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Liebliches Eiland
Hoch steht der Sanddorn am Strand von Hiddensee. Ich schmeiße das Fahrrad in den Sand und lege mich inmitten der nackten Menschen, Relikt aus der Vergangenheit. Ich binde mir meinen Schal fester um den Hals und lache, lache, denke an Nina und bin erleichtert, dass es noch Dinge gibt, die so sind wie erwartet. Agnes und Mutter in ihren Bikinis neben mir, verwundert, vorsichtig. Spielt es eine Rolle, wessen Idee diese Reise war? Ein Spiel, es ist ein Spiel, wir verlassen Köln und sind nicht mehr dieselben, ganz plötzlich, werden ruhig, lieblich. Wir wissen, wie man sich seiner Umgebung anpasst, das haben wir gelernt. Die Wellen kommen, die Wellen gehen, salzig, schaumig, voller Algen, voller Muscheln, schwemmen alles Profane fort. Auf der Flucht vor der Welt, der Technik, lege ich mich nackt an den Strand, damit es mir nicht ergeht wie Bahnwärter Thiel, für einen Tag nur nicht so ergeht wie ihm, ungefährdet, ungeschützt. Er ist zu heiß, der Sand, ich lege mich auf meinen Schal, bin nun völlig unbekleidet.
Später am Tag schlage ich den Frieden tot mit Agnes und Mutter. Klippen, ganz steil, zwischen Agnes und mir, zwischen Mutter und mir, nie zwischen Mutter und Agnes. Steine mit einem Loch, Götter für die Hühner, zur Steigerung der Produktivität. Ich sammle sie, mit Loch oder ohne, groß oder klein, ich will sie alle, alle mitnehmen nach Hause, auf das mein Gepäck leichter wird. Man kann nicht alle Muscheln vom Strand mitnehmen, nur die schönsten, nimm immer nur die schönsten. Eine Stimme, Mutters Stimme, ich denke an das Buch auf meinem Nachttisch, konstanter Druck seit fünf Jahren. Matjesbrötchen und immer wieder Sanddorn. Scheußlich, aber typisch, abstoßend, aber einzigartig. Matjesbrötchen und Sanddorn, ich muss es einfach lieben, ich muss.
Versteckt im See, im Meer, es ist versteckt, sie hin! Sieh hin, ganz genau, mach die Augen zu, denk dir die Menschen davon, und sieh hin. Ich schließe meine Augen und denke an Hauptmann. Eins der lieblichsten Eilande, nur stille, stille, dass es nicht etwa ein Weltbad werde. Hätten sie mal gehört, auf ihn, dessen Grab ich verzweifelt suche zwischen Sanddorn, Hühnergöttern und Fischbrötchen. Menschen, all diese Menschen, auf und neben Pferdekutschen, ein jeder ein Weltbad. Drei der freundlichsten Menschen, nur wehe, wehe, dass sie nicht etwa zusammen verreisen. Ich renne und renne, hänge Mutter und Agnes ab bis nur Landschaft bleibt und Nina und bunt, alles bunt, grün und gelb und blau und pink. Kein Fotograf, um all das festzuhalten, und wäre es nur in schwarz-weiß, einfach nur in schwarz-weiß.
Würde ein Micha, oder auch ein Thomas, ein Frank, ganz egal – würde er seine Hand auf meine Schulter legen, mich erlösen vom Fahrradfahren, Muscheln sammeln, Löcher in die Steine herbeiwünschen, ich würde sie nicht von meiner Schulter schlagen. Bereits während der Fahrt mit der Fähre das Gesumme von Agnes, wie, wie ging bloß die Melodie?
Ein Dornbusch, der nicht brennt. Ein Kap ohne gute Hoffnung, ein Kloster ohne Gebet. Nur Landschaft. Ich habe den Farbfilm vergessen, tatsächlich auf Rügen im Hotel liegen lassen, neben dem Reiseführer und der Sonnenbrille. Der Farbfilm, der Wind bläst ihn davon, das Meer spült ihn hinfort, Agnes und Mutter lachen über mich, mal wieder über mich, sonnenbebrillt und sonnengerötet. Der Farbfilm. Wie sollte er eine Rolle spielen zwischen Dünen, Reetdachhäusern und Bernstein? Bleibt nur ein Treiben lassen, sich Bilder eindrücken ohne Hilfsmittel, Agnes und Mutter heimlich herausschneiden.
Auch den Frieden gibt es nicht umsonst, das Betreten des Leuchtturms, die Fahrräder, die Kutschfahrt. Heile Welt gegen Geld, Schmutz auf der Idylle von Hiddensee, nerviges Stören der Ruhe, Glasscherben statt Bernstein. Nur stille, stille. Ein Weltbad. Zu viele Menschen für all die engen Wege, ich werde angerempelt, über den Haufen gefahren, werfe mit Hühnergöttern um mich, Schlangen vor der Toilette, Mutter geht ins Gebüsch.
Ich klettere auf den Leuchtturm, immer nur fünfzehn Menschen auf einmal, und laufe am Geländer entlang im Kreis, Runde um Runde, immer wieder. Ich suche Dänemark, suche Stralsund, suche, suche, bis ich Agnes und Mutter, Hauptmann, Nina und mich aus den Augen verloren habe und endlich Lieblichkeit finde.