Mitglied
- Beitritt
- 23.02.2020
- Beiträge
- 2
- Anmerkungen zum Text
Ursprünglich auf Wattpad.com veröffentlicht, habe dort aber leider keine Kritiken bekommen.
Lila
Ich hasse Weihnachten.
Es ist eiskalt, so grau und so künstlich.
Die Kälte frisst sich in meine Kleidung, obwohl ich mehrere Schichten Stoff am Leibe trage. Die unaufhaltsame Feuchtigkeit kriecht in meine spröden, bleichen Knochen hinein und lässt mich unwillkürlich erzittern. Dass ich mit zerschlissener und verdreckter Kleidung auf dem zugemüllten Boden in einer abgelegenen Ecke der gläsernen Innenstadt kauere, macht es auch nicht besser. Gestern hatte es geregnet, weshalb meine Decke, die nichts mehr und weniger als ein Stück Lumpen ist und auch genauso aussieht und riecht, sich mit eisiger Feuchtigkeit vollgesogen hat und diese Feuchtigkeit nun langsam ihren unerbittlichen Feldzug gegen die Lebendigkeit am Stoff meiner Hose fortsetzt.
Die Tage werden nun immer kürzer, immer grauer. Die Sonne ist fast nie mehr zu sehen. Immer häufiger passiert es, dass ich morgens von den spitzen, rasiermesserscharfen Klauen des trügerischen Nebels und Windes äußerst unsanft geweckt werde, obwohl es an meiner Nische kaum zieht. Die brennend heiße Sonne scheint auch ihren tagtäglichen Kampf gegen Mutter Erde zu verlieren, denn so wie ich gegen die Gesellschaft verloren habe, so kann sie sich nicht mehr im Wettbewerb gegen die sich immer mehr verdichtenden Nebelbänke und Gewitterwolken behaupten und versinkt jämmerlich im Elend. Nur mit der Ausnahme, dass die Erde sich immer weiter dreht und irgendwann die Bedingungen wieder der Sonne zugunsten stehen werden. Jedes Jahr geschieht dieser Wechsel, dieser Machtkampf zwischen Hell und Dunkel, Warm und Kalt, Gut und Böse.
Zwischen Leben und Tod, Anfang und Ende.
Ich krümme mich noch etwas mehr zusammen und versuche, so wenig von meiner Wärme an die trostlose Außenwelt abzugeben, welche auch trotz Sonneneinfluss nicht nur jetzt im Winter, sondern auch im Sommer, kalt, bitterkalt ist.
Nicht einschlafen. Nicht einschlafen.
Schlaf bedeutet der sichere Tod, vor allem zu diesen Zeiten. Mehrere Leidensgenossen (denn ich weigere mich, sie Freunde zu nennen) starben einen eisigen Tod auf getrocknetem Kaugummi auf Pflastersteinen oder glitschigem Asphalt. Die Kälte betäubte sie wie ein Anästhesist und lullte sie in den ewigen Schlaf. Ohne Schmerzen. Keine Schmerzen.
Heute ist Weihnachten, also ein ganz normaler, schrecklicher, verdreckter Tag von vielen. Für mich hat dieses Fest seine Bedeutung verloren. Denn weil ich noch die Erinnerung an eine Erinnerung aus der Kindheit habe (ich meine mich zu erinnern, früher Weihnachten mit meinen Eltern am Tannenbaum und mit einem Festessen gefeiert zu haben), scheint mir dieses Weihnachten, wie die viele weiteren seit den letzten paar Jahren auch, welche ich alle gezwungenermaßen auf der Straße verbrachte, nur noch künstlich und aufgesetzt, wie eine billige, nach Chemikalien stinkende Maske.
Vor allem, nachdem die amerikanischen Kultmarken die deutschen Gassen invadierten und die Gehirne der wie am Fließband hergestellten Menschen gleich mit, wurde es immer schlimmer, immer trostloser. Buntes, billiges Plastik erstickt die Stadt, gefertigt von Menschen, die unter unmenschlichen Bedingungen leben und schuften müssen, um gerade so den Tag zu überleben. Von Menschen, die hoffen, noch fünf, zehn oder fünfzehn Jahre lang am Leben zu bleiben, um genug Geld für ihre Kinder beiseite legen zu können, sodass sie wenigstens die mögliche Hoffnung auf eine grundlegende Schulbildung haben könnten. Diese Waren nun zieren die Schaufenster und gaukeln dem nichtsahnendem, in einer verkapselten, mit Weichspüler getränkten Vakuumhülle lebendem Nachwuchs ein falsches Bild von dem, was einst Weihnachten war.
Weihnachten war eine Zeit der Nächstenliebe, eine Zeit, wo man mehr Zeit mit der Familie verbrachte und wo alle etwas enger aneinanderrückten.
Das war Weihnachten.
Das war das Gefühl von Weihnachten.
Kirchenglocken erklangen aus allen Ecken der Stadt, die süßen Düfte von Lebkuchen und Zimtsternen mischten sich mit dem Lachen von Kindern, die beglückt in Mütze und Schal auf ihren Schlitten die schneebedeckten Hügel hinunterrutschten. Sie alle zusammen komponierten eine Melodie, eine himmlische Harmonie, wie sie nur an Weihnachten zu finden war.
Ja, man konnte an diesem einen, besonderen Tag auch die Farben riechen: Warm und braun wie Zedernholz rochen die Schlitten, rosig und glühend wie die Wangen der schwitzenden Kinder oder die der angeschwipsten Erwachsenen. Grün und frisch rochen die Tannen, wenn heißes Kerzenwachs auf die Nadeln tröpfelte und kurzzeitig die Duftaromen freisetzte, nur um diese wieder in die sich rasch abkühlende Fetttropfen zu verschließen und ewig in sich zu konservieren.
Ja, das war Weihnachten.
Zu Weihnachten wurden alle Streitigkeiten und Konflikte beigelegt. Zu Weihnachten hatte man versucht, den anderen zu verstehen. Zu Weihnachten hatte man geteilt, was man hatte, auch wenn es nicht viel war.
Früher lief ich mit meinen Eltern nach der Messe durch die Stadt nach Hause. Jedes Mal, wenn wir einem Bettler auf der Straße begegneten, schenkten wir ihm unsere Freude, denn viel Geld hatten wir auch nicht. Vater drückte mir dazu meistens, oft zu meiner Verwunderung, noch einen Schein in die Hand und ich reichte es den Männern, Frauen und Kindern, mit oder ohne Hund.
"Frohe Weihnachten. Mögen Ihre Träume in Erfüllung gehen", sagte Mutter meistens und Vater legte meistens seinen Arm um Mutters Hüfte.
Ich wünsche mir jetzt immer noch, wie vor etlichen Jahren schon, dass meine Eltern für immer an meiner Seite sein könnten. Aber sieh' mich an, ich bin ein gescheiterter Arzt, der nun auf dem Boden der Innenstadt sitzt und langsam zu einer eisblauen Statue erstarrt.
Vor zehn Jahren wurde ich gefeuert. Damals, mit 40 Jahren, war ich ein Chirurg und operierte normalerweise im Torso der Patienten.
Reine Routine.
Bauchdecke aufklappen, Blinddarm abtrennen, Bauchdecke zunähen.
Nur an diesem einen Tag, diesem einen Tag, da schnitt ich durch eine Arterie. Ich wusste nicht, wie es dazu kommen konnte. Auch jetzt kann ich mich nicht an das Auftauchen dieser verhängnisvollen, pulsierenden Arterie erinnern, aber das Bild des prallen, feuerroten Stranges aus Muskeln, das sich mal dehnte, mal zusammenpresste und das Leben mithilfe der knallroten Flüssigkeit transportierte, kurz bevor mein silbern aufblitzendes Skalpell es durchtrennte, diese Erinnerung ist mir geblieben. Der Patient war kurze Zeit später, trotz all meiner Bemühungen, tot. Und ich, ich hielt wie versteinert das blutige Skalpell in der Hand und dachte darüber nach, ob er eine Familie hatte. Ob er Kinder hatte.
Gerichtsprozess.
Man entzog mir meine Berechtigung und Erlaubnis als Arzt. Ich war arbeitslos. Die Frau des Patienten klagte mich an und hatte gewonnen. Natürlich. Ich hatte ihren Mann ermordet. Ich, ein Arzt, beendete das Leben eines Menschen. Es sollte doch nur eine Routineoperation werden. Stattdessen durchtrennte ich nicht nur die seidenen Fäden seines Lebens und die seiner Familie, sondern auch die von mir und meiner Familie.
Meine Frau verließ mich und nahm die Kinder mit. Sie meinte bei der Scheidung, dass es daran läge, dass ich sie betrogen hatte und dass ich meine Frustration durch die Arbeitslosigkeit an den Kindern ausließ. Doch tatsächlich versuchte ich, die Verantwortung meines Mordes zu tragen und der betroffenen Familie zu helfen und verbrachte erst recht viel mehr Zeit mit meinen Kindern, während meine Frau wieder einen Job als Sekretärin eines Anwaltes aufnahm. Sie versicherte mir, dass unsere Scheidung nichts mit ihrem Vorgesetzten zu tun habe, aber Monate später verlobte sie sich mit diesem Anwalt.
Und ich konnte nur hilflos dastehen und zuschauen. Meine Kinder redeten nicht mehr mit mir, sie dachten, dass ich sie verraten hatte und schämten sich, mit mir zusammen gesehen zu werden. Ich griff zur Flasche. Kurze Zeit später entzog man mir auf Antrag meiner Frau das Sorgerecht für meine Kinder. Begründung: Ich war ein Alkoholiker und sie habe Angst, ich würde gewalttätig werden. Ich durfte sie nicht einmal besuchen.
Nun sitze ich hier, ein gescheiterter Überflieger, und warte auf eine Erlösung aus dieser tristen, herzlosen und an Menschlichkeit mangelnden Welt. Nicht, weil ich im Leben versagt habe, nein. Es war, weil ich die Augen öffnete und sah, dass es schlecht war. Dass es sogar sehr schlecht war.
Menschen wurden zu Papier: Sie haben kein Profil, sind oberflächlich und ihre Existenz dient nicht ihrem selbst, sondern der eines anderen. Sie halten nicht einmal den kleinsten Nieselregen im Leben aus, sondern verkriechen sich sofort unter ihren Schirmen, Dächern und in ihren Autos. Sie sind monoton, sie sind alle auf ihre eigene unterschiedliche Art und Weise gleich. Menschen werden wie Papier zusammengefaltet, benutzt und anschließend weggeworfen, wie einfach und schmerzlos zu ersetzende Ware. Und wie in jeder Produktion auch gibt es einen kleinen Anteil an Mangelware, Ware zweiter Klasse, Ausschussexemplare, bei denen man froh ist, wenn sie einfach nur verschwinden würden, um es all den anderen leichter zu machen.
Ein eisiger Schauer fließt wie Gletscherwasser meiner Wirbelsäule herunter und lässt mich frösteln. Das ist also mein Leben. Was habe ich bloß falsch gemacht? Wann habe ich etwas falsch gemacht?
Eine verlorene Träne bahnt sich ihren Weg von meinem Augenwinkel durch die verkraterte Landschaft meiner faltigen, von Narben übersäten Haut und hinterlässt eine heiße Spur aus Enttäuschung und Selbstmitleid.
"Entschuldigung?"
Ich sehe auf.
Ein kleines Mädchen mit langen, glatten Haaren steht vor mir. Ihre Augen funkeln noch voller Lebensfreude und Hoffnung. Ihre zarten Ohren haben noch nie vom Elend der Welt gehört, ihre Augen nie das Elend gesehen, ihr Mund nie das Elend verbreitet, ihre Nase nie den verbrannten Geruch von Elend gerochen und ihre Hände nie das Elend berührt.
Doch was mich am meisten bannt, ist ihr lila Mantel. Dieses funkelnde, fast schon schmerzhafte Lila brennt in meinen Augen und entfacht meine Neugier. Es ist aus Filz gemacht, liebevoll zurecht geschnitten und vernäht. Jedes Stück sitzt an Ort und Stelle und reicht bis zu ihren jungen Knien. Der Kragen ist hochgeklappt und verdeckt den Großteil ihres Halses, sodass ihr honigfarbenes Gesicht zusätzlich umrahmt wird und ihre braunen, golden befleckte Augen hervorhoben werden. Die glänzenden, ewig langen Haare fließen auf den lila Filz und hauchen dem monotonen Stoff Leben ein. Große, runde Knöpfe aus Plastik mit Schildkrötenpanzer-Musterung zieren ihren Oberkörper, ihre Ärmel und ihre Seitentaschen. Es ist ein schlichter Mantel, auf dem weder kunstvolle Stickereien und Magie zu finden sind, und doch bin ich wie verzaubert von ihrer Schönheit.
In einer Welt und Zeit, in der alle sich grau und schwarz bekleiden, um sich den tristen Umständen anzupassen; in der Zeit, in der alle ein grimmiges Gesicht ziehen und mit gesenktem Kopf durch die von ihnen zerstörte Natur schlurfen; in der Zeit also, in der alle so aussehen, als würden sie an der Beerdigung ihrer Träume und Menschlichkeit teilnehmen, stechen dieses Mädchen und dieses Lila hervor.
Die Farbe ist mutig, die Farbe ist grell und sie ist laut. Sie ist eine Stimme in einer Welt voller Echos. Sie ist ein Schneeglöckchen, welches seinem zierlichen Kopf aus dem Schnee reckt, während alle anderen Knospen sich noch zurückhalten und verstecken. Sie ist die erste Schildkröte, die das Nest verlässt und den Weg leitet.
Dieses Lila, ja, diese Andersartigkeit, die ausgestrahlt wird! Eine sonderbare Mischung aus Rot und Blau. Lila vereint die Farbe der Liebe, der Wut und der Lust mit der Farbe der Kälte, der Unnahbarkeit und des Frosttodes. Lila ist unsere Gesellschaft, lila ist unser Herz und unser Verstand, lila sind die einzigen Gedanken, die ein Mensch in dieser Welt haben kann. Und doch steht dieses Mädchen vor mir in Lila und ich verstehe langsam, dass ich nicht sonderlich anders als die restlichen Menschen um mich herum bin, die diesen Abend durch die hell erleuchteten düsteren Gassen ziehen. Ich selbst bin, mein Herz ist lila. Ich will so viel, aber kann nichts geben. Ich will, wie die Menschen, die ich verabscheue, auch, immer mehr und mehr.
Lila ist die Farbe des Nehmens, die Farbe der Egoisten, die Farbe der Einsamkeit.
Und doch, dieses Mädchen vor mir, sie traut sich, lila zu sein und es zu zeigen. Sie gibt ihre Natur zu und zeigt sie allen. Sie riss das Lila aus ihrer Seele, um sich von ihr zu trennen. Sie trägt das Lila an ihrem Körper, um sich und allen anderen daran zu erinnern, dass wir lila sind.
Lila besteht aus rot und blau, aus Liebe und Kälte, aus Wut und Unnahbarkeit, aus Lust und Tod, aus Dynamik und Stillstand.
„Ja?", frage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.
Ich habe so lange nicht mehr gesprochen, geschweige denn gelächelt. Es gab auch nie einen Grund dazu.
„Frohe Weihnachten", sagt sie und streckt mir lächelnd einen Schein zu.
„Danke. Dir und deiner Familie auch frohe Weihnachten", krächze ich zurück, nehme das Geld aber nicht an.
„Sie wollen das Geld nicht?"
„Nein, meine Kleine. Behalte es. Oder gib es jemanden, der denkt, es brauchen zu müssen."
„Aber warum haben Sie sich bedankt?"
„Dafür, dass du ein aufmerksames Auge und ein warmes Herz hast."
Das Mädchen schenkt mir ein herzliches Lächeln, so warm, dass mein seit Jahrzehnte lang erfrorenes Herz auftaut und ich seufze. Es rennt zu seinen Eltern, welche etwas ferner stehen und verschwindet mit ihnen aus meinem Blickfeld. Und ich lächele immer noch und warte.
Ich warte darauf, dass die Welt sich ändert. Ich warte darauf, dass ich wieder einen Grund habe, mich zu freuen, sei er noch so klein, noch so banal. Ich warte darauf, dass mehr Menschen so werden wie dieses kleine Mädchen. Noch mehr Menschen, die das Lila aus ihrer Seele, aus ihrem Herzen und ihrem Verstand reißen. Noch viel mehr Menschen, die das Lila am Leibe tragen und noch viel, viel mehr Menschen, die auch in der Lage sind, ihren lila Mantel abzulegen.
Irgendetwas ist während des Erwachsenwerdens passiert. Irgendetwas hat die Menschen verändert. Ich weiß nicht, was es ist und möchte es auch nicht wissen. Elend kennt dieser Planet leider nur zu gut. Aber solange es einen nicht selbst betrifft, ist es den meisten egal. Ist es unnötig, sich darüber Gedanken zu machen. Ist es unnötig, Menschlichkeit zu zeigen.
Eine unglaubliche Wärme erfasst mich und bringt mein Gesicht und meinen Geist zu Glühen. Es ist, als würde die ganze Kälte der Welt, das ganze Grau und Schwarz, von diesem Lila verschluckt werden und nur die nackte, entblößte Wahrheit übrig bleibt. Es ist, als ob dieses Lila sich wie ein Mantel um die ganze Welt legt und uns erstickt, uns von innen erdrückt. Es ist, als ob diese Erkenntnis die Dunkelheit flutet und Licht selbst in die verwinkelten Ecken unserer Herzen bringt und das Lila verdrängt.
Und ich habe Angst. Ich habe Angst, dass die Welt auch dieses kleine Mädchen, welches sich traut, das Lila aus ihrer Seele zu entfernen, dieses lodernde Streichholz in einem Ozean aus eiskaltem, lila Wasser, erstickt wird. Ich will es hüten, es schüren, es immer größer und immer heißer brennen lassen, und auch wenn ich dabei mit verbrenne, so ist es mir wert.
Ich springe auf und schreie, wie vom Wahnsinn gepackt, alles hinaus. All meine Gedanken, all meine Wut, alle Wahrheiten, vor denen die Welt die Augen verschließt. Doch niemand ist in der Nähe, um meinen einsamen Schreie in der düsteren Nacht zu lauschen. Sie alle haben sich in ihre Höhlen verzogen, die Türen fest verschlossen und die Rollläden hinuntergezogen. Aber dieses Mal, dieses eine Mal schlafe ich mit dem Willen ein, am nächsten Morgen wieder aufwachen zu wollen.
Am nächsten Abend finde ich eine volle Spraydose mit lila Farbe. Einige Jugendliche müssten diese fallen gelassen haben, als sie von der Polizei beim Randalieren erwischt wurden und wegrannten. Mit dieser kühlen Metallbüchse in der Hand reift ein neuer Plan in meiner Brust, welches mich beflügelt. Ich wiege die Dose sanft in meiner alten, aber starken Hand, während dieser neue Wille Adrenalin durch meinen Körper schießen lässt und mit Nadeln in jeden Quadratzentimeter meiner Haut einsticht und Rauschgift freisetzt.
Als ich einen passenden Platz gefunden habe und den Plastikdeckel mit zittrigen Fingern abnehme, steigt der chemische Geruch in meine Nase und erinnert mich daran, dass diese Waffe in meiner Hand pures Gift ist. Doch ich werde Gift versprühen, um das Gift in der Welt auszusaugen.
Vorsichtig schüttle ich die Büchse und höre, wie die kleine Metallkugel in dem Behälter klirrend gegen die Blechwände hüpft, sodass es im gleichen Rhythmus wie mein rasend pulsierendes Herz schlägt. Zielsicher und ruhig halte ich die Öffnung Richtung Wand und drücke zu.
Es ist einfach gewesen, mir etwas zu überlegen, was ich der Welt sagen will, was ich sie fragen will. Es soll kurz und knapp sein. Es soll alle zum Nachdenken anregen. Es soll allen anderen die Augen öffnen.
Die giftige, lila Farbe klebt an der aalglatten Oberfläche der Kacheln an der Wand der U-Bahnstation im Bahnhof und glitzert im flackerndem Licht der Leuchtstoffröhren an der Decke.
Ich trete zurück und betrachte meine Botschaft. Es ist perfekt. Beim Verlassen des Bahnhofes werfe ich die leere Dose in den nächstbesten Mülleimer, wische mir meine von Farbe verklebten Finger an meiner Hose ab und ziehe mich in meine Nische zurück. An diesem Abend atme ich viel freier die kühle Luft ein, denn sie scheint mir reiner und frischer als sonst, denn heute ich habe etwas erschaffen. Heute habe ich nichts zerstört.
Am nächsten Morgen, als alle es eilig haben, ihre eigene Höhle zu verlassen und direkt in die nächstbeste zu rasen, mische ich mich unter die Menge. Ich erwarte, von überall skeptische Blicke zu spüren – doch alles, was ich inmitten der Menschenmasse spüre, ist pure Einsamkeit. Ich stehe in der Menge und alle sehen durch mich hindurch, würdigen meine Wenigkeit nicht einmal mit einem einzigen, verlorenen Blick. Das einzige, was ich ab und zu bemerke, ist das Naserümpfen von vorbeiziehenden Menschen, die eine Duftwolke aus künstlichen Gerüchen hinter sich her ziehen, wenn sie mir zu nahe kommen.
Sie alle rauschen mit gesenktem Blick an mir vorbei. Sie schauen auf ihre Armbanduhren, auf ihre Handys, auf ihre Akten, überall hin, aber nicht in die Welt um sie herum. Sie schieben oder zerren ihre Kinder durch die Gänge, ohne auf etwas Anderes zu achten, alle darauf bedacht, pünktlich zu sein. Einen kurzen Moment lang verfängt sich mein Blick in etwas Lilafarbenes, was zwischen den schweren Mänteln wie ein schüchterner Fisch auf- und wieder abtaucht, bis ich es komplett aus den Augen verliere.
Alle sind viel zu sehr mit dem Nichts beschäftigt, dass sie nicht das Alles bemerken.
Die rostenden und quietschenden Waggons fahren viel zu schnell wieder vorbei und nehmen die Zeit mit, sodass ich wenig später wieder alleine am Gleis stehe und als Einziger in die lila Worte blicke, die warnend von der Wand direkt ins Auge springen.
Aber niemand außer mir sieht es. Alle Blicke sind nach unten gerichtet, nicht nach vorne. Denn letztendlich wiegen Worte nichts, wenn niemand sie hört. Letztendlich ist auch die Friedenstaube nur ein Ungeziefer in der Innenstadt, welche achtlos verlorene Brotkrümel aufpickt und dann früher oder später von einem Auto überfahren wird. Denn letztendlich werden Veränderungen von Gewohnheiten blockiert.
Am nächsten Tag haben die Behörden meine Botschaft ausradiert. Übrig bleibt nur noch die Erinnerung an einen versuchten und verzweifelten Aufschrei eines Gescheiterten. Denn ich bin nur ein ausgebranntes, zu früh erloschenes Streichholz aus lila Asche.
Am gleichen Abend greife ich verzweifelt in meine Seele und reiße mit einem schnellen, furchtlosen Griff das Lila heraus. Ich halte das Lila wie ein verdrecktes Taschentuch in der Hand und lasse das spärliche Licht der Straßenlaternen auf das Lila leuchten. Und dann hülle ich mich in meinem eigenen Lila und lege mich auf den eiskalten, toten Boden.
Mit diesem Lila um die Schultern und einer wesentlich leichteren Seele schlafe ich ein und wache woanders wieder auf.
Und doch verfolge ich mit Stolz, dass die kleine Flamme des Mädchens sich vergrößert hat. Sie hat meine Botschaft gesehen, sie hat meine Ideen geerbt. Sie hat es geschafft, die ganze Welt wach zu rütteln, sodass sie alle aus ihrem jahrelangem Koma erwachen und die Augen öffnen. Immer mehr Menschen tragen Lila, immer mehr Menschen lernen, nicht nur zu nehmen, sondern auch zu geben. Nicht mehr immer nur die Liebe, die Fröhlichkeit und die Zuneigung zu beanspruchen, sondern diese auch zu erwidern. Nicht mehr immer nur egoistisch zu denken, seine eigenen Interessen durchzusetzen und daraus folglich innerlich kleine Tode sterben, sondern die Menschen haben gelernt, durch die Hilfe anderer sich selbst zu helfen.
Sie schauen nun gerade aus und zurück, um sich herum, nach oben, unten, nach rechts und links. Sie rennen kreuz und quer und drehen sich um ihre eigene Achse und die ihrer Geliebten, und doch kommen sie schneller voran als je zuvor.
Denn das Leben ist keine Gerade, kein Kreis. Es ist ein Möbiusband, gefangen zwischen Anfang und Ende, zwischen Ende und Anfang.
Sie schauen und sehen.
Sie sprechen und reden miteinander.
Sie hören und hören zu.
Aus einer kleinen Flamme eines unbedeutenden Streichholzes ist ein unaufhaltsamer Waldbrand geworden.
Und ich bin stolz darauf, wenigstens für wenige, unscheinbare Sekunden diese kleine Flamme gehütet zu haben, auch wenn ich jetzt nicht mehr Teil dieser sich ändernden, sich bessernden Welt bin...
Was die Botschaft ist, die ich an die Wand gesprayt habe?
Ich verrate dir nur so viel: Es ist eine Frage.
Simpel und kurz.
Und wenn du sie beantworten kannst, dann bist du nicht nur ein Mensch. Du bist mehr als nur ein Mensch. Dann, und nur dann, bist du menschlich. Wohin der Unterschied liegt? Ich denke, es liegt glasklar auf der Hand.
Den Rest musst du dir selbst denken.