage, ließen sich nicht in bunte Grafiken, griffige Schlagworte und einfache Diagramme umwandeln. Werbung war schon immer ein oberflächliches Geschäft gewesen, aber es hatte Zeiten gegeben, in denen man die Oberflächlichkeit mit Elan gestaltet hatte, mit dem Feuer guter Ideen. Da verstand Feloas plötzlich, zwischen unendlich langweiligen Vorträgen zweier Mitarbeiter traf ihn die Erkenntnis. Es war so klar, was sich heutzutage hinter dem Vorhang, hinter ewigem Designerlächeln und grenzenloser Ambition verbarg: Leere, unfassbare Leere, grenzenlos und kalt.
Bisweilen stellte sich Feloas vor, dass ihn die Werbeagentur wegen seiner Kompetenz eingestellt hatte. Doch er kannte die Wahrheit. Elfen waren gutaussehend. Elfen hatten ein gewinnendes Lächeln. Elfen konnten mit Kunden umgehen, sie mit ihren sanften Stimmen umfangen und überzeugen. Feloas war ein Elf. Und er tat auch heute, was man von ihm verlangte. Er stand auch heute auf, um eine perfekt ausgearbeitete Präsentation charmant vorzutragen. Er hatte auch diesmal auf jede kritische Frage eine treffende Antwort. Er holte auch diesmal einen neuen Kunden für Moriadesigns an Land. Er funktionierte. Das war sein Job.
Sein Chef, ein korpulenter, jovialer Ork namens Ulgroth, dessen Stimme immer eine Nuance zu freundlich war, um aufrichtig zu klingen, klopfte ihm anerkennend lächelnd auf die die Schulter. Feloas lächelte ebenfalls, gepflegte, weiße Zahnreihen entblößend. Doch hinter sorgfältig ausgerichteter Gesichtsmotorik, hinter geschickt arrangierten Worten verbarg sich in Feloas ein einfaches, klar umrissenes Bedürfnis.
Das Bedürfnis, einen Pfeil zu nehmen und ihn seinem Chef bis zum Anschlag in den Kopf zu stoßen.
In seinem Apartment angekommen ließ er sich auf sein Bett fallen, eine Neuerwerbung, die den halben Raum ausfüllte. Gedankenverloren streichelte er seinen Hund, der sich an ihn schmiegte.
Normalerweise hätte er versucht, den Abend mit Kokain oder den gekauften Diensten einer flexiblen Halblingdame auszufüllen. Heute tat er das nicht.
Heute nahm er das Buch zur Hand.
Stirnrunzelnd strich er über das alte, abgewetzte Leder, betastete die geschwungenen, goldenen Buchstaben, roch an dem vergilbten Papier.
Er wusste selber nicht, warum er ausgerechnet dieses Buch mitgenommen hatte, als er die Wohnung seines verstorbenen Vaters inspiziert hatte. Nachdenklich starrte er aus dem Fenster. Sein Vater war gegen den Beruf seines Sohnes gewesen. Im Grunde war der alte Mann gegen alles gewesen, was mit der Moderne in Relation stand. Er war nur aufgeblüht, wenn er Feloas vom „wahren Pfad der Elfen“ erzählen konnte, wenn er versuchte, den ungeschickten Händen seines Sohnes das Lautenspiel, der ungeschickten Stimme die Sprache der alten Zeit beizubringen. Feloas hatte bei all diesen Dingen versagt. Er sagte sich häufig, dass ihm die Enttäuschung seines Vaters nichts ausgemacht habe. Verrückter alter Mann. Relikt einer vergangenen Zeit. Aber jedes resignierte Seufzen des Vaters hatte sich wie Sterben angefühlt.
Feloas schlug das Buch in der Mitte auf.
Nun geschah es zu dieser Zeit, dass ein Zeitalter der Wölfe, des Blutes und der Schrecken hereinbrach über die Welt. Orks und Zwerge, die aus dem Schmutz und Stein Geschaffenen, brachten Verwüstung und Brandschatzung, unermesslich war das Leiden derer, die da dem rechten Pfade folgten. Ihr Wehklagen aber erreichte den Schöpfer allen Lebens und gramerfüllt war sein Herz, als er es vernahm. Seine Augen schufen Tränen, welche die Feuer löschten. Sein Mund sprach Worte des Trostes, welche Zuversicht in die Herzen der Menschen brachten. Seine Hände aber formten aus dem ewigen Lichte eine neue Rasse, die da wandeln sollte über das Antlitz der Erde. Und so wurden die Elfen geschaffen und ihr Licht strahlte über die Welt. Der Strahlendste unter ihnen war Lendrion, welcher der Lichtbringer genannt wurde. Sein Pfeil wies dem Volke der Elfen den Pfad und die Schmutzgeborenen wurden vernichtet durch das Licht. Der Schöpfer sah auf die Erde herab und er sah, dass sein Werk gut war.
Als Feloas sich am nächsten Morgen im Spiegel betrachtete, war er davon überzeugt, seine Souveränität wiedergewonnen zu haben. Er atmete tief durch. Er musste seinen eigenen Weg im Auge behalten, statt sich diesem metaphysischen Unsinn zu widmen. Und am Ende seines eigenen Weges gab es keine Kriege und kein höheres Ziel, als den Posten des Projektleiters zugeteilt zu bekommen.
„Nun Feloas, das war eine reife Leistung gestern, wirklich beeindruckend, teilte ihm sein Chef mit dröhnender Stimme mit. „Setzen Sie sich bitte.“
Irritiert blickte Feloas zur Seite. In der Ecke des Zimmers saß aufrecht eine kleine, drahtige Zwergenfrau, deren kühler Blick sich etwas gelangweilt an die Zimmerdecke gehaftet hatte. „Darf ich Sie bekannt machen?“, setzte Ulgroth strahlend fort. „Das ist Gelima Glonsdater, unsere neue Projektleiterin.“
Feloas fühlte sich, als habe man ihm eine zentnerschwere Last auf den Brustkorb gelegt. Glonsdater war ein Star in der Werbebranche, millionenschwere Kampagnen für Lorien-Shoes ging auf ihr Konto („Lorien – das Beste von gestern für die Besten von heute“). Er schluckte, rang um Worte, versuchte seine Gedanken zu ordnen. Die Zwergin lächelte flüchtig und richtete ihre Augen, so kalt wie Gletscherseen, wieder an die Decke. Fassungslos starrte Feloas sie an. Schmutzgeborene.
Dann lächelte er verkrampft. „Auf gute Zusammenarbeit!“, sagte er. Ihm war schlecht.
Und es gab Elfen, die von dem Pfade abwichen, den der Schöpfer ihnen gewiesen hatte. Zu diesen Fehlgeleiteten aber sprach Lendrion: „Sehet, wir sind geschaffen, das Licht in die Welt zu tragen. Schlaget den Weg des Lichts ein und das Heil ist Euch gewiß. Kehret um, Brüder!“ Da frohlockten die Abtrünnigen und sie fanden zurück auf den wahren Pfad. Groß war die Ernte ihrer Pfeile und Schwerter unter den Schmutzgeborenen.
Kehrt um, Brüder. Eine Welt, in der es klare Ziele gab. In der man Blut mit Blut vergelten konnte. Eine Welt, in der man sicher auf der Seite des Lichtes stand, die Dunkelheit bedrohlich vor sich, aber klar umrissen. Kehrt um, Brüder.
„Feloas? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?“
Verwirrt blickte der Elf sich um. Um ihn herum fragende Gesichter. Er hatte die Frage eines Kunden verpasst. Normalerweise hätte er sich über seinen Fauxpas geärgert. Heute nicht. Mit Erstaunen und stiller Freude registrierte Feloas, dass sein Schild aus einstudierten Gesten, gewählten Worten und gewinnendem Charme brüchig zu werden begann und ihn diese Tatsache nicht einmal besonders störte. Seine Perspektive hatte sich geändert, er hatte einen Schritt aus der Mitte seiner Zeitgenossen heraus gemacht. Er betrachtete sie jetzt von außen, interessiert wie ein Forscher, der Insekten beobachtet, fasziniert, angewidert. Es gab keinen Vorhang mehr, nur noch wachsende Klarheit. je länger er sie beobachtete, desto deutlicher schienen diejenigen hervorzutreten, die verantwortlich waren. Verantwortlich für bunte Bilder und griffige Botschaften, hinter denen sich nur Leere befand.
Vielleicht konnte er noch umkehren.
Und groß war die List der Schmutzgeborenen, als das Licht sich in der Welt vermehrte. Ihre Zungen sprachen von Frieden, ihre Hände waren ausgestreckt zum Gruße und die Elfen zürnten ihnen nicht mehr. Doch aus Unrat kann nur Unrat hervorgehen und das Sinnen der Schmutzgeborenen war weiter gerichtet auf Dunkelheit und Hass. Den Lichtbringer jedoch vermochten sie nicht zu täuschen. Denn seht, sprach Lendrion, ich hatte einen Traum. In dem Traume tauschten die aus dem Schmutze kamen die Axt gegen die Feder, sie wandelten Blut in Tinte. Doch ihre Worte waren Gift, ihre Schriften waren Pest, ihre Bücher waren Tod und sie brachten Verderbnis in die Herzen der freien Völker. Wehe denen, die den Kampf aufgeben. Jeder Pfeil, den die Bögen der Elfen schießen, vermehrt das Licht.
Feloas war kalt. Doch seine klammen, kleinen Finger krümmten sich weiter um das glatte Holz des Bogens, seine Augen fixierten weiter ihr Ziel. Der Bogen war schwer, zu schwer für einen Zehnjährigen. Doch er würde nicht aufgeben, denn Aufgabe bedeutete innerliches Sterben, Elfen gaben nicht auf, sie folgten den Pfaden des Lichtes, ohne Furcht, ohne Zögern. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung war. Er sah nicht hin, doch er wusste, dass es sich um seinen Vater handelte. Er spürte, wie sich die dunklen Augen des alten Elfen auf ihn richteten, er spürte die Verachtung, die Enttäuschung. Er versuchte, sich zu konzentrieren, Ziel und Zielender sollten eins werden, verschmelzen. Als er die Sehne aus den Fingern gleiten ließ, glaubte er für einen Moment, dass er es geschafft hatte, dass er einen Schuss getätigt hatte, der eines Elfen würdig war. Doch der Pfeil war weit neben dem Ziel eingeschlagen irgendwo im Walde. Er blickte zu Boden, wagte es nicht, sich umzusehen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter, doch es war keine strafende Hand, keine schlagende Hand, es war nicht die Hand seines Vaters. Die Berührung war sanft und Feloas wusste instinktiv, zu wem sie gehörte. „Lendrion“, flüsterte er. Heiße Tränen liefen ihm über das Gesicht.
Als Feloas aufwachte, weinte er noch immer. Er glaubte, die Berührung der Hand auf seiner Schulter noch zu spüren, die Ruhe und Kraft, die sie ausgestrahlt hatte. Er wusste, er würde umkehren. Er musste die Leere nicht mehr verachten, er musste sie bekämpfen, er musste sie füllen, ausgestalten, mit geschwungenen goldenen Buchstaben, mit Licht. Mit Pfeilen.
Am Abend fuhr er zu der baufälligen Hütte seines Vaters und holte den alten Langbogen.
Und niemals zweifelten die Elfen an ihrem Weg, unbeirrt folgten sie dem Lichte.
Feloas fragte sich immer häufiger, wie er sich jemals der Fassade der Schmutzgeborenen hatte hingeben können. Es war doch so deutlich, dass es Gelima Glonsdater hinter der kalten Oberfläche ekstatische Freude bereitete, einen Elfen zu demütigen, ihm einfache Verwaltungsaufgaben zuzuweisen, sarkastische Kommentare über seine Vorschläge zu verbreiten. Es war doch so deutlich, dass der Zwerg, der sich in der Schlange an der Essensausgabe vor ihn stellte, für überlegen hielt. Es war doch so deutlich, dass sein Chef nur auf eine Gelegenheit wartete, ihn zu degradieren, ihn auszunutzen, ihn zu reduzieren.
Lächelnd schüttelte Feloas den Kopf. Sie waren manchmal fast unterhaltsam in ihrer Offensichtlichkeit. Diese Schmutzgeborenen.
Ergreifet die Waffen des Lichtes, Brüder, und tränket das Land mit dem Blute der Feinde.
Feloas übte abends im Garten den Umgang mit dem Bogen, bis es dunkel wurde. Seine Hände waren nicht mehr klein, er war stark, stärker als sein Vater, kein Relikt, keine Kopie der alten Zeit, sondern ihre strahlende Verkörperung. Er war geschickter, als er es zu hoffen gewagt hätte. In der Wohnung sprach er einige Verse in der alten Sprache. Dann legte er auf seinen Hund an.
Und tarnt Euch nicht, sondern gehet aufrecht wie es sich geziemet.
Lange betrachtete sich Feloas im Spiegel, nachdem er den silbernen Umhang seines Vaters angezogen hatte. Er ignorierte die entsetzten Blicke seiner Kollegen, als er damit zur Arbeit erschien.
Und sei der Kampf auch aussichtslos, die Elfen kennen ihren Pfad.
Feloas fand immer mehr, dass er eine gewisse Ähnlichkeit mit der Illustration von Lendrion, dem Lichtbringer hatte.
Furchtlos blicken sie in das Dunkel, einer neuen Zeit entgegen.
An einem Donnerstagmorgen im Spätsommer beschloss Feloas, seinen Bogen mit zur Arbeit zu nehmen. Er würde umkehren, er würde Licht bringen, um die Dunkelheit erkennen zu können. Er kannte seinen Pfad. Furchtlos würde er ihn gehen.