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Linie 9
Der Busfahrer warf ihm einen müden Blick zu, als er einstieg.
Die Nacht war kalt gewesen.
Er setzte sich an einen Fensterplatz und sah nach draußen. Dunkelheit und Stille des Morgens.
Es war 5:13 Uhr.
Dies war sein Tag. Ein langer Tag. Ein Tag im Bus.
Er beobachtete die Menschen.
Eine alte Dame mit Gehwagen, in einen dunklen Mantel gehüllt, das Gesicht grau wie die Haare, Falten um die Mundwinkel, glasige Augen, Dinge suchend, die schon lange nicht mehr zu finden waren.
Ein kleines Mädchen mit Schulranzen, beinahe größer als ihr ganzer Rücken, blondes Haar, Pferdeschwanz, Sommersprossen, Wollmünze, Jacke, Kaugummi.
Eine Gruppe Jugendlicher, ausgelassen, Kopfhörer im Ohr, Gel im Haar.
Der Bus fuhr weiter.
Und sein Blick wanderte.
Er tat dies öfter. Bus fahren. Aber nicht, wie andere Menschen dies tun: nicht von einer Haltestelle zur nächsten, sondern den ganzen Tag lang. Immer derselbe Bus, von der ersten bis zur Endstation und wieder zurück. Und wieder zurück. Und wieder. Und wieder.
Den ganzen Tag.
Und abends ging er nach Hause in seine kleine Wohnung mit den vielen alten Fotoalben.
Er saugte alle Eindrücke in sich auf.
Die Härchen am Hals einer Frau, die im einstrahlenden Sonnenlicht silbern leuchteten, die Bartstoppel am Kinn und unter den Ohren eines älteren Mannes, die der Rasur am Morgen entgangen waren, die Schweißflecken auf dem hellen Hemd unter den Achseln eines jungen Mannes, die tanzenden, zitternden Augen eines kleinen Jungen, der den Blick aus dem Fenster gerichtet mit seinen Fingern ein Stofftier umklammerte. Die schmutzigen, alten Adidasturnschuhe einer jungen Frau, die voller Schlamm waren, vielleicht von Spaziergängen am nahen Ufer?
»Ihre Fahrkarte, bitte.«
Er hatte eine Tageskarte. Immer. Aber nur selten wurde er kontrolliert.
Der Kontrolleur trug ein graue Mütze und Lederjacke. Sein Bart war sauber gestutzt, eine kleine Narbe am Kinn. Seine Augen musterten die Fahrkarte, überprüften die Zahlen, die darauf gedruckt waren.
»Danke.«
»Keine Ursache«, murmelte er. Seine Stimme war heiser und er räusperte sich.
Er mochte keine Parks, ging nicht gern ins Schwimmbad und das Kino war ihm unangenehm. Im Stadtpark sah er oft alte Männer Backgammon oder Schach spielen, im Schwimmbad waren zu viele Frauen und das Kino zeigte ihm immer dieselben Träume.
Jemand setzte sich im Bus neben ihn. Er roch Parfüm, Shampoo, Mundwasser. Der Geruch war ihm unangenehm, aber er drehte seinen Kopf nicht zur Seite.
Er mochte Gerüche nicht. Und im Bus gab es viele davon, mehr als Farben oder Gäste oder beides zusammen.
Nachmittags war er immer ein bisschen müde, manchmal schlief er auch ein, an das rüttelnde Plastikfenster gelehnt, das Kinn auf die Brust gefallen.
Wenn er aufwachte, fühlte er sich erholt.
Und manchmal warf ihm ein Fremder auch ein Lächeln zu, wenn er die Augen schlaftrunken wieder aufschlug.
Er lächelte immer zurück.
Er belauschte sie.
»...ich komme heute etwas später, das Büro - und diese blöde Geschichte mit Sebastian, ich weiß nicht...«
»... meine Tante, ja, sie kommt morgen und will mir wieder etwas von diesem Tee mitbringen...«
»... und dann hab ich gesagt, er kann sich seinen blöden Zettel in den Hintern stecken...«
Fast war es, als würden sie mit ihm sprechen.
Um vier Uhr war wieder die Hölle los.
Menschen drängten sich in den Bus, auf die Sitze, neben ihn, vor ihn, hinter ihn. Er war mitten unter ihnen, fühlte sie, spürte sie, roch sie, sah sie, hörte sie, alles war voller Menschen, voller Gesichter, Augen, Münder, Zungen, er spürte Hände an seinen Hüften, spürte, wie sich jemand in seinen Rücken drückte.
Er hätte nur den Finger ausstrecken müssen, den kleinen Finger, um einen von ihnen zu berühren und es wäre niemandem aufgefallen.
Aber er tat es nicht.
Manchmal saß hinter ihm ein Fahrgast, den er atmen hören konnte.
Er stellte sich vor, dieser habe eine Waffe und richte sie direkt auf seinen Kopf, stellte sich vor, wie er kühles Metall auf seiner Haut fühlte.
Spürt man es, dachte er, wenn eine Kugel den Schädel durchschlägt und durch den Augapfel dringt? Sieht man mit dem anderen Auge wie das Geschoss aus dem Kopf heraus bricht und unzählige Knochensplitter und Blut mit sich reißt?
Er fragte sich: Hört man den Knall?
Und: Wäre es ein Unterschied?
Würde der Bus anhalten - seinetwegen?
Oder einfach weiterfahren?