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Liebliches Eiland

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16.08.2003
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Liebliches Eiland

Hoch steht der Sanddorn am Strand von Hiddensee. Ich schmeiße das Fahrrad in den Sand und lege mich inmitten der nackten Menschen, Relikt aus der Vergangenheit. Ich binde mir meinen Schal fester um den Hals und lache, lache, denke an Nina und bin erleichtert, dass es noch Dinge gibt, die so sind wie erwartet. Agnes und Mutter in ihren Bikinis neben mir, verwundert, vorsichtig. Spielt es eine Rolle, wessen Idee diese Reise war? Ein Spiel, es ist ein Spiel, wir verlassen Köln und sind nicht mehr dieselben, ganz plötzlich, werden ruhig, lieblich. Wir wissen, wie man sich seiner Umgebung anpasst, das haben wir gelernt. Die Wellen kommen, die Wellen gehen, salzig, schaumig, voller Algen, voller Muscheln, schwemmen alles Profane fort. Auf der Flucht vor der Welt, der Technik, lege ich mich nackt an den Strand, damit es mir nicht ergeht wie Bahnwärter Thiel, für einen Tag nur nicht so ergeht wie ihm, ungefährdet, ungeschützt. Er ist zu heiß, der Sand, ich lege mich auf meinen Schal, bin nun völlig unbekleidet.

Später am Tag schlage ich den Frieden tot mit Agnes und Mutter. Klippen, ganz steil, zwischen Agnes und mir, zwischen Mutter und mir, nie zwischen Mutter und Agnes. Steine mit einem Loch, Götter für die Hühner, zur Steigerung der Produktivität. Ich sammle sie, mit Loch oder ohne, groß oder klein, ich will sie alle, alle mitnehmen nach Hause, auf das mein Gepäck leichter wird. Man kann nicht alle Muscheln vom Strand mitnehmen, nur die schönsten, nimm immer nur die schönsten. Eine Stimme, Mutters Stimme, ich denke an das Buch auf meinem Nachttisch, konstanter Druck seit fünf Jahren. Matjesbrötchen und immer wieder Sanddorn. Scheußlich, aber typisch, abstoßend, aber einzigartig. Matjesbrötchen und Sanddorn, ich muss es einfach lieben, ich muss.

Versteckt im See, im Meer, es ist versteckt, sie hin! Sieh hin, ganz genau, mach die Augen zu, denk dir die Menschen davon, und sieh hin. Ich schließe meine Augen und denke an Hauptmann. Eins der lieblichsten Eilande, nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde. Hätten sie mal gehört, auf ihn, dessen Grab ich verzweifelt suche zwischen Sanddorn, Hühnergöttern und Fischbrötchen. Menschen, all diese Menschen, auf und neben Pferdekutschen, ein jeder ein Weltbad. Drei der freundlichsten Menschen, nur wehe, wehe, dass sie nicht etwa zusammen verreisen. Ich renne und renne, hänge Mutter und Agnes ab bis nur Landschaft bleibt und Nina und bunt, alles bunt, grün und gelb und blau und pink. Kein Fotograf, um all das festzuhalten, und wäre es nur in schwarz-weiß, einfach nur in schwarz-weiß.

Würde ein Micha, oder auch ein Thomas, ein Frank, ganz egal – würde er seine Hand auf meine Schulter legen, mich erlösen vom Fahrradfahren, Muscheln sammeln, Löcher in die Steine herbeiwünschen, ich würde sie nicht von meiner Schulter schlagen. Bereits während der Fahrt mit der Fähre das Gesumme von Agnes, wie, wie ging bloß die Melodie?

Ein Dornbusch, der nicht brennt. Ein Kap ohne gute Hoffnung, ein Kloster ohne Gebet. Nur Landschaft. Ich habe den Farbfilm vergessen, tatsächlich auf Rügen im Hotel liegen lassen, neben dem Reiseführer und der Sonnenbrille. Der Farbfilm, der Wind bläst ihn davon, das Meer spült ihn hinfort, Agnes und Mutter lachen über mich, mal wieder über mich, sonnenbebrillt und sonnengerötet. Der Farbfilm. Wie sollte er eine Rolle spielen zwischen Dünen, Reetdachhäusern und Bernstein? Bleibt nur ein Treiben lassen, sich Bilder eindrücken ohne Hilfsmittel, Agnes und Mutter heimlich herausschneiden.

Auch den Frieden gibt es nicht umsonst, das Betreten des Leuchtturms, die Fahrräder, die Kutschfahrt. Heile Welt gegen Geld, Schmutz auf der Idylle von Hiddensee, nerviges Stören der Ruhe, Glasscherben statt Bernstein. Nur stille, stille. Ein Weltbad. Zu viele Menschen für all die engen Wege, ich werde angerempelt, über den Haufen gefahren, werfe mit Hühnergöttern um mich, Schlangen vor der Toilette, Mutter geht ins Gebüsch.

Ich klettere auf den Leuchtturm, immer nur fünfzehn Menschen auf einmal, und laufe am Geländer entlang im Kreis, Runde um Runde, immer wieder. Ich suche Dänemark, suche Stralsund, suche, suche, bis ich Agnes und Mutter, Hauptmann, Nina und mich aus den Augen verloren habe und endlich Lieblichkeit finde.

 

Hallo Juschi!

Dein Text ist wohl einfach durchgerutscht, was?

Erster Absatz: Ich habe absolut kein Bild vor mir. "binde mir meinen Schal fester", "Bikinis", "nackt", "zu heiß". Dazu Menschen, Nina, Agnes, Mutter.
Die Gedanken deines Protagonisten fließen - womit ich nicht viel anfangen kann. Aber vielleicht finden sich geneigtere Leser, wenn der Text jetzt wieder in den Fokus rückt.

Grüße
Chris

 

Hallo Juschi,
vom Schreibstil her hat mir deine Geschichte sehr gut gefallen. Ich hatte beim Lesen irgendwie das Gefühl mit dem Text zu fliessen. Hm, weiss auch nicht genau, wie ich das beschreiben soll. Vielleicht liegt es an den Wiederholungen in den einzelnen Sätzen. War auf jeden Fall angenehm zu lesen.
Vom Inhalt her habe ich sie allerdings nicht so richtig verstanden.
Jemand macht mit seiner Mutter und Agnes Urlaub in Hiddensee. Wer ist Agnes? Seine Schwester? Seine Frau? Ist dann Nina seine Geliebte oder diejenige in die er heimlich verliebt ist? Anscheinend steht er seiner Mutter und Agnes nicht besonders nah (Klippen zwischen ihm und ihnen), die beiden hingegen scheinen sich wiederrum nah zu sein (Die Klippen sind niemals zwischen diesen beiden)
Was für eine Rolle spielt der Bahnwärter, wer ist Hauptmann?
Na ja, vielleicht kannst du ein wenig Licht in das Dunkel bringen.

Ein kleiner Fehler, der mir aufgefallen ist:

...es ist versteckt, sie hin. Sieh hin!
Da fehlt ein H beim ersten sie.

LG
Blanca :)

 

Hallo Juschi,
vom Stil her hat mir das auch sehr gut gefallen, für mich ein sehr intensiver, dichter Text. Das sommerliche Hiddensee kommt bei mir sehr gut an ... ich bekomme Appetit auf Fischbrötchen und habe Nina Hagen im Ohr. Obwohl sie wohl nicht die Nina ist, an die deine Prota denkt, oder doch?
Hauptmann und sein Bahnwärter Thiel sind mir auch ein Begriff.
Dennoch bleiben mir auch beim wiederholten Lesen Fragen offen.
Ich sehe eine Familie - eine Mutter mit ihren zwei Töchtern, Agnes und der Prota, so deute ich das. Gemeinsamer Urlaub auf Hiddensee, die Prota ist anders als Agnes und ihre Mutter, fühlt sich auch ausgeschlossen, denkt rebellisch, handelt auch ein wenig so. Sie ist auf der Suche nach etwas, auf dieser bunt flirrenden Sommerinsel, etwas jenseits der realen Menschen. Ein bisschen kommt mir das vor, als ob sie das Bild sucht, das sie sich von Hiddensee gemacht: ein liebliches Eiland.
Das ist alles vor allem intuitiv und vielleicht willst du auf etwas anderes hinaus.
Viel mehr kann ich zu deinem Text gerade nicht sagen. Ich finde ihn intensiv und verwirrend, auch wenn ich nicht sicher bin, ihn ganz gefasst und verstanden zu haben, hat er mir gefallen.
Liebe Grüsse,
ciao
Malinche

 

Hallo Juschi,
Ich hatte beim Lesen dass Gefühl, als eile die Protagonistin, sie hetzt, als wolle sie Hektik und Druck entfliehen, auf der Suche nach einem Ruhepol.
Den Schluss verstehe ich so, dass sie in eine Art Taumel gerät, der die Wirklichkeit zurücktreten lässt und sie mit Glück ????? erfüllt????


LG
Goldene Dame

 

Hallo,
dein Text hat mir sehr gut gefallen. Ich lese gerne solche "Gedankenfetzen", wenn sie gut geschrieben sind, überlassen sie es der eigenen Phantasie, den Erinnerungen und Erfahrungen, sich ein Bild, eine Geschichte, oder eben den eigenen "Film" zurecht zu spinnen. Dein Gedankenstrom hat das bei mir bewirkt.

Besonder schön fand ich diesen Satz, ich musste sofort schmunzeln, das kenne ich selbst nur zu gut ;):

[...], sich Bilder eindrücken ohne Hilfsmittel, Agnes und Mutter heimlich herausschneiden.

Beste Grüße,
H.D.

 

Salü Juschi,

Deine Geschichte hat mich ganz schön wirbeln lassen.

Hauptmanns 'Bahnwärter Thiel' hat mich vor Jahren ungeheuer beschäftigt: Die Konfliktsituation als Vater von Thomas, als Ehemann der zweiten Frau Lene und die heimlichen Gespräche mit Minna, der verstorbenen ersten Frau. Und dann das schreckliche Ende.

Dies als Basis zum Ausflug nach Hiddensee mit 'Mutter und Agnes', dem Denken an Nina?
Wenn Thiel im Hintergrund steht, verstehe ich die Gedankenfetzen, die besser nicht zu Strängen werden und die Atemlosigkeit des Prot., die Du für mich in diesem Kontext sprachlich sehr gut umgesetzt hast.

Ein bisschen Textkram noch:

Versteckt im See, im Meer, es ist versteckt, sie hin!
sieh hin!
Das ist schon alles.
Jetzt hole ich mir das kleine, gelbe Reclamheftchen und lese den Bahnwärter :)

Herzlichen Gruss,
Gisanne

 

„Später am Tag schlage ich den Frieden tot mit Agnes und Mutter.“

Hallo Juschi,

beim ersten Lesen –

es war angenehm flüssig und ging schnell –

blieb, wie wohl bei den anderen Kommentatoren auch, Ratlosigkeit und der erste Eindruck war, den Text als eine Heimreise in die Sommerfrische zu begreifen.

Aufgestoßen war mir allein das mehrmalige „stille“ und das Besteigen des Leuchtturms: „Ich klettere auf den Leuchtturm, immer nur fünfzehn Menschen auf einmal“ als stiege der Icherzähler Menschen hinauf, ersteige Menschenleiber, um oben angekommen „am Geländer entlang im Kreis, Runde um Runde, immer wieder“ zu laufen, Orte, von denen er weiß, mit den Augen zu suchen, um Menschen, die er kennt, aus den Augen zu verlieren „und endlich Lieblichkeit finde[t].“ tatsächlich kann man den Turm über 102 Stufen und nicht über Menschenleiber besteigen. Er steht auf einem 72 m hohen Hügel und misst selbst 28 m, dass der Erzähler tatsächlich 100 m hoch über allem stünde. Und um auch das zu erläutern: real dürfen 15 Besucher den Turm gleichzeitig besichtigen, dass es auf ihm nicht zu eng werde.

Sei dem, wie’s will und nähm’ ich die letzten Sätze wörtlich, fragte dann noch, warum die „Stille“ immer kleingeschrieben wird, wie es allein in der Verbindung mit Verben und Substantiven üblich ist (z. B. „das stille Örtchen“, „still halten“ u. v. a. m.) und die entsprechenden Sätze anführe wie „eins der lieblichsten Eilande, nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde“ und als der Wunsch nicht erfüllt wird „heile Welt gegen Geld, Schmutz auf der Idylle von Hiddensee, nerviges Stören der Ruhe, Glasscherben statt Bernstein. Nur stille, stille. Ein Weltbad. Zu viele Menschen für all die engen Wege, …“, da bedeutet der Leuchtturm nur mehr ein Fluchtpunkt. Und wenn einer sich selbst aus den Augen verliert …,

dann weiß ich nicht mehr, ob mir das so gefallen darf, was dort so gekonnt und verschlüsselt erzählt wird. Aber vielleicht bin ja nur ich die 15 Menschen auf einmal hochgeklettert und hiermit abgestürzt!

Gruß

friedel

PS: Das o. g. Zitat war mir beim ersten Lesen gar nicht erst aufgefallen.

 

Hallo Zusammen,

ich danke euch sehr für eure Gedanken zu meiner Geschichte und entschuldige mich dafür, dass ich hier momentan leider keine verlässliche Größe bin und erst heute zum antworten komme, da ich euren Kommentaren gerecht werden möchte.

Ich weiß, dass es nicht fair ist, diesen Text auf seine Leser loszulassen. Er besteht aus vielen Gedankensprüngen der Protagonistin, Sprüngen zwischen Realität und Erinnerungen, die oft nur schwer nachvollziehbar sind. Er steckt voller Andeutungen, auf Nina Hagens Lied über einen Besuch auf Hiddensee, auf Gerhard Hauptmann und sowohl seinen Bahnwärter Thiel als auch seine Verbundenheit mit der Insel (der Ausdruck "liebliches Eiland" stammt von ihm), auf all die Eigenarten und Orte Hiddensees. Und eine Geschichte muss für sich wirken, ohne nachträgliche Erklärungen.

Dennoch hab ich diesen Text nach monatelangen Zögern gepostet, euren Kommentaren entnehme ich, dass er die beabsichtigte Stimmung offenbar doch gut vermittelt.

Im Detail:

@ Chris:
Dir ein Riesendankeschön fürs wieder in den Fokus rücken. Du siehst, was Du damit ausgelöst hast ;)

@ Blanca:
Schön, dass dir der Schreibstil gefallen hat, der ist auch für mich an der Geschichte das besondere.
Ich hoffe, ich konnte oben schon einiges aufklären. In meinen Augen ist die Erzählerin weiblich, Agnes ist ihre Schwester, Nina ist tatsächlich Nina Hagen und ihr entsprechendes Lied. Zu Hauptmann siehe oben. Danke fürs Fehler finden, wird gleich noch korrigiert.

@ Malinche:
Oh, ich danke dir. Du vermittelst mit deinen Worten in etwa den Eindruck, den ich mit der Geschichte erzielen wollte. ERstaunlich, dass du die Andeutungen erkannt hast.
Ja, auch für mich jagt die Erzählerin einem Bild nach, dem Bild von der Insel, dem Bild von der Beziehung zu ihrer Schwester und Mutter - beides nicht sehr lieblich. Sie flüchtet, als die Realität sie einholt. Spannend, dass du sie dennoch als rebellisch erlebst.

@ Goldene Dame
Dein Gefühl kann ich nachvollziehen. Die viel gesuchte Lieblichkeit findet die Protagonistin wohl tatsächlich erst jenseits der Realität, in der Abwendung von der Welt - ob das Glück ist?

@ Henry
Danke :) Den Ausdruck Gedankenfetzen find ich passend.

@ Gisanne
Ach ja, der Bahnwärter :) War für mich immer auch Kritik an der Technik, der Industrialisierung, in Form der Züge. Und Hauptmann hat in Hiddensee seinen ruhigen Gegenpol zur hektischer werdenden Welt gefunden. Daher denkt die Protagonistin immer mal wieder an Thiel.

@ Blackwood
Wenn ich mehr Zeit hätte, würde ich jetzt nachsehen, wann und wo du diesen Wunsch geäußert hast - ich behaupte somit ganz frei heraus einfach mal, dass es allein dieser war der mich zum posten der Geschichte gebracht hat ;) Nein, die Geschichte liegt seit langem, ich hatte wie oben ausgeführt Hemmungen, sie den Lesern zuzumuten. Aus genau dem Grund, den du benennst: sie wirkt privat und macht den Leser zum Außenstehenden.

Mit deinen Gedanken kann ich sehr viel anfangen, danke. Vielleicht sehnt sie sich auch einfach danach, dass die Beziehungen um sie herum so einfach und ruhig sind, wie die Insel eigentlich sein sollte. Eins nur noch: die Nacktheit ist natürlich auch symbolisch zu sehen, eigentlich aber ein anpassen an die Verhältnisse, da auf Hiddensee diese am Strand durchaus noch üblich ist - ein Relikt aus vergangener Zeit.

@ Friedrichard
Du hast natürlich Recht, einige Gedankensprünge sind nicht logisch. Aber als Gedankenfetzen genau so, wie sie in dem Moment im Kopf der Protagonistin strömen. In Bezug auf "stille" - es ist als Aufforderung zu verstehen, analog zum "Pst", als "sei still" daher klein. "Eines der lieblichsten Eilande, nur stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde" stammt übrigens auch von Hauptmann.

Ich konnte mir euren Gedanken viel anfangen, bin froh, dass ich die Geschichte dennoch hier eingestellt habe. Danke!

Liebe Grüße
Juschi

 

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