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Lieblose Plätzchen
„Anna hat in den ersten zwei Monaten der Schwangerschaft bereits eine überdurchschnittlich starke Bindung zu ihrem Kind aufgebaut.“ Das stand so in ihrer Patientenakte. „Eine langfristige, psychologische Betreuung wird als notwendig eingestuft."
Wütend knetete sie den Teig für die Butterplätzchen, ohne zu beachten, dass ihr Tränen die Wangen herunter liefen und sich mit Eiern, Zucker, Mehl und Milch vermischten. Eine solch grobe Behandlung war der Plätzchenteig von ihr nicht gewöhnt. Normalerweise wurden die mit Bedacht ausgewählten Zutaten liebevoll, ja beinahe zärtlich zu einem goldgelben Knetteig verarbeitet, im warmen Ofen zu Sternen, Herzen und Tannenbäumen ausgebacken und anschließend in weihnachtlich dekorierten Tütchen verpackt. Allein dazu bestimmt ihren Verwandten und Freunden eine vorweihnachtliche Freude zu bereiten.
Letztes Jahr hatte sie die Plätzchen mit Marvin gebacken. Kurz dachte sie an die Mehlschlacht und daran, wie sie sich anschließend unter der Dusche geliebt hatten. Das alles schien so unendlich weit entfernt. Wer weiß, vielleicht wäre alles ganz anders gekommen, dachte sie, wenn nur nicht... Sie zwang sich nicht weiterzudenken. Was passiert war, war nicht mehr zu ändern. Marvin würde nicht zurückkommen, der Schmerz hatte einen Keil zwischen sie getrieben. Ein Schmerz, der so groß war, dass ihre Liebe nicht hatte Stand halten können. Er hatte sie überrollt, nicht getötet, aber unerträglich gemacht.
Geistesabwesend stach sie die Plätzchen aus und schob das Blech in den vorgeheizten Ofen. So wie letztes Jahr und das Jahr davor auch. So sollte es auch dieses Jahr sein. Nur zu dritt. Stattdessen war sie allein.
Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster, betrachtete den kahlen Baum, der dieses Jahr, aufgrund von Sparmaßnahmen seitens der Stadt, nicht mit Weihnachtsbeleuchtung geschmückt war. Sie spürte erneut die Tränen, die von ihrem Kinn tropften und fragte sich, genau wie schon gestern und vorgestern und jeden anderen Tag in den vergangenen zwanzigeinhalb Wochen, wie es wohl gewesen wäre, sie jetzt im Arm zu halten.
Der Geruch nach Verbranntem erreichte sie nur langsam und während sie die kohlrabenschwarzen Plätzchen aus dem Ofen holte, murmelte sie leise: "Fröhliche Weihnachten, Anna."