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- Anmerkungen zum Text
Der Text wurde inspiriert von @Isegrims, Amandine und Ein Morgen danach. Der zweite Text gefällt mir besonders wegen der elliptischen Erzählweise. Sie scheint mir wegen der Atemlosigkeit ganz passend zu meinem Inhalt.
Liebe in Zeiten von Corona
Karl träumt wieder und wieder von Afrika. Jetzt, wo er in Quarantäne sitzt, vergeht keine Nacht ohne Amandine. Wie sie sich wiegt im Tanz, wie ihre Haut glänzt und wie sie die Krallen ausfährt. Jawohl, eine Katze ist sie mit samtweichem Fell, das schwarz oder rötlich schimmert, je nachdem, ob Sonnenlicht oder Mondschein auf sie fällt. Mit den Fingern zeichnet er die Narben nach, die ihre wilden Umarmungen auf Schultern und Brust hinterlassen haben. Gleich, gleich wird er eine gewaltige Eruption erleben und Amandine überfluten.
Aber vorher wacht er auf. Jedes Mal. Das bisschen Erektion im Glied verschwindet unter seinem prüfenden Blick. Zeit zum Fiebermessen. Zeit, die neuesten Nachrichten über das Corona-Virus zu erkunden.
Ob er es ernst meine, fragt Amandines Mutter, häuft Bohnen und Fleischstücke auf seinen Teller, übergießt alles mit roter Soße. Über ihr weites, mit bunten Ornamenten bedrucktes Kleid hat sie eine weiße Schürze gebunden. Eine imposante Erscheinung, etwas füllig vielleicht. Aber man erkennt sofort, woher ihre Tochter die Schönheit hat.
Maman stellt eine Karaffe mit Zitronenlimonade auf den Tisch und rückt die Gläser zurecht. Sie lässt den Gast nicht aus den Augen.
“Amandine ist ein gutes Kind, sie hat die katholische Mädchenschule besucht."
"Ja, und sie ist eine gute Dolmetscherin. Das sagen alle im WHO-Büro. Wissen Sie, sie könnte auch in Europa gut arbeiten. Wenn sie das möchte."
Karl ist hungrig, auch ist er ermattet von der Taxifahrt durch die quirlige Metropole Yaoundé. Er kennt solche Millionenstädte, in denen Glanz und Elend untrennbar verwoben sind. Fast auf der ganzen Fahrt bis vor das einfache Holzhaus in der Vorstadt, wo Amandine aufgewachsen ist, hat er die Augen geschlossen gehalten. Elendsviertel, wo Kinder mit allem spielen, was sie finden.
Heute will er nichts davon sehen.
Amandine stellt sich hinter ihn und streichelt seinen Hals.
"Du kannst auch Bier haben, wenn du möchtest. Pass auf, die Soße ist ziemlich scharf."
Sie lacht und wirft den Kopf zurück. Eine kunstvoll geschlungene Perlenkette hält die schwarze Lockenpracht in Schach. Karl hat sie bisher nur einmal wie eine corona radiata um ihren Kopf schweben sehen. Das war, als Amandine ihn bis zu seiner Zimmertür im Hotel begleitet hat. An seinem letzten Arbeitstag im WHO-Büro, mit einem Abschiedsessen der Belegschaft für die Delegation aus Genf. Karl hat ein paar Tage Urlaub bekommen, bevor er zur UNO-Vollversammlung nach New York fliegen muss.
Sie wollte nicht mit aufs Zimmer kommen.
"Ich bin kein Escort-Mädchen", sagte sie und küsste ihn trotzdem. “Morgen besuchen wir meine Familie. Du willst sie doch kennenlernen, oder?" Es klang nicht so, als ob sie daran zweifeln würde.
"Aber natürlich, du kannst ja übersetzen, wenn sie mich nicht verstehen.“
"Maman wird dich verstehen. Sie kann sogar ein bisschen Deutsch."
Auf der Anrichte im spärlich möblierten Esszimmer stehen gerahmte Fotos von dunkelhäutigen jungen Männern in Uniform, dazwischen, halb verblichen, das Bild eines blonden Hünen mit ponceaurotem Band an seinem Hut. Amandine fängt Karls Blick auf und lacht wieder.
"Hübsch, n'est-ce pas? Mein Ur-Ur-Urgroßvater, glaube ich. Aber wer weiß das schon genau. Die zwei anderen sind meine Brüder, beide bei der Armee. Leider können sie heute nicht kommen."
"Du bist nicht mehr jung", sagt Maman, "willst du Kinder?"
Jetzt muss Karl Farbe bekennen. Ja, er möchte endlich Familie, sich dauerhaft niederlassen nach langen Jahren in Jets, von einem Erdteil zum anderen, wochenlang nur aus dem Koffer lebend. Er verdiene gut, habe einige Ersparnisse und eine große Penthauswohnung in Basel, von der aus er in drei europäische Staaten blicken könne. Der internationale Flughafen liege vor der Tür, kein Problem also, nach Yaoundé zu fliegen, wann immer es nötig sei.
"Warum gerade Amandine?"
"Ich liebe sie", sagt Karl. Es ist das erste Mal in seinem Leben, dass er diesen Satz ausspricht. Karl ist ein Mann der Zahlen, für seine Statistiken und Diagramme wird er in seinem Team geschätzt. Komplizierte Zusammenhänge kann er auf einfache Formeln herunterbrechen, die dann von medientauglichen Kollegen auf Konferenzen und im Netz kommuniziert werden.
"Ich liebe sie", wiederholt er und greift nach Amandines Händen auf seinen Schultern. Maman betrachtet das Paar aufmerksam. Schließlich nickt sie, steht auf, holt eine Schale mit Früchten von der Anrichte. Guaven, Safous, kleine gelbe Mangos.
Wenige Meter hinter dem Haus beginnt die Savanne, das Grasland. Amandine zerrt Karl nach dem Essen nach draußen. Sie will ihm etwas zeigen. Die Sonne verliert bereits an Kraft, wechselt von Gelb zu rot. Es wird schnell dunkel werden. Amandine lotst ihn an den Rand eines Wäldchens und lässt sich im Gras nieder.
"Bist du müde, alter weißer Mann", fragt sie, "willst du schlafen?" Sie lächelt und ihre weichen Hände streicheln über die grauen Schläfen, das schüttere Haar, die Stirn, die Augen. "Dann schlaf!"
Sie streckt sich neben ihm aus und schmiegt sich an seine Hüfte. Für ein paar Minuten liegt sie still, dann übernimmt sie die Regie. Sie ist jetzt kein zärtliches Kätzchen mehr, sondern eine fauchende Pantherfrau, die ihm das Hemd vom Leib reißt und die Krallen in seinen Rücken schlägt. Der Schmerz weckt seine Lebensgeister und facht seine Lust an. Jetzt ist kein Halten mehr, nicht für ihn, nicht für sie. Amandine stößt schrille Triumphschreie aus, als er in sie eindringt. Danach bleiben sie schwer atmend im Gras liegen und betrachten Hand in Hand den rasanten Sonnenuntergang. Worte sind unnötig. Das Gras hat die zerrissene Perlenkette verschlungen.
Auf dem Rückweg ins Hotel, wieder im Taxi, geht es um die Zukunft.
"Ich melde mich, sobald ich in Zürich gelandet bin. Du musst darauf achten, dass dein Handy immer geladen ist."
"Was denkst du denn, Karl, das Handy ist mein wichtigstes Arbeitsgerät."
"Du kannst jederzeit anrufen. Tag und Nacht. Ich meine es so, wie ich sage."
"Das weiß ich doch. Ich kenne dich besser, als du glaubst."
"Ja, jetzt kennst du mich und ich dich." Ihre gegenseitigen Berührungen verraten, was sie fühlen.
Der Abschied ist kurz. Eine stürmische Umarmung. Küsse überall ins Gesicht und auf die Hände. Karl muss früh am Flughafen einchecken, Amandine fährt zu ihrer Mutter zurück, mit der will sie Hochzeit und Abreise nach Europa planen. Als Erstes wird sie den Job im WHO-Büro kündigen. Sie möchte keine Zeit verlieren.
Das Fieber hat 38 Grad überschritten, Kopfweh und Hustenanfälle wechseln sich ab. Hände waschen, viel trinken, ab und zu eine Schmerztablette. Mails beantworten, Unterlagen sortieren, letzte Daten für den Abschlussbericht überprüfen. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Fachzeitschriften. Manchmal verschwimmen Buchstaben und Zahlenreihen zu bedrohlichen Gestalten mit unscharfen Profilen. Da hilft auch die frisch geputzte Brille nicht.
Bei der Ankunft in Zürich fühlte sich Karl schon etwas matt. Sein Sitznachbar, ein älterer Tourist aus Konstanz, schwärmte unentwegt von dem tollen Verhältnis zwischen Deutschland und Kamerun.
"Die Kameruner träumen noch immer von der deutschen Kolonialzeit. Kaum zu glauben, wie viele gute Erinnerungen die daran pflegen."
"Kann sein. Ist ja schon ein paar Jährchen her. Da verklärt sich manches."
Am Transportband verabschiedete sich der Konstanzer per Händedruck.
"Hat mich gefreut", sagte er, "so war der Rückflug nicht so langweilig. Afrika ist im Kommen."
Als Mitarbeiter einer UNO-Organisation hat Karl ein differenzierteres Bild im Kopf, aber keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Er muss überlegen, wie schnell er die Attikawohnung auf Amandines Bedürfnisse ausrichten kann. Er wird seine Zugehfrau um Hilfe bitten. Sie betreut sein Domizil schon seit einigen Jahren, wenn Karl unterwegs ist. Bei seiner Heimkehr sorgt sie auch mit Blumensträußen für etwas Farbe in der funktionalen, grau-weißen Wohnlandschaft. Farben, ja Farben müssen unbedingt in sein Leben kommen. Dann ist da noch der Trip nach Genf in die WHO-Zentrale. Klären, wie sein Arbeitsbereich künftig aussehen soll.
In die Freude, dass bald sein neues Leben beginnen wird, schleicht sich die Befürchtung ein, Amandine könne sich, isoliert über den Dächern von Basel, eingesperrt fühlen. Da würde wohl auch eine Dauerkarte für den Zolli nicht helfen. Er muss grinsen. Amandine Aug in Aug mit dem schwarzen Panther! Sofort schämt er sich für diesen Anfall von Humor, gräbt im Adressbuch des Handys nach alten Freunden und Bekannten. Fehlanzeige. Er wird eben viel Zeit mit ihr verbringen. Kleine Reisen, Museen, eventuell leichte Bergtouren. Amandine hat noch nie Schnee aus der Nähe gesehen. Und natürlich Paris, der Jardin des Plantes, Rilke, der Panther, immer wieder der Panther. Fiebrige Erregung packt ihn.
Den Flug nach New York muss Karl canceln. Eine Woche nach der Rückkehr aus Kamerun fürchtet er, sich eine Grippe eingefangen zu haben. Als in der Schweiz die ersten Zahlen zum Corona-Virus auftauchen, fühlt er sich nicht betroffen. Gegen die Grippe ist er geimpft, die kann natürlich trotzdem in abgeschwächter Form auftreten, das hat er schon erlebt. Italien, das europäische Epizentrum, liegt jenseits der Alpen, mit Skiurlaubern hatte er sowieso keinen Kontakt. Aber der Husten ist hartnäckig, und so folgt er dem Rat seiner Kollegen, sich bei dem Treffen in Genf testen zu lassen. Ihm fällt der Sitznachbar im Flieger ein, der Vielschwätzer. Ansteckung über feuchte Aussprache. Wer weiß, wo der Vielflieger sich überall herumgetrieben hat! War nicht auch von China die Rede?
Amandine meldet sich brav jeden Abend, meistens per WhatsApp. Sie erzählt lustige kleine Geschichten und wie sie von den Kollegen beneidet wird. Sie trägt am Zeigefinger einen kleinen Ring, Geschenk ihrer Mutter, die bedauert, dass die Zeit nicht für eine ordentliche Verlobung gereicht hat. Die Botschaften garniert sie mit Emojis, sucht diejenigen heraus, die auf dunkelhäutige Menschen zutreffen.
Karl verschweigt, dass er infiziert ist. Schickt Bilder vom Penthaus und fragt sie nach Wünschen.
"Ein paar Tage noch, dann komme ich zurück", sagt er, "nächste Woche kann ich wahrscheinlich buchen. Es ist alles gut."
Nichts ist gut. Aus den leichten Beschwerden entwickeln sich ernstzunehmende Beeinträchtigungen, die Hoffnung, dass er nach vierzehn Tagen wieder fit ist, schwindet zusehends. Die Zugehfrau verabschiedet sich ebenfalls in Quarantäne.
"Nur zur Vorsicht", mailt sie, "wie Sie ja wissen, bin ich alleinerziehend. Ich wünsche Ihnen gute Besserung."
Karl muss Nachbarschaftshilfe in Anspruch nehmen. Immerhin gibt es in seiner Wohnanlage ehrenamtliche Helfer, die Einkäufe erledigen. Man verständigt sich wortlos, schreibt Zettelchen und rechnet über PayPal ab. Natürlich weiß Karl längst, dass er mitten in einem Hotspot Europas steckt, am Basler Rheinknie, nur wenige Kilometer sind es nach Südbaden und ins Elsass. Erste Grenzschließungen haben stattgefunden. Wie lange wird es noch Flüge ins Ausland geben? Verdammte Pandemie!
Wieder erwacht Karl schweißgebadet. Seine Träume haben ihn in menschenleere Eiswüsten und ausgestorbene Großstädte katapultiert. Ein undeutlicher Schatten am Horizont scheint ihm zuzuwinken. Es könnte Amandine sein. Ja, es ist seine Liebe, sie streckt die Arme aus, ruft ihm etwas zu. Aber er kann sie nicht erreichen, bei jedem Schritt vorwärts weicht sie zurück.
Ihre letzte WhatsApp ist einige Tage alt. Vielleicht ist mit dem Handy etwas nicht in Ordnung. Das WHO-Büro in Yaoundé weiß nichts über sie, von einem Tag auf den anderen ist sie verschwunden. Hat die Kündigungsfrist nicht eingehalten. Aber man verspricht nachzuforschen.
Heute ist der 29. März. Zehn Tage der Quarantäne sind vergangen. Kann es sein, dass er sich etwas besser fühlt? Hat er die Krise überstanden?
Hoffnung keimt auf. Er möchte wissen, wie es um die Welt steht. Schließlich ist dies sein Beruf. China meldet zum ersten Mal, dass die Zahl der Neuinfizierten zurückgegangen sei. Aber was ist mit Afrika? Er ruft die Weltkarte der Johns Hopkins University auf. Die Seuche hat Afrika erreicht. Kamerun: 91 bestätigte Infektionen. Tendenz steigend. Karl muss hoffen und warten. Warten und hoffen.