Literatur nach Leider
Eine mittelgroße Buchmesse irgendwo in Deutschland.
17:00 Uhr, die Pressestunde begann. Da saß Leider nun – eine etwas zu korpulente Gestalt in einem schlecht sitzenden, erdbraunen Anzug ohne Krawatte, die müden Hundeaugen blickten gelangweilt aus dem sackigen Gesicht, eine scheinbar endlos glimmende Marlboro zwischen den Fingern, seine von jahrzehntelangem Tabakkonsum angerauten Stimmbänder bereit, jede dumme Reporterfrage bellend zu unterbrechen.
Der Saal war proppenvoll. Kein Wunder – seit der Veröffentlichung seines fünfhundert Seiten starken Pamphlets „Literatur nach Leider“ war er der rotzfreche Reformator der deutschen Schreiberszene, der Whiskey trank wie andere Leute Mineralwasser und seine revolutionären Ansichten über Literatur, Politik und Gesellschaft jederzeit ungefragt in die Welt kotzte. Die Reporter starrten ehrfürchtig zu ihm auf, als wäre er der gnadenlose Gott einer uralten, brutalen Religion, während er gelassen um sich blickte, die Menschenmenge durchpflügte mit seinen haschischvernebelten Augen, und jeder, der ihn aufmerksam genug musterte, wusste, er war nur deshalb hier, weil der Gehaltsscheck einen weiteren schlecht sitzenden Anzug und etwas mehr Alkohol versprach.
Langsam wurde es ruhig im Saal, der erste Reporter meldete sich. Leider räusperte sich vorbereitend. Als der Mann aufstand, grinste der Schriftsteller in sich hinein. Es war Pöschl, dieser Idiot. Einer seiner größten Kritiker, alteingesessener Literaturkenner, der ab und an für den Stern Kolumnen über homosexuelle Dichtersöhne des frühen zwanzigsten Jahrhunderts schrieb.
»Herr Leider«, holte er hämisch aus, »denken Sie nicht, dass Ihr Buch der literarischen Gesellschaft von heute viel zu viel Provokantes ohne Substanz bietet? Phrasen wie „kontraproduktive Literaturgüterverwertung“ oder „degenerativ-psychotische Sozialinfrastruktur“ sagen doch nun wirklich niemandem von Intellekt was, finden Sie nicht?«
Leider genehmigte sich einige Sekunden der Andacht, zog beiläufig an seiner Zigarette, hob müde schwadronierend die Hand. »Ständig auf der Suche nach Innovation zu sein, ist langweilig. Andere versuchen das. Ich will aber zugleich Neues erschaffen, ohne altes zu erklären. Ich wollte die Literatur niemals erklären. Ich wollte sie definieren.«
Die Reporter waren völlig geschockt. Allesamt. So radikal und frech hatte sich noch kein Schriftsteller gegeben. Alle blickten mit einer Mischung aus Empörung und Bewunderung zu Leider auf, bis auf Kai Diekmann, der mit dem Vorsatz, seinen Intellekt mit dem von Leider zu messen, hergereist war, jetzt aber nur verwirrt um sich blickte. Hat er jetzt was Skandalöses gesagt?
Das Getuschel verstummte, Pöschl ließ sich entgeistert auf seinen Stuhl zurückplumpsen. Zieh nur den Schwanz ein, du Gurke, fabulierte Leider in sich hinein, die Schlagzeile auf der morgigen Süddeutschen ist mir sicher, eine Auflage, die Süskind die Bastenmütze vom Kopf bläst, sowieso.
Diekmann schielte auf die Notizblöcke seiner Nachbarn und notierte „Hat was Skandalöses gesagt“.
Langsam kehrte wieder Ruhe ein, der Nächste war an der Reihe. Leider kannte den Mann nicht.
»Halten Sie Ihren Titel „Literatur nach Leider“ nicht für zu gewagt? Ihr ganzes Auftreten ist ja sehr skandalös.«
Nachdem er Pöschl gegenüber den Nicky Sixx des Schriftstellertums gegeben hatte, um sein Image als Mischung aus hochintellektuellem Literaturopa und drogenfressenden Punkrocker zu pflegen, ließ er sich nun zu einer fundierteren Antwort hinreißen, um sich auch einen Spiegel-Artikel und das Wohlwollen der Siebengescheiten zu sichern.
»Ach, wissen Sie,… so denke ich eigentlich gar nicht darüber. Wie gesagt, ich wollte Literatur definieren. Nein, halt…« Er hob abwehrend eine Hand, machte ein nachdenkliches Gesicht, wandte den Kopf ab. Dann fing er sich wieder, sagte: »Korrigieren Sie das. Eigentlich wollte ich mit diesem Titel das Intelligenzpotenzial George Bushs analog reflektieren.«
Eine Reihe „Ah“’s und „Oh“’s waberte durch den Raum, die Reporter schrieben eifrig mit, Leider zog mit zu Schlitzen verengten Augen an seiner Zigarette.
Eine halbe Stunde und gefühlten tausend Fragen später kam der Höhepunkt: Leider las ein Kapitel aus seinem Buch. Die Anspannung im Raum stieg, schon das Geräusch klappernder Zähne wurde zur störenden Beleidigung literarischer Offenbahrungen.
Gelangweilt schlug Leider das Buch auf, ließ seine Mops-Augen über die Buchstaben schweifen, bis er die richtige Stelle gefunden hatte. Dann räusperte er sich. Als er den Mund öffnete, platzten die Reporter schier vor Neugierde.
»Literatur nach Leider, Kapitel Drei: Liter Arisch. Oder: Schorsch Busch und der Hupfdohlenharem im Land der heidnischen Massenvernichtungswaffengötter.« Kleine Pause. Die Genialität, die Leider schon allein mit der Überschrift an den Tag gelegt hatte, ließ selbst die Penisse der anspruchsvollsten Kritiker erigieren. Dann kam der Roundhouse-Kick in die Fressen sämtlicher pseudoerleuchteter Literaturpäpste.
»Literatur muss leben! Leben! Hinfort mit euch, üble Mediendämonen, die im trüben Licht der modernen Gesellschaft – moderne Gesellschaft! Wie sehr man sich hüten muss, um nicht, mit einem Auge auf Freuds Werk schielend, mordende Gesellschaft zu schreiben! – die wertvolle Jugend des Landes infizieren mit den sich parasitär in ihren Gehirnen einnistenden Lügenkonstrukten dieses Monsters, Schorsch Busch, mit lediglich auf Sex gemünzten artifiziellen Vorbildern, mit korrupten Politikern wie Saddam Hussein, die die Nationen unserer Erde vergiften! Vergiften, sage ich euch!«
Der Saal zitterte angesichts dieser vor Poesie triefenden, und doch trotzig vorgetragenen tiefgründigen Wahrheiten des alltäglichen Lebens, wunderbar verbunden mit weitsichtigen Ausdrücken essenzieller philosophischer Fragen.
Was nun George Bush mit den deutschen Medien, beziehungsweise die deutsche Jugend mit Saddam Hussein zu hatte, wusste Leider auch nicht so genau. Auch warum er, ganz avantgardistisch, „Schorsch Busch“ schrieb, war ihm nicht ganz klar. Als er das Buch damals in einer verwahrlosten Wohnung in Bukarest im Haschischnebel niederschrieb, machte es ihn einfach rattig, daran zu denken, mit solchem Wort gewordenen Faustschlägen die Autorenszene aufzumischen, erinnerte er sich. Ein Blick auf die Literaturkritiker im Publikum, die ihn Fingernägel kauend und mit feuchten Augen durch ihre absurd geformten Designerbrillen ansahen. Er zog noch einmal an seiner Marlboro, dann holte er zum Todesstoß zwischen die Rippen oberflächlicher Trivialliteratur aus.
»Und nun, liebe Literatengemeinde«, wieder dieser Blick aus seinen Augen, so gleichgültig und doch verschlagen, als würde er dem Teufel selbst den Rauch seiner Zigarette um den Schnauzbart blasen, aber nur, wenn es denn unbedingt sein müsste, »lasst uns das bedenken: Die Literatur… ist tot! Dies ist das Ende der Worte!«
Das kam unerwartet, absolut unerwartet. Gemurmel im ganzen Saal. Leider hatte mit seiner bahnbrechenden Philosophie der ganzen Literatenszene der Herz herausgerissen. Das war das Ende, das Ende der Worte! Er stand auf, steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel, zeigte den Fotografen beide Mittelfinger und ging hinaus.
Kai Diekmann schaute etwas verdutzt drein, kratzte sich am Kopf und entschied sich dann, vom Nebenmann abzuschreiben.
»Geil, Mann«, sagte Manuel, Leiders zwanzig Jahre alter Lustknabe, als sie beide am nächsten Tag in einem Café in Lissabon die Auslandsausgabe der Bild-Zeitung beäugten. Eine Photomontage des Schriftstellers mit drei glimmenden Zigaretten im Mund zierte den Titel, daneben Schwarzrotweiß: „BUCH-SCHOCK: Skandal-Schreiber tötet Worte-Szene“.
»Denen hast du’s gegeben!«, rief der Junge triumphierend. Leider zog an seiner Marlboro, der blaue Dunst schnörkelte sich hinauf zum Sonnenschirm. »Das Beste kommt erst noch«, murmelte er und schrieb „Journalismus nach Leider“ als Überschrift auf das fertige Manuskript.